Als die Rakete in Polen einschlug, hatten viele Angst vor dem Ausrufen des Bündnisfalles. Die Nato selbst hat abgewartet und manche beobachteten auch ein Zögern. Wie beurteilen Sie die Reaktion der Nato auf dieses Geschehen?
Ich finde, die Nato hat hier nicht zögerlich, sondern besonnen reagiert. Man wusste zunächst schlicht und einfach nicht, woher diese Rakete kommt. Es hat sich dann bald herausgestellt, dass es eine fehlgeleitete Rakete aus der Ukraine war. Da war die Besonnenheit auch richtig, denn natürlich sucht die Nato keinen Krieg. Das hat sie auch gar nicht nötig. Sie hat in den letzten Monaten eindringlich unter Beweis gestellt, dass sie absolut gewillt ist, der russischen Aggression entgegenzutreten. Die Nato setzt derzeit alles daran, große Abschreckung aufzubauen und Putin klarzumachen, er solle nicht einmal daran denken, auf Nato-Gebiet Krieg zu führen. Den Prozess hat man anhand dieser Situation ja sehen können. Die Mitglieder hätten sich getroffen und beurteilt, ob das als Bündnisfall zu bewerten wäre oder nicht. Der Bündnisfall würde bedeuten, dass die Nato dem angegriffenen Land zu Hilfe kommen sollte. Dann wird überlegt, in welcher Form diese Hilfe erfolgt. Oft wird es nämlich so hingestellt, als wäre sofort die militärische Beistandspflicht notwendig. Das ist aber nicht so. Beistandspflicht kann vielseitig und nicht nur militärisch sein. Im Übrigen war es aus taktischen Überlegungen bald klar, dass das kein bewusster Angriff gewesen sein kann.
Warum stand ziemlich bald fest, dass diese Rakete kein russischer Angriff war? Wieso war das für manche Kriegsbeobachter und die Expertinnen und Experten schon so früh klar?
Wir wissen, dass bei kriegerischen Auseinandersetzungen die Technik immer wieder Probleme machen kann. Da können Funkwellen gestört sein, Probleme bei Radarstationen auftreten oder durch den Ausfall von GPS Raketen eben an einem falschen Ort einschlagen. Das ist Krieg, das ist tragisch und traurig. Es kann aber passieren. Aus taktischen Überlegungen heraus macht ein Angriff für Russland keinen Sinn. Russland hat mittlerweile erkannt, dass es militärisch chancenlos gegen die Nato ist. Diesen Krieg zu erweitern und mehr Staaten hineinzuholen, wäre absurd. Das wissen auch die Machthaber in Russland. Viele Experten und Expertinnen wussten zwar, dass Russland nicht so stark sein kann, wie es vorgibt zu sein. Aber jetzt ist offengelegt, dass die Nato dem russischen Militär nicht nur überlegen, sondern erschreckend überlegen ist. Die Nato ist auch technisch um Welten überlegen. Die westlichen Waffensysteme sind einfach weitaus effektiver, besser und zuverlässiger als die russischen. Der Nato als Bündnis insgesamt hat das übrigens sehr gutgetan, zu erkennen, wie stark sie ist.
ZUR PERSON
Franz Eder studierte Politikwissenschaft an den Universitäten Wien und Innsbruck. 2008 promovierte er an der Universität Innsbruck und ist assoziierter Professor für Internationale Politik am Institut für Politikwissenschaft. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich internationale Politik mit besonderer Berücksichtigung der Außenpolitikanalyse, der Außen-und Sicherheitspolitik der EU und der USA sowie der Terrorismusforschung.
Die Existenzberechtigung der Nato wurde ja immer wieder mal infrage gestellt, sogar vom Amerikanischen Ex-Präsidenten Trump. Der Kalte Krieg sei vorbei und es gäbe keinen kollektiven Gegner mehr, hieß es da. Hat sich das seit dem Krieg in der Ukraine geändert?
Die Nato hat weit über die Verteidigungslogik hinaus eine Existenzberechtigung. Sie versucht auch, den Raum, in dem sie vertreten ist, sicherheitspolitisch zu ordnen. Das reicht von Eindämmungsmaßnahmen gegen Klimawandelkonsequenzen über Friedenseinsätze zur Demokratiepolitik. Das ist schon mal weit mehr als eine reine Verteidigungsorganisation. Eine wichtige Säule ist hier das Ziel der Ausbreitung von Demokratien. Genau in diesem Punkt treten auch immer wieder Probleme mit dem Mitgliedsstaat Türkei auf. Das Land selbst hat autokratische Züge und läuft damit den Nato-Zielen entgegen.
In einem Bündnis von 30 unterschiedlichen Staaten, kommt es ja zwangsläufig auch zu Unterschieden in politischen und ideologischen Auffassungen. Sind in der Nato trotzdem alle Staaten gleich oder manche gleicher?
Also formal sind alle Mitgliedsstaaten gleich. Der Punkt liegt hier im Faktischen, und Fakt ist, dass die USA weitaus am meisten Ressourcen einbringen. Sie bilden das Rückgrat des Bündnisses. Am Nato-Tisch sitzen formal gleiche Mitglieder und eines davon hat am meisten zu sagen. Dann gibt es Staaten, die gewisse Prinzipien verletzen, aber die Bündnisinteressen insgesamt wahren. Wie eben die Türkei. Oder auch wie Deutschland, das zu wenig Militärbudget eingebracht hat. Die USA tragen hier die finanzielle Hauptlast der europäischen Sicherheit und Verteidigung. Das wurde von den USA sehr kritisiert. Nun investiert Deutschland 100 Milliarden Euro in Verteidigung. In Verhandlungen über die strategische Ausrichtung ist sich die Nato nicht immer einig, findet aber zu Lösungen. Spannend ist hier auch die Debatte über China. Da wollten zum Beispiel die USA und Großbritannien China als strategischen Rivalen der Nato deklarieren. Hier hielten dann Frankreich und Deutschland dagegen.
Was bedeutet es in der Praxis der internationalen Politik, ob ein Staat nun als strategischer Partner oder eben als Rivale der Nato eingestuft wird?
Diese Einstufung zeigt die Richtung an, in die sich die Sicherheitsordnung bewegt. Zum Nato-Gipfel im Juni sind Japan, Südkorea und Neuseeland eingeladen worden. Das sind keine Mitglieder. So wird deutlich, dass sich die Nato nicht mehr nur als ein Amerika-Europa-Bündnis versteht. Die Nato beginnt, Sicherheit global und innovativ zu denken. Das muss sie auch, denn durch die neuartigen Bedrohungen im Cyberspace oder im Weltraum sind Gefahren zunehmend global. Da stellen sich hochinteressante Fragen. Wie zum Beispiel: Wäre ein Cyberangriff aus China auf einen Nato-Mitgliedsstaat ein Bündnisfall? Bei solchen Überlegungen spielt strategische Einstufung, ob Rivale oder Partner, dann schon eine Rolle.
Die Nato-Strategien haben sich seit ihrer Gründung 1949 öfter gewandelt. Von der Eindämmungsstrategie, um die Ausbreitung der Sowjetunion zu verhindern, zu jener der "massiven Vergeltung". Wie lässt sich die aktuelle Strategie beschreiben und hat sie sich seit dem Angriffskrieg geändert?
Die aktuelle Strategie erkennt im Klimawandel eine zentrale Sicherheitsbedrohung für den Nato-Raum. Sie ist global und gegen neuartige Bedrohungen ausgerichtet. An dieser Strategie hat sich im Groben nichts geändert. Der Krieg ist eher als Katalysator für die bereits begonnene Änderung zu werten. Durch ihn ist der Verteidigungscharakter der Nato wieder in den Vordergrund getreten. Dazu gehört die Reform der Streitkräfte. So werden in den nächsten Jahren 40.000 Truppen zur unmittelbaren Verfügung der Nato bereitgestellt. Weiters sollen innerhalb kurzer Zeit 800.000 bestens ausgebildete Soldaten mobilisiert werden können. In Kombination mit der deutschen Aufrüstung und der Verstärkung des gesamten Ostraums ist das ein ganz klares Zeichen an Russland. Die Nato fährt hier eine Strategie der Abschreckung. Durch den Krieg wurden auch die Beitrittsbemühungen von Finnland und Schweden vorangetrieben. Diese Beitritte werden der Nato viel bringen. Die beiden Länder haben wertvolle Expertise im arktischen und russischen Raum. Beides gegenwärtige und künftige Konfliktzonen.
Zur Nato-Erweiterung: Sowohl Finnland als auch Schweden sind neutrale Staaten. Waren sie bislang kein Nato-Mitglied, weil sie wie Österreich keinem Bündnis beitreten dürfen oder weil sie es nicht wollten?
Sie wollten es nicht. Der Beitritt ist nämlich eine Frage des Wollens und des politischen Willens. Auch in Österreich wäre es nur eine Frage des Wollens. Natürlich kann man sagen, wir sind ja neutral und das ist so in der Verfassung. Aber die Verfassung könnte sich ändern. Bei Finnland und Schweden ist es so, dass sie bereits seit Langem eine intensive Kooperation mit der Nato haben. Durch viele gemeinsame Übungen denken und handeln die Streitkräfte bereits wie Nato-Streitkräfte. Sie sind bereits jetzt top gerüstet, da braucht es keine langwierigen Annäherungsprozesse. Diese Staaten stärken das Bündnis.
Das sehen die Türkei und Ungarn allerdings nicht so. Sie sprechen sich gegen den Beitritt der beiden Länder aus. Ist es absehbar, dass sie ihren Widerstand hier aufgeben?
Orban ist leider ein Spaltpilz, und das nicht nur innerhalb der EU, sondern eben auch in der Nato. Ungarn weist große Nähe zu Russland auf und will sich durch das Aufschieben auch eine besondere Stellung verschaffen. Die Türkei wehrt sich gegen Finnland und Schweden aus Strafe, weil beide Länder die Türkei wegen ihrer Menschenrechtspolitik gegenüber den Kurden kritisiert haben. Jetzt, nach dem Anschlag in Istanbul, sieht man das deutlich. Hier wurde gegen das Vorgehen der Türkei wenig Einspruch erhoben, weil beide Länder auf die Unterzeichnung ihrer Beitrittsabkommen hoffen. Es ist davon auszugehen, dass beide dem Beitritt zustimmen werden. Die Frage ist nur, was sie sich taktisch davor noch herausholen.
Wir sind kein Mitglied der Nato und begehren den Beitritt auch nicht. Welche Rolle spielt das Bündnis trotzdem für Österreich?
Wir haben über die sogenannte "Partnerschaft für den Frieden" durchaus eine Beziehung mit der Nato. Das Bundesheer arbeitet in Trainingsmissionen zusammen, da gibt es Treffen und Austausch. Österreich war immer schon ein westorientierter Staat, und die Nato ist natürlich insgeheim Teil der österreichischen Verteidigungsüberlegungen.
Teil Verteidigungsüberlegungen bedeutet, Österreich rechnet damit, im Angriffsfall von der Nato verteidigt zu werden?
Ja, aber diese Frage stellt sich aktuell nicht. Unsere Nachbarstaaten im Osten sind in der Nato. Um Österreich anzugreifen, müsste der Angreifer also zunächst einmal einen Nato-Staat überrennen. Interessant war die Frage bis 1989. Damals endete der Warschauer Pakt wirklich vor der österreichischen Grenze. Da war der Verteidigungsplan: Sollte ein Angriff aus dem Osten kommen, würde sich das Bundesheer bis hinter die Enns zurückziehen und dort so lange versuchen auszuhalten, bis die Nato mit ihren Streitkräften zur Hilfe kommt. Im militärischen Denken Österreichs wurde Verteidigung also immer gegen den Osten und mit der Nato gedacht. Heute kommt eine neue Verteidigungsüberlegung dazu, nämlich die Europäische Sicherheits-und Verteidigungspolitik. Darüber sprechen wir viel zu wenig, obwohl sie für Österreich sehr relevant ist.
Die Europäische Verteidigungspolitik, der auch Österreich angehört, schreibt vor, dass sich die Mitglieder im Verteidigungsfall unterstützen, und zwar mit "allen zur Verfügung stehenden Mitteln". Das klingt ja auf den ersten Blick recht schwammig.
Das ist eigentlich nicht schwammig, sondern eine recht deutliche Klausel. Sie schreibt klar den Umfang und die Beistandspflicht im Verteidigungsfall vor. Sie bedeutet, wenn ein Staat ein top ausgerüstetes Militär zur Verfügung hat, dann muss er es faktisch bereitstellen. Diese Beistandsklausel ist um einiges klarer verfasst als der berühmte Nato-Artikel 5. Der ist schwammiger, da könnte - jetzt ganz polemisch ausgedrückt - ein Staat eine Beileidskarte senden und er wäre seiner Beistandspflicht nachgekommen. In der Europäischen Verteidigungspolitik ist das genauer definiert. Dass Österreich hier dabei ist, heißt eigentlich, dass wir in diesem Rahmen unsere Neutralität aufgegeben haben. Wir sind eigentlich nicht mehr neutral. So wird Verteidigung europäisch gedacht und in diese Richtung wird sich Verteidigung entwickeln, auch in Kombination von Europäischer Union und Nato.
Warum berührt die Europäische Verteidigungspolitik die Neutralität Österreichs und welchen Beitrag kann das Land hierfür leisten?
Es ist so: Wir haben mit der Verfassungsänderung 23j, die Teilnahme an der Europäischen Sicherheits-und Verteidigungspolitik geregelt und die Neutralität innerhalb dieses Rahmens aufgehoben. Wir haben festgelegt, gemeinschaftlich zu verteidigen und beizustehen. Das bedeutet, dass die Neutralität hier auf ein so kleines Maß zusammengeschrumpft ist, dass wir eigentlich nicht mehr von Neutralität sprechen können. So gibt es jetzt Bestrebungen, unter deutscher Führung Flugabwehrsysteme zu installieren. Dazu muss man wissen, dass diese Systeme immer Durchlässigkeiten haben. Denn bei Abwehrraketen, wie zum Beispiel der IRIS-T, kostet ein Schuss 400.000 Euro, bei den Patriot-Systemen rund zwei Millionen Euro. Aus finanziellen und technischen Gründen kann das Abwehrsystem gar nicht ganz Europa abschirmen. Hier muss also definiert werden, welche Bereiche stark geschützt werden und wo wir uns Durchlässigkeiten erlauben. Verteidigungsministerin Tanner hat nun vorgeschlagen, Österreich solle sich im Rahmen der Europäischen Verteidigungspolitik an diesem System beteiligen. So ist Österreich hier nicht mehr neutral beziehungsweise nur noch sehr eingeschränkt.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 50/2022 erschienen.