News hat bei Persönlichkeiten wie Paulus Hochgatterer, Lilli Hollein und Sepp Schellhorn nachgefragt, wie sie die neuen Lehrpläne für Österreichs Pflichtschulen gestalten würden. Fast alle sind der Meinung: Die Erwachsenen von morgen werden Fähigkeiten brauchen, die sich nicht in starren, 50-minütigen Frontalunterricht-Einheiten vermitteln lassen. Nur wer kreativ ist, kommunikativ ist und die immer komplexer werdenden Zusammenhänge versteht, wird in der Gesellschaft von morgen gut zurechtkommen.
Mehr Fremdsprachen. Kreativität. Stärker vernetztes Denken. Neun Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Kunst und Wissenschaft geben auf die Frage, was Kinder im 21. Jahrhundert in der Schule lernen sollten, spannende Antworten. Was allen gemeinsam ist: die Annahme, dass die bestehenden Lehrpläne, starre, in 50-Minuten-Einheiten gepresste Einzelfächer den Herausforderungen der Zukunft nicht mehr gerecht werden.
Das sieht auch das Bildungsministerium so. Seit einigen Jahren ist das Vorhaben bekannt, die Pflichtschullehrpläne zu überarbeiten. Ab dem Schuljahr 2023/24 soll es soweit sein. Vorderste Ziele der ministeriellen Reformabsichten: eine deutlichere Ausrichtung auf zu erwerbende Kompetenzen und die Aufnahme neuer Inhalte. Der Fächerkanon soll dabei nicht angegriffen werden, hört man von Personen, die an der Entwicklung der neuen Lehrpläne beteiligt waren. Aber es werden den großen Problemen der Zeit entsprechende Themenbereiche definiert, die künftig in die bestehenden Fächer integriert werden müssen: Umweltbildung etwa, politische Bildung, Gesundheitserziehung, Gender-Sensitivität. Übergeordnetes Motto der Reform-Übung: eine "umfassende (reflexive) Grundbildung" sicherzustellen.
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Aber ist das schon - von der Formulierung abgesehen - der große Wurf, der Österreichs Schulen ins 21. Jahrhundert katapultiert? Viele Bildungsexperten fordern viel weitreichendere Maßnahmen. Der Autor und Berater Andreas Salcher sagt: "Die breitenwirksame Transformation von einer lehrseitigen zu einer lernseitigen Pädagogik steht noch am Anfang." Heißt konkret: Auswendiglernen ist in Zeiten von Google vielleicht keine sinnvolle Übung mehr. Zudem die Erwachsenen von morgen mit immer weiter entwickelter Künstlicher Intelligenz konkurrieren müssen. Gefragt ist da nicht mehr Fachwissen - bei dem Computer ohnehin unschlagbar sind -, sondern Problemlösungskompetenz. Kritisches Denken. Sozialkompetenz. Kreativität. Die Fähigkeit, sich in einem disruptiven Arbeitsmarkt alle 15 Jahre beruflich neu zu erfinden.
All das, meint Salcher, vermittelt man besser in einem Umfeld, das den Lernenden hohe Autonomie zugesteht und einen wertschätzenden Umgang miteinander ermöglicht. Bei innovativer Schule des 21. Jahrhunderts, wie er sie sich vorstellt, würden Lehrpersonen als "Lernbegleiter" agieren, jede Schülerin und jeder Schüler hätte einen persönlichen Lerncoach und Mehrstufenklassen mit fixen Teams aus fünf bis acht Lehrern wären die bevorzugte Klassenorganisationsform.
Wie im Jahr 1850
Was Schulen ganz konkret leisten sollen, das steht in den Lehrplänen, die laut Definition auf der Webseite des Ministeriums "Grundlage","Orientierungsrahmen" und "Bezugspunkt" für die Arbeit in den Klassen sind. Der Bildungswissenschafter Stefan Hopmann, der seit 40 Jahren zu dem Thema forscht, sagt: "Lehrpläne sind ein Brief der Gesellschaft an sich selbst, was in der Schule wichtig sein soll." Dass diese Lehrpläne im Bereich der Pflichtschulen zu 80 Prozent identisch sind mit dem, was 1850 gelehrt wurde, sei aber nicht falsch, meint der emeritierte Pädagogikprofessor. "Lesen, Schreiben und Rechnen hat sich ja nicht grundlegend gewandelt. Viel von dem, was Schule vermittelt, sind kulturelle Grundtechniken, die sich ja nicht ständig verändern. Bei den verbleibenden 20 Prozent war Schule eigentlich immer gut darin, sich anzupassen. Sie würden sich wundern, wie oft schon Umwelt raus und rein war aus den Lehrplänen, Projektarbeit raus und rein war, Wirtschaft raus und rein war. Alles, was die Gesellschaft beschäftigt, bekommt einen zeitweiligen Platz und wird dann von etwas Neuem abgelöst."
Eine Lehrplanreform, für Hopmann "primär Ausdruck des Unbehagens der Gesellschaft an der Schule, weniger ein Effekt innerschulischer Prozesse", ist also ein Versuch, lenkend einzugreifen. "Aber es ist natürlich ein Irrglaube, dass man damit unmittelbar regulieren könnte, was in der Schule passiert. Weil die Schulen, die Klassen und die Lehrkräfte viel zu unterschiedlich sind." An den meisten Schulen, meint Hopmann, würden die neuen Lehrpläne nicht allzu viele Folgen haben.
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Mehr Qualität
International hat sich mittlerweile ein anderer Weg durchgesetzt, um die Qualität an den Schulen zu erhöhen. Nicht mehr der Versuch, den Unterricht über standardisierte Leistungsmessungen zu vereinheitlichen - wie er auch in den neuen österreichischen Lehrplänen festgeschrieben werden soll -, sondern, im Gegenteil, mit mehr Autonomie. Die fordert auch Neos-Bildungssprecherin Martina Künsberg Sarre. Ihr Wunschszenario: weg von starren 50-Minuten-Einheiten und künstlich getrennten Fächern, hin z. B. "zu einem mehrmonatigen, fächerübergreifenden Naturwissenschaftsprojekt, an dem jeweils mehrere Stunden gearbeitet wird."
Um aber in der Schule Fähigkeiten wie Kreativität, vernetztes Denken oder Kommunikations-Skills vermitteln zu können, müsste die enge Bindung an standardisierte Leistungsmessungen, wie sie den österreichischen Schulbetrieb seit einigen Jahren dominieren, wieder gelockert werden. "Wenn zum Beispiel alles auf die Zentralmatura ausgerichtet ist", sagt Künsberg Sarre, "schalten alle ab, wenn ein Lehrer einmal etwas anderes durchnimmt. Zumindest zehn Prozent der Unterrichtszeit sollten zur freien Verfügung stehen und etwa für Kontakte zur Arbeitswelt genutzt werden. Die Schulen brauchen viel mehr Autonomie. Man muss den Lehrerinnen und Lehrern zutrauen, dass sie gestalten und entscheiden können." Vorbild: das "sehr flexible" estnische Schulsystem, bei dem der Bund kaum Vorgaben mache.
Leistungsabfall
Auch Hopmann sieht die Idee der Standardisierung, in den neuen Lehrplänen als "Kompetenzorientierung" formuliert, sehr kritisch. "Lehrpläne waren historisch immer als Handlungsrahmen gedacht, den Schulen und Lehrkräfte dann unterschiedlich füllen können. Standardisierung macht aber genau diese Idee kaputt." Am Ende, warnt Hopmann, führten Reformen dieser Art oft zu allgemeinem Leistungsabfall und schlechterer Chancengleichheit. "Es ist wie Pudding an die Wand nageln. Der Pudding wird letztendlich in der Küche gekocht und gegessen. Man kann noch so komplizierte Rezeptbücher mit wunderschönen Bildern verfassen, das ändert alles nichts, wenn die Küche nichts taugt. Man müsste viel mehr dafür sorgen, dass die Schule ihren Aufgaben auch gewachsen ist, da gibt es in Österreich ganz viel zu tun. Ein kompliziertes Kochbuch macht die Schule jedenfalls nicht besser." Zudem die Schulen jetzt -Stichwort Corona oder Krieg -andere Probleme hätten, meint Hopmann, als sich einem "absurden Qualitätsmanagement" zu stellen, das "enormen Druck" auf den Unterricht ausübt.
Für die bevorstehende Lehrplanreform würde das also bedeuten, dass zwar neue, zeitgemäßere Inhalte in den Schulen gelehrt werden, kreativer, flexibler Unterricht aber aufgrund der engen Vorgaben - also der "Kompetenzen", die Kinder erreichen müssen - nicht möglich ist.
"Ihr Gehirn benutzen"
"Kinder im 21. Jahrhundert sollten lernen, was Kinder immer lernen sollten", sagt der Komplexitätsforscher Stefan Thurner. "Dass sie wissen, dass sie ihr Hirn benutzen müssen, um sich kollektiv auf dem Planeten zurechtzufinden, um ihr Leben optimal und frei entwickelt leben zu können, ohne andere in ihren Freiheiten einzuschränken und gleichzeitig den Planeten nicht zu zerstören, um nächste Generationen und anderen lebenden Geschöpfen dieselbe Chance zu geben."
In anderen Worten ausgedrückt, so schmerzhaft das für Außenstehende oft ist: In der Schule werden keine State-ofthe-art-Spezialkompetenzen aus diesem oder jenem Fachbereich vermittelt, sondern "die grundlegenden Modi des Weltverstehens", sagt der Bildungswissenschafter Stefan Hopmann. "Also das, was ich können muss, wenn etwas Neues kommt. Das ist der eigentliche Zweck von Schule. Schule ist kein guter Modernisierer. Schule kann auch keine Probleme lösen, dafür ist sie gar nicht stark genug. Aber was Schule kann, ist, den Leuten die Fähigkeit beizubringen, sich gemeinschaftlich über die Welt zu verständigen."
Über welche Welt sich die Erwachsenen von morgen verständigen werden, das ist also die große Frage, die auch hinter den jahrelangen Reformbemühungen des Ministeriums steht. Klima, Wirtschaft, politische Bildung, klar. Der Autor und Kinderpsychiater Paulus Hochgatterer fordert darüber hinaus ein Fach "Humanities", in dem Konfliktfähigkeit, der Umgang mit Schwächeren und transgenerationale Fragen vermittelt werden sollen. Man muss kein Pessimist sein, um das für eine gute Idee zu halten.
PAULUS HOCHGATTERER - Autor, Kinder- & Jugendpsychiater
"Wie bewahren wir unsere Welt?"
Aus kinderpsychiatrischer Sicht nenne ich drei Bereiche, wo eine neue Gewichtung gesetzt werden sollte. Das eine liegt auf der Hand: Angesichts der Lage der Welt braucht man eine fundierte Umwelterziehung, die möglichst früh beginnen sollte. Die Richtung wäre: Wie bewahren wir unsere Welt? Wie schützen wir unsere Umwelt? Damit ist nicht nur der konventionelle Biologieunterricht gemeint, sondern umwelt-ökologisch orientierter Unterricht. Das muss in der Volksschule beginnen. Der Bezug zur Welt, zur Natur und damit auch zur Notwendigkeit, sie zu schützen, kann nicht früh genug beginnen.
Bewegung und Sport sind wichtig, aber die zweite Änderung betrifft Kunst und Kultur. Es muss eindeutig mehr Platz für Kunst und Kultur im Unterricht sein, schon bei den Jüngsten. Das heißt, mehr Musik, mehr bildnerische Erziehung, und das darf nicht in der Sekundarstufe aufhören. Es schmerzt mich immer, wenn diese Fächer weniger unterrichtet werden, das heißt, es muss während der gesamten Schulzeit einen Unterricht geben, der Kunstvermittlung zum Inhalt hat. Es ist völlig bizarr, dass man sich nach der sechsten Klasse zwischen Musik und bildnerischer Erziehung entscheiden muss. Drittens sollte es ein Fach geben, das im englischen Sprachraum "Humanities" genannt wird. Die Vermittlung von psychosozialer Kompetenz sollte ein Unterrichtsziel werden. Das umfasst Konfliktfähigkeit, Umgang mit Schwächeren, transgenerationale Fragen. Ich hatte Latein ab der dritten Klasse und hab es geliebt. Englisch als Weltsprache sollte ein Schwerpunkt werden, auch andere lebende Fremdsprachen müssen in einem nennenswerten Umfang unterrichtet werden.
LISZ HIRN - Philosophin
"Urteilskraft zu entwickeln, dauert länger"
Es reicht natürlich längst nicht mehr, "nur" schreiben, lesen und rechnen zu können. Aber es ist der Anfang allen Lernens. Da unsere Welt nicht nur in der realen, sondern auch in der virtuellen spielt, wird es essenziell werden, den Umgang mit den sozialen Medien und dem Internet im Allgemeinen zu lernen. Am besten, indem man miteinander in der Klasse übt. Medienkompetenz sagt sich leicht, aber Urteilskraft zu entwickeln, dauert länger als ein paar Semester.
Damit man gut mit-und voneinander lernen kann, muss man wissen, mit wem man es zu tun hat. Hier sollte der Ethikunterricht, nicht nur als Ersatz, sondern hoffentlich auch als Ergänzung zum Religionsunterricht eine wesentliche Rolle spielen. In der Schule bietet sich eine der wenigen Chancen, ganz unterschiedliche junge Menschen -sozial, finanziell, ideologisch - zusammenzubringen und mit ihnen gemeinsam über Unterschiede, aber vor allem über das, was uns alle -im Angesicht von Pandemien, Klimakatastrophe und Krieg -verbindet, zu reflektieren.
CHRISTOPH STEININGER - Infektiologe
"Es fehlt das Erlernen von stärker vernetztem Denken"
Wissen entwickelt sich rasch. Was mir in der Schule fehlt, ist das Erlernen von einem wesentlich stärker vernetzten Denken. Von einem Forscher würde man vielleicht erwarten, dass er sagt, wir brauchen mehr Wissenschaft. Aber die Essenz von Forschung ist es, Zusammenhänge zu erkennen. Das trifft generell auf alle Bereiche des Lebens zu, nicht nur auf Naturwissenschaften, sondern auch auf IT und Wirtschaft.
Wir in Europa müssen außerdem schauen, wo unsere Stärken liegen, um kompetitiv zu bleiben. Denn wir werden nie mit der Intensität der chinesischen Schulen mithalten können. Ich finde es auch gar nicht erstrebenswert, Tag und Nacht zu lernen. Unsere Chance in Europa sehe ich aufgrund unserer Diversität in der Verbindung von Wissen und darin, es zu schaffen, Wissen besser zu vernetzen. In der Schule könnten beispielsweise Biologie und Geschichte zusammen unterrichtet werden oder Physik und Mathematik. Da würden sich viele Zusammenhänge ergeben.
Weiters wäre es wichtig, zu lehren, wie Social Media funktionieren. Sie sind mittlerweile ein wichtiger Faktor zur Informationsbeschaffung. In der Schule sollte vermittelt werden, wie man erkennt, ob diese Informationen tatsächlich stimmen oder nicht.
Generell sollten wir uns die Frage stellen: Wofür brauchen wir Schule? Es sollte mehr sein, als am Ende ein Zertifikat in Händen zu halten, um damit ein weiteres Zertifikat erwerben zu können. Schule soll Kindern das Rüstzeug in die Hand geben, mit Wissen und Können erfolgreich und glücklich zu werden. Viele Lehrer denken ohnehin schon modern, aber der Lehrplan muss dafür den Rahmen schaffen.
SEPP SCHELLHORN - Hotelier und Wirt
"Warum nicht elf Pflichtschuljahre?"
Weil es ja nicht mehr selbstverständlich ist: Lesen, Schreiben und die Grundrechnungsarten muss man in der Schule lernen. Oft wird vernachlässigt, was in den Volksschulen passiert. Aber dort werden die Weichen gestellt. Was es sonst noch braucht: wie funktioniert Wirtschaft, was ist ein Vertrag, etwa für das Handy, und Staatsbürgerkunde. Wie funktioniert eigentlich das System? Man sollte aber nicht nur an den Inhalt des Unterrichts denken, sondern auch: Welche Schule brauchen wir überhaupt?
Ganztagsschulen, zum Beispiel, aber auch Arbeitsplätze für Lehrerinnen und Lehrer, wo sich nicht 20 einen Tisch oder einen Computer teilen müssen. Derzeit heißt es oft: Die Wirtschaft muss angekurbelt werden. Wenn ich durch die Gegend fahre, sehe ich überall Baustellen. Es ist keine einzige für eine neue Schule dabei. Warum haben wir immer noch neun Pflichtschuljahre, wie zu Zeiten Maria Theresias? Wir leben 20 Jahre länger, warum nicht elf Pflichtschuljahre und die mittlere Reife? Dann gäbe es weniger Defizite nach der Schule und die Kinder wären mit 16 besser in der Lage, Entscheidungen über ihr Leben und die weitere Bildung zu treffen. Jetzt entscheiden oft noch die Eltern, was die Kinder wollen. Ich habe Lehrlinge, die während des Studiums umgesattelt haben. Sogar bei denen mangelt es aber oft bei elementaren Dingen. Wir müssen in der Bildung internationaler werden: mehr Fremdsprachen. Bei uns wohnen Flüchtlinge aus der Ukraine, die nach wie vor von dort unterrichtet werden. Da liegen Galaxien dazwischen.
ANDREAS SALCHER - Bildungsexperte und Schulgründer
"Schwimmen lernt man im Wasser, nicht im Physiksaal"
Verfolgt man die zahlreichen Versuche, durch "Lehrplanentrümpelung" Platz für die unbestritten notwendigen neuen Inhalte zu schaffen, dann erscheinen diese trotz aller ambitionierten Bemühungen wenig erfolgreich. Die Forderungen nach neuen Gegenständen wie digitale Kompetenzen, politische Bildung, Financial Literacy oder Ethikunterricht, zu denen aktuell noch der Klimawandel kommt, prallen auf die Verteidigung der Rolle der Schule als Vermittlerin des traditionellen Bildungskanons. Dieser wird in bis zu 21 genau abgetrennten Fächern in 50-Minuten-Einheiten "gelehrt". Die breitenwirksame Transformation von einer lehrseitigen zu einer lernseitigen Pädagogik steht noch am Anfang.
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Andreas Salcher: Das läuft falsch an unseren Schulen
Studien zeigen dagegen eindeutig: Wenn Wissen nur theoretisch erworben wird, dann kann es bestenfalls bei Prüfungen kurzfristig wiedergeben werden, es fehlt aber das tiefere Verständnis und somit die Fähigkeit, es praktisch auf Probleme des Lebens anzuwenden. Einfach gesagt: Schwimmen lernt man im Wasser und nicht im Physiksaal. Die "Belehrungs-Schule", die versucht, maximal viel Wissen in Schüler zu stopfen, ist noch immer dominant. Dabei können weder Lehrkräfte noch Lernende mit Suchmaschinen konkurrieren. Dazu kommt, dass diejenigen Inhalte, die am einfachsten zu unterrichten und zu prüfen sind, leider genau den Fähigkeiten entsprechen, die am schnellsten zu digitalisieren oder in Zukunft durch künstliche Intelligenz (AI) zu ersetzen sind. Es ist viel leichter, Schülerinnen und Schüler die Bodenschätze von Venezuela oder die Pilzarten auswendig lernen zu lassen, als sie dabei zu unterstützen, ein tieferes Verständnis für globale Herausforderungen wie politischen und religiösen Fundamentalismus, Armut, Hunger oder den Klimawandel zu entwickeln.
LILLI HOLLEIN - Direktorin des Museums für angewandte Kunst
"Ein Fach für Kreativität"
Mehr denn je ist klar, dass Kreativität im Denken das Werkzeug ist, um durch Krisen und Umbrüche zu kommen. Das kann man schulen, üben, vermitteln. Im Moment verschwindet das aber eher vom Lehrplan. Damit ist aber nicht nur der künstlerische Unterricht im Sinne von zeichnen und musizieren können gemeint, sondern die grundlegende Fähigkeit in schöpferischem Denken. Die eigene Urteilskraft und Beobachtungsgabe wird durch genaue Betrachtung geschult und durch den Versuch, nachzuvollziehen, wie etwas entstanden ist.
Das halte ich für einen der wichtigen Bildungsbereiche für eine Generation, die keine linearen Ausbildungsverläufe haben wird, sondern sich während ihres Berufslebens immer wieder neu erfinden wird müssen oder sich anhand von eigenen Fähigkeiten sogar eigene Berufsbilder schaffen muss. Deshalb ist ein Fach für Kreativität wichtig. Im Idealfall ergänzt der Unterricht in Musik und bildnerischer Erziehung diese grundsätzliche kreative Schulung. Das könnte auch im weitesten Sinne in Richtung wissenschaftliche Forschung und Design gehen. Man sollte den Dingen auf den Grund gehen und nicht nur Lösungen abfragen, was für alle Lebens-, Berufs-und Wirtschaftszweige interessant ist.
Auch Social Skills sind wichtig, die sind bereits im Fach "KoSo" (Kommunikation und Sozialkompetenz) im Lehrplan verankert. Da geht es um die Förderung des Bewusstseins im Sinne von Verständnis, Inklusion, Kommunikationsfähigkeit und Konfliktlösungsstrategien. Sport sollte nicht unterschätzt werden, Bewegungseinheiten sollten nicht fehlen, aber nicht nur im Sinne von Ertüchtigung, sondern auch, was gemeinsames Erleben betrifft.
KATHARINA ROGENHOFER - Klimaaktivistin und Autorin
"Das Bewusstsein schärfen"
Die Klimabewegung hat gezeigt, dass gerade Kinder und Jugendliche sich sehr für eine Klimawende einsetzen. Die Lehrplanreform ist daher herausgefordert, ihnen nicht nur eine ausreichende Faktengrundlage zu bieten, sondern sie auch zu ermächtigen, unsere Gesellschaft aktiv mitzugestalten. Darum müssen Klimaschutz und Nachhaltigkeit in jedem Fach Platz bekommen, und zwar bereits in der Pflichtschule. Geschichte etwa eignet sich hervorragend, um die politisch produzierten Abhängigkeiten von fossilen Brennstoffen nach der industriellen Revolution zu besprechen, in Physik können die Grundlagen der Klimakrise behandelt und in Deutsch journalistische oder literarische Texte zur Natur-Mensch-Beziehung analysiert werden. Dabei genügt es nicht, auswendig gelernte Daten abzufragen, vielmehr sollte in allen Fächern, durch konkrete Beispiele, das Bewusstsein der Schüler:innen für die Klimakrise und deren Lösungen geschärft werden. Dazu müssen die Unterrichtsmaterialien umfassend überarbeitet werden.
Auch danach ist eine regelmäßige Evaluierung der Inhalte notwendig, da die Klimakrise und Klimapolitik kein statisches Phänomen sind, sondern ständig voranschreiten. Zusätzlich ist es uns vom Klimavolksbegehren besonders wichtig, dass die Schüler:innen durch eigene Projekte in und außerhalb der Schule Wirksamkeit erfahren und auch lernen, wie sie sich aktiv an politischen Prozessen beteiligen können. Wir begrüßen, dass die Lehrplanreform einen Wandel vom lehrstoff-zum kompetenzorientierten Unterricht vorsieht. Für uns bedeutet das, dass die Politiker:innen, Unternehmer:innen, Wähler:innen von morgen das Rüstzeug erhalten, um die richtigen Entscheidungen zu treffen. Die Lehrplanreform wird nur dann erfolgreich sein, wenn Schulabgänger:innen die Sicherheit haben, den Herausforderungen der Klimakrise gewachsen zu sein.
ANDREAS AMBROS-LECHNER, Generalsekretär der MEGA Bildungsstiftung
"In die Zukunftsthemen gehen"
International geht der Trend weg von der reinen Wissensvermittlung - eine Lehrkraft, die vorne steht, und am Tag X wird abgeprüft. Es braucht eine Entrümpelung der Lehrpläne, fokussiert auf die Basiskompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen. Rundherum würde ich dann aber mehr in die Zukunftsthemen gehen. Die Welt und die Gesellschaft ändern sich rasant: Wir brauchen Umweltbildung, Gesundheitsbildung, Wirtschafts-und Finanzbildung, Medienkompetenz. Neben der Stundentafel und dem Fächerkanon braucht es eine strukturelle Änderung, wie wir Lernen organisieren. 50-Minuten-Einheiten sind nicht mehr zeitgemäß und fördern nicht das vernetzte Denken. Die Kinder sollen Selbstorganisation, Verantwortung, Teamplaying, Eigeninitiative oder auch das Einschätzen von Risiken lernen. Ich plädiere für mehr phänomenbasiertes Lernen: also zum Beispiel Themen wie Migration oder Klimawandel in allen Fächern zu behandeln. Dadurch würde sich die traditionelle Fächerstruktur ohnehin ein Stück weit auflösen. Was weg kann? Ich bin gegen eine Debatte, welche Orchideenfächer wegkommen.
STEFAN THURNER, Komplexitätsforscher
"Es geht um das Training des Gehirns"
Kinder im 21. Jahrhundert sollten lernen, was Kinder immer lernen sollten: dass sie wissen, dass sie ihr Hirn benutzen müssen, um sich kollektiv auf dem Planeten zurechtzufinden, um ihr Leben optimal und frei entwickeln zu können, ohne andere in ihren Freiheiten einzuschränken, und gleichzeitig den Planeten dabei nicht zu zerstören, um nächsten Generationen und anderen lebenden Geschöpfen dieselbe Chance zu geben. Es geht um das Training des Gehirns.
Sie müssen lernen, dass das Einzige, was nachhaltig funktioniert, auf Vernunft basiert. Und Vernunft basiert auf der wissenschaftlichen Methode. Das ist vermutlich der beste Beitrag - ever - der europäischen Kultur und sollte erlernt werden. Das beinhaltet Fehlerkultur: Wenn etwas infrage gestellt wird, müssen wir bereit sein, es über Bord zu werfen.
Sie müssen lernen, was das Hirn dazu befähigt: Sprachen, logisches Denken (Mathematik, Schach, Go, Computerspiele, ja -auch Latein), Kunst (Fähigkeit zum Erkennen von Schönem, Wahrem und Gutem). Sie müssen verstehen, warum soziale Marktwirtschaft etwas Erstrebenswertes ist, warum Monopole nicht existieren dürfen, wie demokratische Institutionen funktionieren und wieso diese Freiheit sichern. Sie müssen verstehen, was dem Homo sapiens -und anderen Spezies -guttut und was nicht.
Sie müssen lernen, dass Demokratie der einzige Garant für freies Leben ist. Sie müssen lernen, was Freiheit und Vernunft für wertvolle Güter sind, die es wert sind, sie zu verteidigen. Sie müssen Verteidigungsstrategien lernen.
Dazu müssen sie die Methoden der Feinde der Freiheit lernen: wie Fake News, Medien und Meinungsbildung funktionieren, was die Limitationen der Vernunft des Homo sapiens sind (und wie man sich als Gesellschaft dagegen schützen kann), wie kollektive Entscheidungen manipuliert werden können etc. Sie müssen verstehen lernen, wie Wirtschaft und Finanz funktionieren, was davon gut ist und was gefährlich. Und letztlich müssen sie über die Gefahren der Klimakatastrophe lernen und die Wege, die daraus herausführen -und dass Wissenschaft und Courage der Einzelnen dafür notwendig sind.
Man muss Kinder nicht lehren, wie man Computer oder iPads nutzt -das lernen sie sowieso. Sie müssen vielmehr lernen, wie man kreativ bleibt und wie man Fragen stellt, die eine:n weiterbringen, als Individuum und als Gesellschaft.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 4/2022 erschienen.
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