News Logo
ABO

Paul Lendvai: "Es gibt einen verschleierten politischen Analphabetismus"

Subressort
Aktualisiert
Lesezeit
20 min
Paul Lendvai: "Es gibt einen verschleierten politischen Analphabetismus"
©Bild: (C)2022 Ricardo Herrgott/News
  1. home
  2. Aktuell
  3. News
Welterklärer Paul Lendvai und sein Blick auf das Jahr 2022: Warum das Schengen-Veto von Österreich ein Eigentor war, Putins Ablaufdatum und die Selbstzerstörung von ÖVP und SPÖ.

Herr Professor Lendvai, wie blicken Sie auf dieses komplizierte Jahr 2022 zurück?
Ich bin pessimistischer geworden. In der Politik ist das Gefühl für Proportionen und für die Realität sehr wichtig. Dieses Gespür lässt die Regierung, in erster Linie die ÖVP-Führung, vermissen. Blicken wir auf die internationale Politik: Warum empfängt man Viktor Orbán mit militärischen Ehren? Er ist in der EU immer mehr isoliert, nur nicht in Österreich. Bundeskanzler Nehammer tritt mit ihm und Serbiens Präsident Vucic auf. Kein Wort der Kritik über die Rolle dieser beiden Regime, sie werden sogar weißgewaschen. Und weiter: Zwei Wochen nach der Zustimmung auch der eigenen EU-Abgeordneten zur Schengen-Erweiterung stößt man mit einem Veto die EU-Partner Rumänen und Bulgarien vor den Kopf. Es ist sehr selten, dass ein politischer Schritt international und national so einhellig verurteilt wird. Das war ein Eigentor, das bringt dem Land nichts im Kampf gegen die Migrationswelle und das Schlepperunwesen. Zuerst wollte dieser von allen guten Geistern verlassene Innenminister auch noch Kroatien blockieren. Dann ist man darauf gekommen, das wäre noch schlimmer für Österreich. Das alles schadet dem Land und isoliert es. Es gibt nichts Schlimmeres, als lächerlich zu werden.

Worauf führen Sie diese Aktionen der ÖVP zurück?
Ihr Parteichef Karl Nehammer hat sich einen der wichtigsten Berater von Sebastian Kurz zurückgeholt. Er will einen Kurz-Kurs ohne Kurz. Aber er hat weder den Charme von Kurz noch die rhetorischen Fähigkeiten eines Herbert Kickl. Die ÖVP versucht, durch diese Politik FPÖ-Wähler oder die enttäuschten ÖVP-Wähler zu gewinnen. Aber das wird nicht gelingen.

Fehlt dem Bundskanzler das außenpolitische Format?
Leider, ja. Ich wundere mich, dass die Routiniers in der Regierung wie Alexander Schallenberg und Karoline Edtstadler, die sich auskennen, die außenpolitischen Amateure im Bundeskanzleramt und Innenministerium nicht rechtzeitig gewarnt haben. Jeder Schritt, der in dieser Situation, angesichts des Ukraine-Krieges, den Zusammenhalt der E U schwächt, ist ein Fehler. Hier offenbart sich Unkenntnis, camoufliert durch billige Rhetorik. Ich merke immer wieder, wenn ich mit Politikern spreche, sie lesen nicht mehr, was in Zeitungen oder Büchern geschrieben wird. Es genügt nicht, Twitter oder nur die Überschriften zu lesen. Es gibt einen verschleierten politischen Analphabetismus. Politiker müssten doch mehr wissen.

Sehen Sie Anzeichen, dass die Einigkeit der EU gefährdet ist?
Wir haben 27 Staaten, darunter einen Staat, der ein bewusster Störenfried ist. Das ist Orbáns Ungarn. Daneben gibt es noch das Problem mit Polen, das einerseits neben den baltischen Staaten das von Russland am meisten bedrohte Land ist und stark gegen Putins Aggression auftritt, andererseits ist es gegen die EU, weil diese das Abmontieren des Rechtsstaats in Polen bestraft. So schwächt die Regierung eine Gemeinschaft, die eigentlich die wichtigste Bedingung für das Überleben ihres Landes ist. Dann gibt es noch Länder wie Bulgarien, das korrupt ist und wieder unter russischen Einfluss gerät. Jedes Land hat innenpolitische Probleme oder Wahlen, wo man sieht, wie schnell Nationalismus und Demagogie wirken können. Siehe Italien, obwohl Ministerpräsidentin Meloni dort durch die finanzielle Lage zur Mäßigung gezwungen ist. Und eine Kernfrage ist natürlich, ob die in sich gespaltete deutsche Regierung hält. Der Diktator Putin nutzt jedenfalls jede Möglichkeit, Europa zu schwächen, vom Gas bis zur Untergrabung der politischen Institutionen.

Was kann Europa tun?
Die EU ist eine fragile Konstruktion, weil sie mit Sünden nicht umgehen kann. Bei ihrer Gründung hat man nicht damit gerechnet, dass in einem Mitgliedsland ein autoritäres System entstehen könnte oder andere Probleme entstehen. Man kann niemanden ausschließen. Aber die EU hat sehr viele Krisen überstanden. Zudem liegt ihre Existenz im Eigeninteresse ihrer Mitglieder, da sie zusammen mehr Chancen haben als allein. Also: Ich bin nicht pessimistisch, aber ich bin besorgt und kann nur hoffen, dass die EU den Zusammenhalt wahren wird.

Wie sehen Sie die Zukunft Wladimir Putins und den von ihm begonnenen Krieg gegen die Ukraine?
Ich kann mir nicht vorstellen, dass Putin -auch aus gesundheitlichen oder Altersgründen - sehr lange amtieren wird. Andererseits kann man nicht absehen, wie eine solche durch eine Clique von ehemaligen Geheimdienstlern und Oligarchen gestützte Diktatur enden wird. Es kann zu einer gefährlichen Situation oder zu Machtkämpfen kommen, wenn Putin aus gesundheitlichen Gründen zurücktritt, stirbt oder vielleicht durch einen Militärputsch gestürzt wird. Aber jedenfalls hat er im Geheimdienst eines gelernt: seine Macht zu konservieren, auszubauen und Rivalen oder Feinde rechtzeitig zu entmachten. Der frühere Präsident und Ministerpräsident Dmitri Medwedew, den Michail Gorbatschow kurz sogar als Zukunftshoffnung betrachtet hat, ist heute der übelste Kriegspropagandist, weil er sich in Stellung für Putins Nachfolge bringt und situationselastisch ist. Es ist in Russland wirklich alles möglich. Niemand hat damals Chruschtschows Sturz vorhergesagt, niemand den Stalin-Tito-Konflikt. Und wer hätte gedacht, dass China und Russland, die vor rund 50 Jahren fast im Krieg miteinander verwickelt waren, heute schon als brüderliche Verbündete gelten?

Wie könnte sich 2023 der Krieg in der Ukraine entwickeln? Verhandlungen? Oder ein eingefrorener Konflikt, der sich noch über viele Jahre ziehen kann?
Viel wird davon abhängen, wie Putin die Kräfteverhältnisse einschätzt -in erster Linie mit den USA. Die größte Gefahr ist eine republikanische und vor allem eine Trump-Administration. Es ist für die Ukraine unglaublich wichtig, dass die Demokraten bei den Senatswahlen zumindest nicht verloren haben. Ebenfalls wichtig ist für Putin die Einschätzung in Deutschland. Und natürlich China. Da glaube ich, dass die Änderung der Covid-Politk in China zeigt, dass die politische Führung dort auch verfehlte Politik korrigieren kann. Vielleicht ist das Bündnis mit Putin nicht so fest, wie man befürchtet hat. Putin und sein Geheimdienst haben jedenfalls mit dem Angriff auf die Ukraine einen historischen Fehler gemacht. Der jetzige Terrorkrieg gegen die Menschen dort, indem man bewusst im Winter die Lebensbedingungen zerstört, wird sich auf die Beurteilung Russlands noch lange auswirken. Es ist bewundernswert, wie die Menschen in der Ukraine durchhalten. Aber natürlich werden in den Wintermonaten auch jene Kräfte in der EU Zulauf bekommen, die eine Kapitulation unter dem Deckmantel der Verhandlungen propagieren, wie etwa bei uns die FPÖ.

Auf dem Boden der vielen Krisen legt die FPÖ in den Umfragen zu. Ist das ein nachhaltiger Trend?
Ich habe für mein jüngstes Buch "Vielgeprüftes Österreich" 55 Personen aus der Politik getroffen, unter ihnen auch Herbert Kickl. Ich war sehr überrascht, dass er mich empfangen hat, er war überrascht, dass ich mit ihm reden wollte. Es ist keine Frage, dass er ein sehr gescheiter, zu allen möglichen Tricks fähiger Politiker ist. Doch am meisten gewinnt die FPÖ jetzt ohne eigenes Zutun, wenn er sich zurückhält. Das Kurzzeitgedächtnis ist eine der größten Stützen der FPÖ, die Geschichten rund um Heinz-Christian Strache und andere Skandale werden vergessen. Jetzt tritt die FPÖ gemeinsam mit SPÖ und Neos als Kämpferin gegen die Korruption auf. Eine weitere große Hilfe für die FPÖ ist die Politik der ÖVP. Ihre Ausländerpolitik lässt nicht die Popularitätswerte für Nehammer hochschnellen, sondern die der FPÖ. Das wird sich auch bei der Landtagswahl in Niederösterreich zeigen. Ich habe mich mit der Geschichte dieser Partei beschäftigt. Es ist eine Gefahr für die Demokratie, wenn eine einst staatstragende Partei nicht bereit ist, die Vergangenheit unter die Lupe zu nehmen und gewisse Dinge nicht mehr zu tun.

Warum fällt die Politik der FPÖ in Österreich auf so fruchtbaren Boden?
Brecht hat in einem Gedicht geschrieben: Der Flüchtling, der Fremde, ist der Bote des Unglücks. Das hat schon Jörg Haider gesehen und hochgespielt. Es ist natürlich ein Problem, dass Ungarn alle nach Österreich durchwinkt. Da kommen auch Menschen mit anderer Hautfarbe und anderem religiösen oder kulturellen Hintergrund. Wenn Sie dann auch noch lesen, dass jemand von diesen Flüchtlingen ein junges Mädchen umgebracht hat -dann schafft das eine Atmosphäre, in der es unglaublich herausfordernd ist, den Menschen zu erklären, dass von diesen 100.000 Asylwerbern ein großer Prozentsatz ohnehin nicht hierbleibt, sondern weiterfährt. Es gibt keine schnelle Lösung für dieses Problem, sie würde jedenfalls Verantwortungsgefühl, Fähigkeit zu Integrität und die Zusammenarbeit der politischen Kräfte verlangen -und das nicht nur bei uns. Das politische Führungspersonal spielt eine große Rolle, aber auch der Zufall. Es gibt Phasen, in denen schwache Figuren da sind und Phasen, in denen man Glück hat. Schauen Sie nach Großbritannien: Da gab es einmal mit H. H. Asquith (1852-1928) und Winston Churchill (1874-1965) brillante Staatsmänner, und wer sind die heutigen Politiker und wie haben sie dieses einst so große, reiche, demokratische Land zugrunde gerichtet? Man sieht, es gibt keine Sicherheiten. Es kann alles passieren. Man kann als Journalist höchstens Warnzeichen sehen und diese rechtzeitig beschreiben.

Warum schafft es die SPÖ nicht, die FPÖ in Schranken zu halten?
Die SPÖ ist leider ein spezielles Kapitel. Diese Partei hat seit Jahren starke Probleme mit ihren Führungsfiguren. Werner Faymann etwa war der Verwalter des Niedergangs. Sein Nachfolger Christian Kern war völlig ungeeignet. Ein wirklicher Prüfstein für einen Politiker ist: Wie benimmt man sich nach seinem Sturz? Kern hat seine Nachfolgerin erfunden und dann konnte er sich nicht verzeihen, dass er sie eingesetzt hat. Jedenfalls hat er in der Partei durch seinen chaotischen Abgang unglaublichen Schaden angerichtet. Er war eine momentane eitle Figur, die nicht verdauen kann, dass sie ihr Amt relativ jung verloren hat. Dazu kommt noch Machtgier wie bei Hans Peter Doskozil. Immer wenn die Umfragen der SPÖ in die Höhe gehen, kommt irgendein Interview von ihm. Das ist die Selbstzerstörung einer traditionsreichen Partei.

Wie schlägt sich Pamela Rendi-Wagner?
Angesichts der Korruptionsgeschichte der ÖVP ist persönliche Integrität sehr wichtig. Diese verkörpert die Parteivorsitzende ebenso wie Offenheit. Aber es gibt Defizite, in erster Linie in der Außenpolitik. Eine sozialdemokratische Partei kann nicht schweigen, sondern muss Stellung beziehen, wenn es um die Diktatur in Russland oder um Orbán in Ungarn oder darum ging, ob Wolodimir Selenskij vor dem Parlament sprechen soll. Man darf in diesen Fragen nicht die Glaubwürdigkeit und die moralische Rechtfertigung der Kritik an der Regierung verlieren. Das ist ein Schwachpunkt in ihrer sonst vom Kampfgeist geprägten Haltung. Sie hat es als Quereinsteigerin und Frau in dieser Partei, die seit Faymann eine Schlangengrube ist, schwer. Diese Partei ist personell ausgetrocknet, fähige Leute gehen nicht mehr in die Politik.

Flächendeckend?
Ich habe eine positive Meinung zu den Neos. Allerdings habe ich große Zweifel, ob die Grünen die Regierungsphase mit Kurz und jetzt Nehammer à la longue als maßgebliche politische Kraft überleben werden.

Könnten die Grünen wieder aus dem Parlament stürzen?
Ich hoffe nicht. Aber ich sehe in dieser Regierung keine große Chance, dass durch radikale Reformen die Menschen gewonnen werden. Und wenn sich die Grünen als Hilfstruppe dieser selbstzerstörerischen, von Eigentoren geprägten Außenpolitik der ÖVP missbrauchen lassen, werden sie sicherlich viele Stimmen verlieren.

Stichwort Medien: Es gibt ein Naheverhältnis zwischen Politik und Medien. Ist man sich zu nah?
Das ist eine Frage der Haltung. Mein Freund Kurt Vorhofer war der größte politische Journalist seit dem Zweiten Weltkrieg. Er war mit allen möglichen Leuten per Du. Er war ÖVP-Mitglied und hat trotzdem die besten und kritischsten Aufsätze über sie geschrieben. Ich habe zwei Diktaturen erlebt und gelernt, was Freiheit bedeutet. Weder bei der Financial Times noch beim ORF oder beim Standard hat jemand versucht, mich zu beeinflussen. Es hängt von der eigenen Haltung ab, gewissen Versuchungen zu widerstehen. Ich glaube nicht, dass dabei das Du-Wort entscheidend ist. Was zuletzt mit zwei Chefredakteuren in Österreich passiert ist, ist aber ein Weckruf. Früher oder später wird es offensichtlich, wenn ein Journalist oder ein Chefredakteur oder eine Chefredakteurin für eine bestimmte Partei eine Schwäche hat. Das lässt auf Dauer den Kurswert ihrer Zeitung nicht in die Höhe schnellen. Also, es geht um die Haltung und sehr viel hängt vom Menschen ab. Das ist vielleicht das Wichtigste.

Umfragen zeigen mittlerweile große Zweifel an den demokratischen Institutionen, nicht an der Demokratie an sich, aber daran, wie sie sich derzeit darstellt. Müssen wir uns um sie Sorgen machen?
Man sollte diese Umfragen nicht überschätzen. Es gab auch früher ähnliche Umfrageergebnisse. Das hängt von der Fragestellung und der momentanen Situation ab. Wir sind derzeit in der größten Krisensituation seit dem Zweiten Weltkrieg. Es kommen so viele Dinge zusammen: die Pandemie, die Inflation, ein Krieg im zweitgrößten Land Europas und Millionen von Flüchtlingen. Wenn Sie sich das und noch dazu die schwache politische Garnitur anschauen, dann ist es naheliegend, dass viele Menschen sagen, sie wollen einen starken, weisen Mann. Aber: Nein, sie wollen keine Diktatur. Ein Warnzeichen sind solche Umfragen auf jeden Fall. Umso wichtiger sind daher Zusammenarbeit und die früher oft verniedlichte Kompromissbereitschaft in Österreich. Ohne sie wäre das Wirtschaftswunder Österreich nach 1945 nicht möglich gewesen. Es gehört zum Schuldenkonto der FPÖ, dass sie noch immer eine Politik der Feindschaft programmiert.

Was hilft dagegen?
Dass man einander in der Politik als Gegner und nicht als Feind betrachtet. Feindschaft wäre die größte Gefahr für die Demokratie. Aber ich glaube, dieses Land hat Kraftreserven. Ich bin also nicht hoffnungslos pessimistisch, aber doch besorgt um die Zukunft. Deshalb schrieb ich mein Buch auch als einen Weckruf.

Das Buch
In "Vielgeprüftes Österreich", liefert Paul Lendvai eine messerscharfe Analyse der politischen Geschichte seiner Wahlheimat - von den Habsburgern bis zur FPÖ. Er zeigt auf, welche großen Linien die Politik Österreichs geprägt haben und erklärt, was wir aus der Geschichte lernen können. ecoWing, 307 Seiten, 26 Euro

Die mit Sternchen (*) gekennzeichneten Links sind sogenannte Affiliate-Links. Wenn Sie auf so einen Affiliate-Link klicken und über diesen Link einkaufen, bekommen wir von dem betreffenden Online-Shop oder Anbieter eine Provision. Für Sie verändert sich der Preis nicht.

ZUR PERSON: Paul Lendvai, 93 arbeitete in Ungarn als Journalist bei einer sozialdemokratischen Zeitung, wurde 1953 verhaftet, erhielt Berufsverbot und musste 1957 im Zuge des Ungarn-Aufstands fliehen. In Österreich war er für die "Presse", die "Neue Zürcher Zeitung" und die "Financial Times" tätig. Er gründete die "Europäische Rundschau", die bis 2020 erschien. Von 1982 bis 1987 war er Leiter der Osteuroparedaktion des ORF, wo er auch heute das "Europastudio" moderiert.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich im News-Magazin Nr. 51+52/2022.

Logo
Monatsabo ab 20,63€
Ähnliche Artikel
2048ALMAITVEUNZZNSWI314112341311241241412414124141241TIER