ANALYSE
"Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand", sagt man, wenn man zum Beispiel zum Ausdruck bringen möchte, dass der Ausgang eines Prozesses offen ist. Das gilt auch für den ehemaligen Bundeskanzler und ÖVP-Chef Sebastian Kurz, der wegen mutmaßlicher Falschaussage vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss vor Gericht steht. Er weiß nicht, wie das Urteil ausfallen wird. Sehr wohl aber kann er versuchen, Einfluss auf die öffentliche Meinung zu nehmen.
Und das tut er: Kurz vermittelt den Eindruck, Opfer zu sein - einer Opposition, die ihn zerstören wollte, und einer Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA), die ihn zu Unrecht verfolgt. Damit sorgt er vor: Geht es auf, könnte ihm eine allfällige Verurteilung politisch genauso wenig schaden wie der Verlauf weiterer Affären.
Daran ist auch seine Partei interessiert. Generalsekretär Christian Stocker macht eine Aussendung, um in den Raum zu stellen, dass die Vorwürfe "auf sehr schwachen Beinen stehen"; oder Verfassungssprecher Wolfgang Gerstl, um zu behaupten, dass die WKStA "nicht sauber" arbeite. Derlei ist alles andere als selbstverständlich: Kurz ist vor bald zwei Jahren aus der Politik ausgeschieden. Für die ÖVP ist er aber wichtig geblieben. Er ist ihr noch immer ein Anliegen. Zumal sie untrennbar verbunden ist mit ihm.
Der 37-Jährige ist der Erfinder der neuen Volkspartei, die sich von Schwarz auf Türkis umgefärbt hat und dazu übergegangen ist, sich mit Freiheitlichen in Rechtspopulismus zu messen. Vertreter der bürgerlichen Mitte verschwinden (Othmar Karas) oder haben nur eine begrenzte Lobby hinter sich (Finanzminister Magnus Brunner).
Kurz-Nachfolger Karl Nehammer möchte den Kurs fortsetzen. Gemeinsam mit seinen Leuten in der Regierung gelingt es ihm aber mehr schlecht als recht, die ÖVP zu stabilisieren. Stichwort "Hamburger-Video", das der Kampagne "Glaub an Österreich" widerspricht, die Zuversicht verbreiten soll. Oder die Tatsache, dass es Jugendlichen wenige Stunden nach Abhaltung eines Krisenkabinetts sowie der Ausrufung der zweithöchsten Terrorwarnstufe gelingen konnte, die israelische Fahne vom Wiener Stadttempel zu reißen: Ausgerechnet hier hatte es trotz der Alarmierungen noch keine Rund-um-die-Uhr-Überwachung gegeben. Einem allgemeinen Sicherheitsempfinden ist das nicht zuträglich. Im Gegenteil.
Solange die Volkspartei in solchen Schwierigkeiten steckt, türkis bleibt, aber ohne Kurz ist, wächst in ihren Reihen eine Sehnsucht nach einer Rückkehr von ihm. Viele tragen dazu bei: Hunderte Funktionäre, wie Ex-Obmann Wolfgang Schüssel, die ihn bei einer Premiere eines Kinofilms über ihn hochleben lassen. Er selbst, wenn er in Interviews eine Hintertür für ein Comeback offenlässt. Und sie, die ÖVP, indem sie einstweilen kommunikative Prozessbegleitung für ihn betreibt.
ZAHL
Freiheitliche Themen sind zurück
Freiheitliche Themen sind zurück
Seit bald einem Jahr ist die FPÖ in Umfragen führend, bereiten sich Bundesparteiobmann Herbert Kickl und Co. auf eine Kanzlerschaft vor. Zurückzuführen ist ihr Höhenflug vor allem auf eine wachsende Unzufriedenheit mit der türkis-grünen Regierung in Zeiten multipler Krisen sowie auf den Zustand der Sozialdemokratie. Bis zum Sommer war dieser durch die Pamela-Rendi-Wagner-Demontage geprägt - durch maximal mögliche Selbstbeschädigung also.
Jetzt ändert sich die Themenlage und die FPÖ könnte noch stärker davon profitieren. Aufgrund der Eskalation im Nahen Osten und damit einhergehenden Spannungen auch in Österreich sind wieder Zuwanderung und Sicherheit ins Zentrum gerückt.
Das ist grundsätzlich etwas, was es für Mitbewerber der Freiheitlichen, wie die SPÖ von Andreas Babler, noch schwieriger macht, sich zu behaupten. Wenn, dann werden Sozialdemokraten eher dafür gewählt, sich um Soziales zu kümmern. Stehen zum Beispiel Pensionsfragen im Vordergrund, ist das günstig für sie. Wie es das für die Grünen ist, wenn es um Klimaschutz geht.
Zu Zuwanderung und Sicherheit haben die Mitte-links-Parteien hingegen keine massentauglichen Antworten. Dazu haben sich Mitte-rechts-Parteien über die Jahre eine regelrechte Deutungshoheit erkämpft. Allen voran die FPÖ: Gibt es Probleme in diesen Bereichen, erscheinen für eine Mehrheit der Wähler "hart durchgreifen" und "Grenzen schließen" alternativlos.
Ergebnisse der Sora-Befragung zur letzten Nationalratswahl unterstreichen, wie sehr das blaue Themen sind: Die Partei hat die meisten Anhänger, denen sie wichtig sind. Damals handelte es sich um mehr als 50 Prozent. Allein: 2019 hatte die FPÖ nichts davon. Sie stürzte ab, weil die Wahl im Zeichen von etwas ganz anderem gestanden war: der Ibiza-Affäre, die zum Rücktritt ihres Ex-Chefs Heinz-Christian Strache geführt hatte. Sie ist jedoch vergessen.
BERICHT
Schönborn soll noch ein Jahr bleiben
Schönborn soll noch ein Jahr bleiben
In der katholischen Kirche ist vieles anders. Seit bald vier Jahren ist Kardinal Christoph Schönborn nur noch vorläufig und auf unbestimmte Zeit Wiener Erzbischof. Anlässlich seines 75. Geburtstags im Jänner 2020 reichte er beim Papst seinen Rücktritt ein, Franziskus nahm diesen aber bis heute nicht an. Das ist umso bemerkenswerter, als die Kirche in Österreich zu kämpfen hat: Haben ihr einst neun von zehn Einwohnern angehört, so tut es heute nur noch jeder zweite. Säkularisierung greift um sich, jeder vierte ist konfessionslos. Ein Zehntel ist muslimisch. Tendenz ebenfalls steigend.
Ein weltlicher Konzern würde Führungsfragen unter solchen Umständen sehr schnell klären. Nicht aber die Kirche. Im konkreten Fall hat das vor allem damit zu tun, dass Papst Franziskus bei der laufenden Weltsynode zur Zukunft der katholischen Kirche auf Schönborn setzt. Diese wird voraussichtlich bis Oktober 2024 dauern. Erst dann kann der dann 79-jährige Kardinal damit rechnen, in Pension gehen zu dürfen.
Nachfolgekandidaten sind der Innsbrucker Bischof Hermann Glettler (58) und dessen Feldkircher Amtskollege Benno Elbs (63). Elbs ist vom Vatikan gerade als Krisenmanager eingesetzt worden. Er muss vorübergehend auch die liechtensteinische Kirche mitbetreuen. Sie ist nach langen Jahren unter erzkonservativer Leitung sanierungsbedürftig. Der Vorarlberger gilt als liberaler Katholik. Mehr noch tut das Glettler. Der gebürtige Steirer fördert moderne Kunst gezielt, um festgefahrene Denkmuster aufzubrechen. Kircheninterne Widerstände gegen die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare lehnt er ab.
Johannes Huber, Journalist und Blogger zur österreichischen Politik, www.diesubstanz.at