Kurz vor Schulschluss protestieren Pädagogen und Eltern: An den Pflichtschulen in Wien seien die Klassen zu groß, ambitionierten pädagogischen Konzepten drohe das Aus. Das liegt auch an dem immer dringlicher werdenden Lehrermangel.
Bald beginnen die Sommerferien. Aber von Freude und Leichtigkeit ist im Wiener Votivpark nichts zu spüren. Die Eltern, Lehrer und Kinder, die sich hier versammelt haben, sind besorgt: "Wir wollen alle Lehrerinnen behalten!", steht auf den Plakaten und Transparenten oder: "Bildung ist ein Kinderrecht."
Es ist nicht das erste Mal, dass die Initiative "Bessere Schule jetzt!" zu Protesten gegen Kürzungen im Bildungsbereich aufruft. Begonnen hat alles im Vorjahr. Im Juni 2021 kündigte Wiens Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr eine Neuordnung der Lehrerzuteilung an. Das System sollte transparenter gemacht werden: Alle Kinder einer Schule durch 25 dividiert ergibt das Basiskontingent an Stunden, das einer Schule seitdem zur Verfügung steht. Darüber hinaus werden Extrastunden für Deutschförderklassen und besonderen Betreuungsbedarf aufgrund sozioökonomischer Benachteiligung vergeben. Alles andere, Ressourcen für Mehrstufenklassen zum Beispiel oder andere (reform-)pädagogische Sonderprojekte, ist Verhandlungssache.
Wiederkehrs Vision: ein gerechteres Bildungssystem. "Das Grundproblem ist, dass wir zu wenig Bildungsmobilität haben," sagt der Neos-Politiker. "Mein Hauptziel ist, Aufstieg durch Bildung zu ermöglichen, weil es für eine liberale Demokratie unglaublich essenziell ist. Dafür braucht es auch eine gerechte Ressourcenverteilung, dass alle Kinder, egal wo sie in die Schule gehen, dieselben Bildungschancen kriegen."
Schulen in Not
Es weist nur vieles darauf hin, dass die Umverteilung jenen, denen sie zugutekommen soll, trotzdem nicht nützt. Im Mai veröffentlichten die Pflichtschuldirektorinnen des Wiener Problembezirks Favoriten einen offenen Brief mit dem Titel "Schulen in Not". Darin heißt es: "Schon im Vorjahr wurden an den meisten unserer Schulen die Stundenkontingente gekürzt - obwohl uns eine gerechtere Verteilung der Stunden und ein Chancenindex zugunsten benachteiligter Schüler:innen versprochen worden waren." Zugleich, das ist der Vorwurf von "Bessere Schule jetzt!", werden aber funktionierende Schulstandorte und pädagogische Konzepte zu Tode gespart. Konkret sorgen sich die engagierten Eltern und Pädagoginnen um Integrationsmehrstufenklassen, die verschränkte Ganztagsschule und andere Errungenschaften des Wiener Pflichtschulsystems.
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"Wir verstehen ja die Intention der Reform", sagt Barbara Trautendorfer, Sprecherin der Initiative und Mutter zweier Volksschulkinder. "Im Grund genommen ist das ja nicht schlecht. Aber gleich verteilter Mangel ist nicht unbedingt gerechter. Es ist insgesamt zu wenig, und der Mangel wird nur gleichmäßig verteilt."
Zu große Klassen
Zu der Verunsicherung durch die neue Lehrerzuteilung kommen nun zwei weitere Probleme: Wien verliert durch die Kürzung der Corona-Förderstunden im kommenden Schuljahr 400 Planstellen. Und der allgemeine Lehrermangel macht sich bemerkbar. In Wien ist derzeit also zu beobachten, was österreichweit bald ein Problem sein könnte: Ein ohnehin schon reformbedürftiges Bildungssystem scheitert an der pädagogischen Grundversorgung. Zu große Klassen, zu wenig Personal. Von individueller Förderung, von Chancengleichheit und anderen Versprechungen ist dann keine Rede mehr.
25 Kinder pro Klasse sind nach der neuen Wiener Lehrerzuteilung vorgesehen. Wer kleinere Klassen hat, bekommt auch weniger Personal. Extrastunden gibt es für Deutschförderung und Sonderbetreuung.
400 Planstellen in Wien werden mit dem kommenden Schuljahr gestrichen, weil die sogenannten Corona-Förderstunden auslaufen. Bildungsstadtrat Wiederkehr fordert 1.000 mehr.
47 Prozent der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Wien werden in Integrationsklassen gemeinsam mit Kindern ohne Behinderung unterrichtet. Etwas mehr als die Hälfte der Kinder geht in eine Sonderschule.
Wie so oft schieben sich Bund und Stadt die Verantwortung für die Misere gegenseitig zu. Der Wiener Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr sieht sich in der aktuellen Situation als "Bündnispartner" der Wiener Schulen: "Es braucht mehr Ressourcen für Wien. Ein Vergleich: Wir bekommen in Wien pro Volksschüler um 20 Prozent weniger Geld als eine Schule am Wörthersee. In Wien bekommen wir pro Schüler 4.800 Euro, am Wörthersee 6.000 Euro. Das kann sich nicht ausgehen. Wir haben in Wien ganz andere Herausforderungen. Wir brauchen einen Chancenindex, damit der Ballungsbereich, wo es viel mehr Herausforderungen gibt, auch mehr Ressourcen bekommt." Aus dem Büro von Bildungsminister Martin Polaschek heißt es dazu, "dass der Bund allen Ländern die Lehrpersonenressourcen nach einheitlichen Kriterien zuteilt. Für 14,5 Schüler/innen gibt es eine Planstelle -sowohl für Schulen in Kärnten als auch in Wien." Es gebe in der Zuteilung der Ressourcen keine Sonderstellungen für Bundesländer. Aber Elemente wie die Altersund Beschäftigtenstruktur würden sich auf die Kosten pro Schüler auswirken: Ältere Lehrpersonen in bestimmten Bundesländern verursachen höhere Kosten als eine jüngere Belegschaft.
Um den Personalmangel in den Schulen zu beheben, soll der Quereinstieg in den Lehrberuf künftig erleichtert werden. Qualifizierte Bewerber können dann sofort und mit vollen Bezügen, also ohne Sondervertrag, in den Lehrerberuf einsteigen. Außerdem soll es dienstrechtlich möglich werden, alle Personen, die ein Lehramt abgeschlossen haben, unabhängig von der Schulart in den Pflichtschulen anzustellen.
Problem Inklusion
Die Gefahr in Zeiten knapper Ressourcen: Verschiedene Gruppen, die besondere Aufmerksamkeit verdienen, werden gegeneinander ausgespielt. Im konkreten Fall, fürchtet Barbara Trautendorfer von "Bessere Schule jetzt!", könnte der Fokus auf Deutschförderung bedeuten, dass Kinder mit anderen Problemen zu kurz kommen. Zum Beispiel behinderte Kinder. Frau N. ist Sonderpädagogin an einer Wiener Volksschule. Noch ist das Sonderschulkontingent an ihrer Schule gesichert, erzählt sie, "mit weniger Ressourcen als früher zwar, aber wir können arbeiten". Generell sei die Verunsicherung aber groß: Denn die Kontingente werden jedes Jahr, je nach Anmeldungslage, neu berechnet. Die Schulen wissen lange nicht, mit welchen Ressourcen sie planen können. Auch Bewerberinnen erfahren erst spät und kurzfristig, ob und wo sie eingesetzt werden. So spät, dass einige es sich anders überlegen und andere Jobs annehmen. Wegen des Lehrermangels kommen oft ganz junge Pädagoginnen an die Schulen, die überfordert rasch das Handtuch werfen. "Es wird eine ganze Lehrergeneration verheizt", sagt Frau N.
Auch die Zukunft der Sonderpädagogik mache ihr Sorgen. In einem ersten Schritt, befürchtet sie, könnte das Motto "Alle sind inklusiv" ausgerufen werden, um dann die Mittel generell und für alle zu kürzen. Denn: "Überall, wo Ressourcen drinnen stecken, werden sie beschnitten." Es bestehe die Gefahr, meint Frau N., dass Allgemeinstörungen wie ADHS oder Autismus nicht mehr ausgewiesen werden, sondern in den Regelbetrieb einfließen. Dabei würden die Störungen und Auffälligkeiten unter den Kindern sogar zunehmen. Mögliche Folge so einer Nivellierung: Die öffentlichen Schulen sind voll mit "Problemkindern", und wer sich's richten kann, schickt seine Kinder in eine Privatschule.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 25+26/2022 erschienen.