Die FPÖ läuft immer massiver Sturm gegen den ORF. Die ÖVP verzögert ein notwendiges neues Gesetz zu seiner Gremienbestellung. Für die SPÖ ist das aber auch keine Chefsache. Die einst staatstragenden Parteien haben abgewirtschaftet
Migration und Covid-Maßnahmen sind schon etwas ausgeleiert. Das Land braucht dennoch keine neuen Feindbilder. Gangart-Verschärfung gegen den ORF tut’s auch. Den kennen alle. Zu ihm hat jeder seinen Zustand. Und die FPÖ glaubt, dass ihrer mehrheitsfähig ist. Sie will das öffentlich-rechtliche Medienhaus ohne "Zwangssteuer" zum "Grundfunk" reduzieren. Herbert Kickl verspricht das Ende der Haushaltsabgabe, sobald seine Partei wieder (mit)regiert. Das würde die Verzwergung des ORF zu gesellschaftlicher Bedeutungslosigkeit bedeuten, so wie es Public Broadcasting und Radio in den USA sind. Hochqualitativ, aber insgesamt irrelevant. Eine Liebhaberei. Donald Trump ficht das nicht an.
Der blaue Sturmlauf auf den Küniglberg vollzieht sich parallel zu Susanne Raabs Verteidigungstaktik, sie wolle keinen Schnellschuss für ein ORF-Gesetz. Zur Erinnerung: Der Verfassungsgerichtshof hat Bestimmungen zur Bestellung von Stiftungs- und Publikumsrat aufgehoben und gibt bis 1. April 2025 Zeit zur Neuregelung. Ansonsten bestehen dann die Aufsichtsorgane des Medienriesen aus Gesetzlosen. Raab weiß, dass die Schaffung einer solchen Novelle mindestens ein halbes Jahr braucht. Spätestens ab Mitte 2024 geht aber wegen des Nationalratswahlkampfs nichts mehr. Bei einem Herbsttermin für die Abstimmung kann die nächste Koalition kaum vor Jahresende starten. Ihr blieben höchstens 100 Tage für das neue ORF-Gesetz. Wenn Raab nun bremst, heißt das, die ÖVP will es nicht mehr schaffen.
Diese demokratiepolitische Erbärmlichkeit trifft sich mit zwei Jubiläen zur Hochblüte des ORF: 60 Jahre Rundfunkvolksbegehren und 50 Jahre nach Umwandlung in eine Anstalt öffentlichen Rechts. Ersteres wirkt besonders peinlich für das heutige Selbstverständnis der ÖVP. Denn das erfolgreiche Begehren führte 1966 zum schwarzen Wahlkampfversprechen eines Rundfunkgesetzes. Der Volkspartei gelang dann unter Josef Klaus ihre einzige Alleinregierung, und sie hielt Wort. Als danach die dem Begehren noch skeptisch gegenüber gestandene SPÖ mit Bruno Kreisky solo ans Ruder kam, entstand 1974 jenes Rundfunkgesetz, an dessen Folgen wohl sogar die nächste Regierung 2025 noch kauen wird.
Nach sieben Jahren unter einem Aufsichtsrat mit 22 Sitzen folgte damals das ORF-Kuratorium als Kontrollorgan. Es bestand z. B. 1994, also vor 30 Jahren, u. a. aus Norbert Darabos, Michael Häupl, Hilmar Kabas, Helmut Kukacka, Franz Schausberger, Peter Schieder, Ernst Strasser und - damals schon! - Pius Strobl. Ein Who’s who vor allem der SPÖ- und ÖVP-Parteikader. Zumindest das wurde mit der Reform 2001 zum ebenfalls 35-köpfigen Stiftungsrat unter Wolfgang Schüssel und Schwarzblau abgeschafft. Die Stiftungsräte dürfen heute keine Mandatare oder leitenden Funktionäre sein. Doch ihre Besteller sind nach wie vor vor allem Regierung, Parteien und Länder. Eine neue Bundeskoalition kann den Großteil von ihnen vorzeitig abberufen. Auch das zählt zu den Punkten, die nun endlich verfassungswidrig sind.
Die FPÖ - und da gibt es keinen Unterschied zwischen der Partei und ihrem Chef Herbert Kickl, wie die ÖVP ihn gern herbeifantasiert - hält sich mit solchen Gremienfragen erst gar nicht auf. Das ist ihr zu kompliziert. Sie weiß, dass ihre Zielgruppen in Bezug auf den ORF viel einfacher ticken: weg damit! Die ÖVP fürchtet, ihre Interessen gegen den grünen Partner nicht durchzusetzen, und spielt auf Zeit - also die nächste Regierung, der sie wieder angehören will. Per Doppelspekulation: Falls mit der SPÖ, wird man sich den ORF schon wieder aufteilen, falls mit der FPÖ, wird er ohnehin versenkt. Die Grünen sind mit Mediensprecherin Eva Blimlinger lediglich ein Blockadefaktor, die Neos mit Henrike Brandstötter zwar kritisch-konstruktiv, aber vollkommen machtlos. Bleibt die SPÖ, die sich vor dem Schuss des aufgelegten Elfmeters so fürchtet, dass sie ihre Mediensprecherin Muna Duzdar fordern lässt: "Rasche Gremienreform für mehr politische Unabhängigkeit." Das wirkt noch leichtgewichtiger als der Einsatz von Susanne Raab und signalisiert der ÖVP: Auch für die Sozialdemokratie ist das keine Chefsache.
Umso mehr wird es eine blaue Chefsache. Herbert Kickl darf sich jetzt schon ins Fäustchen lachen: ein populäres Thema ohne echte Gegner, die lieber versuchen, es totzuschweigen. Das kann angesichts der FPÖ-Medienmacht via Facebook und YouTube kaum gelingen. Beide einst staatstragenden Parteien leisten einen Offenbarungseid, wenn sie sich scheuen, mit voller Kraft für die demokratiepolitische Notwendigkeit eines möglichst unabhängigen öffentlich-rechtlichen Medienhauses einzutreten.