Von erotischen Dialogen bis hin zur Aufhebung von Bundespräsidentschaftswahlen hat der Verfassungsgerichtshof über eine ziemliche Bandbreite von Angelegenheiten zu entscheiden. Als überparteiliche Behörde muss er immer wieder politische Entscheidungen treffen. Ein Überblick über die Aufgaben und die Befugnisse des VfGH.
Was ist der Verfassungsgerichtshof?
Neben dem Verwaltungsgerichtshof (VwGH) und dem Obersten Gerichtshof (OGH) ist der Verfassungsgerichtshof (VfGH) einer der drei österreichischen Höchstgerichte. Der Verfassungsgerichtshof gilt als selbständige, von parteipolitischen Interessen unabhängige Behörde. Seit seiner Entstehung im Jahr 1920 gerät seine Funktion immer wieder in Konflikt mit Regierungen, dem Parlament oder Teilen der Öffentlichkeit. Denn auch wenn der VfGH neutral agiert, muss er weitreichende politische Entscheidungen treffen, mit oft gravierenden Auswirkungen für bestimmte Personengruppen.
Welche Entscheidungen trifft der VfGH?
Die wichtigste Aufgabe des Verfassungsgerichtshofs ist seine Funktion als sogenannter negativer Gesetzgeber. Er beschließt oder verabschiedet selbst keine Gesetze, sondern wird dann angerufen, wenn Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes oder einer Verordnung bestehen. Konkret müssen die Richter:innen des VfGH beispielsweise darüber entscheiden, ob ein Lockdown oder eine Impfpflicht mit der österreichischen Verfassung vereinbar ist. Ein solches Normprüfungsverfahren kann sich auf ein ganzes Gesetz, einzelne Paragraphen oder Absätze eines Gesetzes erstrecken.
Ist eine Verfassungsmäßigkeit laut VfGH nicht gegeben, muss ein Gesetz unverzüglich aufgehoben werden. In manchen Fällen ist eine "Reparaturfrist" von bis zu 18 Monaten vorgesehen.
Neben der Funktion als negativer Gesetzgeber hat der VfGH eine Reihe weiterer Aufgaben. Zum Beispiel obliegt ihm die sogenannte Kompetenzgerichtsbarkeit. Das bedeutet, er entscheidet im Einzelfall, welches staatliche Organ für einen bestimmten Sachbereich oder eine bestimmte Rechtssache zuständig ist. Außerdem kann er Wahlen für rechtswidrig erklären (so geschehen bei der Bundespräsidentschaftswahl 2016). Am häufigsten beschäftigt sich das Personal des VfGH mit Beschwerden gegen Bescheide von Verwaltungsbehörden. Im Jahr 2019 waren das über 4.700 Verfahren. Ein Gesamtüberblick über die Kompetenzen des VfGH findet sich hier.
Wer entscheidet im Verfassungsgerichtshof?
Der Verfassungsgerichtshof besteht aus 14 Verfassungsrichter:innen: dem Präsidenten (Christoph Grabenwarter), der Vizepräsidentin (Verena Madner) und zwölf ordentlichen Mitgliedern. Fällt ein Mitglied wegen Krankheit oder Befangenheit aus, stehen sechs Ersatzmitglieder zur Verfügung. Die jeweiligen Mitglieder werden vom Bundespräsidenten ernannt. Die Bundesregierung nominiert sechs Verfassungsrichter:innen und drei Ersatzmitglieder und hat außerdem ein Vorschlagsrecht für Präsident:in und Vizepräsident:in. Die restlichen Mitglieder werden vom National- und zum Teil vom Bundesrat vorgeschlagen.
Vorgeschlagen werden können ausschließlich Juristen oder Juristinnen mit langjähriger beruflicher Erfahrung, beispielsweise als Richter:innen, Universitätsprofessoren und -professorinnen oder Beamte aus Bund und Ländern. Ein VfGH-Amt endet mit der Vollendung des 70. Lebensjahres. In Ausnahmefällen können Verfassungsrichter:innen auch vom VfGH selbst abgesetzt werden.
Wie kann man eine Beschwerde einreichen?
Für Privatpersonen besteht am Verfassungsgerichtshof ein sogenannter Anwaltszwang. Das bedeutet, um als Privatperson ein Verfahren am VfGH einzuleiten, muss eine bevollmächtigter Anwalt bzw. eine bevollmächtigte Anwältin einen Antrag einbringen. Bei Menschen mit geringem Einkommen kann auch eine kostenlose Verfahrenshilfe beantragt werden. In einem darauffolgenden Vorverfahren wird darüber entschieden, ob der Antrag überhaupt zugelassen wird. Dabei wird geprüft, ob der VfGH für die Rechtssache zuständig ist und ob alle formalen Regeln eingehalten wurden.
Nach erfolgreicher Zulassung kommt es zur Ausarbeitung eines sogenannten Erledigungsentwurfs, in welchen die maßgeblichen Entscheidungen aus Judikatur und Literatur verarbeitet sind. Erst dann kommt es zur eigentlichen Verhandlung, die je nach Sachverhalt auch öffentlich stattfinden kann. Hierbei werden die Parteien des Verfahrens geladen und um Stellungnahmen gebeten bzw. darum gebeten, offene Fragen zu klären.
Die Beratungen der Richter:innen über das Ergebnis des Verfahrens sind nicht öffentlich und werden den Parteien schriftlich zugestellt. Bei wichtigen Entscheidungen wird das Ergebnis gelegentlich auch mündlich verkündet.
Ein Verfahren dauerte im Jahr 2019 im Schnitt 123 Tage. Jedoch sinkt die durchschnittliche Verfahrensdauer in den letzten Jahren kontinuierlich. Im Jahr 1998 dauerte ein Verfahren durchschnittlich knapp 300 Tage.
Die bedeutendsten Verfahren des VfGH
Nur ein Jahr nach seiner Gründung im Jahr 1921 musste der Verfassungsgerichtshof über den "Theaterskandal" um Arthur Schnitzlers "Reigen" entscheiden. In dem Theaterstück wurden in Dialogen unzweideutige Andeutungen über Erotik und Sex gemacht. Die konservative Bundesregierung wies den sozialdemokratischen Wiener Bürgermeister Jakob Reumann an, das Stück zu untersagen. Am 26. April 1921 entschied der VfGH: Diese Entscheidung falle nicht in die Zuständigkeit der Bundesregierung, sondern obliege der Wiener Stadtregierung.
Auf Antrag der Salzburger Landesregierung beschäftigte sich der VfGH 1974 mit der sogenannten Fristenlösung. Diese sah die Straffreiheit von Schwangerschaftsabbrüchen vor, wenn sie "innerhalb der ersten drei Monate nach Beginn der Schwangerschaft nach vorhergehender ärztlicher Beratung von einem Arzt vorgenommen wird" (§ 97 Abs 1 Z 1 Strafgesetzbuch). ÖVP, FPÖ und die katholische Kirche wehrten sich vehement gegen diese Regelung, ein entsprechendes Volksbegehren "Schutz des menschlichen Lebens" wurde 1975 von 895.655 Personen unterschrieben. Der VfGH entschied in einer sogenannten abstrakten Normenkontrolle dennoch, dass die Fristenlösung mit der Verfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vereinbar sei.
Den meisten in Erinnerung ist wohl auch noch die Debatte um die Kärntner Ortstafeln. 25 Prozent muss der Anteil der slowenischsprachigen Bevölkerung in einem Ort betragen, um die Ortstafeln zweisprachig zu gestalten – so zumindest das Ortsgruppengesetz. Der Verfassungsgerichtshof korrigierte diese Grenze in einem Urteil vom 13. Dezember 2001 auf zehn Prozent herab. Nach etlichen weiteren Verfahren einigte man sich Jahre später auf 17,5 Prozent. Selten stand der VfGH so sehr in der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit wie während dieses Verfahrens.
Am 1. Juli 2016 hob der VfGH mit der Bundespräsidentschaftswahl schließlich erstmals eine Wahl zur Gänze auf. Dem Urteil zu Folge sind in 14 Wahlbezirken Vorschriften bei der Auszählung der Briefwahlstimmen verletzt worden. Betroffen waren etwa 77.000 Stimmen. Dem vorangegangen war eine denkbar knappe Stichwahl zwischen Alexander van der Bellen und Norbert Hofer am 22. Mai 2016, welche Ersterer mit 50,3 Prozent der Stimmen bzw. rund 30.000 Stimmen Vorsprung für sich entschied. Die mündliche Verkündung der Entscheidung war die erste in der Geschichte des VfGH, die live im ORF übertragen wurde. Die Wiederholung der Stichwahl am 4. Dezember desselben Jahres gewann van der Bellen mit 53,8 Prozent der Stimmen.