"Ich bin schockiert", sagt Sophie Zeiler-Mahrous und runzelt empört ihre Stirn. In elegantem Rock kombiniert mit trachtig anmutender Weste betritt sie das moderne KulturQuartier in der Innenstadt Leobens, in der an diesem sonnigen Freitag im September reges Treiben herrscht.
Zeiler-Mahrous lebt seit knapp zehn Jahren hier, sie ist Mitgründerin des Frauennetzwerks "Iron Women - Frauen an der Eisenstraße" und ihr Unverständnis bezieht sich darauf, wie Leoben von außen wahrgenommen wird. "Dass man denkt, wir wären nicht am Puls der Zeit, dabei hat man so viel bei uns", schüttelt die Mitarbeiterin der Montanuniversität verständnislos den Kopf.
"Leoben hat leider vielfach immer noch das Image der verschmutzten Niedergangsregion", weiß Gerfried Tiffner vom Verein Steirische Eisenstraße, der sich seit langem mit der Entwicklung der Region beschäftigt. Diese stieg einst aufgrund ihres Erz-Vorkommens zu einer der wichtigsten Bergbau- und Industrieregionen des Landes auf, bis sie von der Wirtschaftskrise der 1970er-Jahre hart getroffen wurde: Teile der Industrie wanderten ab, Jobs gingen verloren, die Menschen zogen weg. Eisenerz, die Stadt direkt am Erzberg, schrumpfte über die Jahre von 13.000 auf 3.500 Einwohner:innen und dient oft als Paradebeispiel für Abwanderung. Leoben mit einst fast 38.000 Einwohnern und Einwohnerinnen hat sich bei rund 25.000 Menschen eingependelt. Immer noch weg ziehen vorwiegend gut ausgebildete junge Menschen – insbesondere Frauen.
Es ist dieses Bild des Niedergangs, das bis heute mit der Region assoziiert wird. Aber entspricht es 2023 noch der Realität?
Neue Arbeitsplätze in der Industrie, keine Jobs am Land
35 Kilometer westlich der Stadt Leoben, im Liesingtal, liegt Kalwang, eine klassische Peripheriegemeinde des Bezirks mit knapp über Tausend Einwohnern und Einwohnerinnen. Hier lebt die selbständige Grafikdesignerin und ebenfalls Frauennetzwerkerin Simone Maurer-Jobst. Die Selbständigkeit ermögliche es ihr, am Land zu leben und zu arbeiten, erklärt die dreifache Mutter. Denn Arbeitsplätze am Land seien "nicht wirklich existent".
Im Gegensatz zum städtischen Umfeld: "Hier suchen viele Firmen händeringend nach Arbeitskräften", erzählt Zeiler-Mahrous. Aufgrund der beachtlichen 'Reindustrialisierung' der letzten 20 Jahre wurden in Leoben allein in den letzten zwei Jahren 2000 neue Arbeitsplätze im industriellen Umfeld geschaffen. "Sogar der Bergbau am Erzberg brummt wieder", erklärt Gerfried Tiffner. Allerdings werden die gleichen Mengen wie in den 1950er-Jahren von weniger als einem Zehntel der Arbeiter:innern abgebaut.
Das Problem: Die vorhandenen Arbeitsplätze sprechen hauptsächlich Männer an. "Junge Frauen, die Interesse haben, sind oft noch in Ausbildung und ältere haben die Ausbildung nicht", erklärt Maurer-Jobst, warum viele Frauen, trotz vorhandener Arbeitsplätze keinen Job finden.
Frauen stärker an Industrie andocken
Ein EU-Projekt soll sich künftig damit beschäftigen: "Wir glauben, dass das Arbeitsmarktpotenzial der Frauen in der Region nicht restlos ausgeschöpft ist und wir auch zugezogene Frauen aus dem Migrationskontext hier noch stärker andocken müssen", so Projektkoordinator Tiffner. Er verantwortet auch das EU-Förderprogramm LEADER, das Mittel zur Regionalentwicklung zur Verfügung stellt. Die Strategie für Leoben: "Statt wie bisher Abwanderung zu verhindern, müssen Rückwanderung und Zuwanderung unterstützt werden." Dabei gehe es "nicht mehr bloß darum, einen Arbeitsplatz, sondern Lösungen für das Leben der Menschen anzubieten".
Wie offen ist Leoben?
Auch Sophie Zeiler-Mahrous ist zugewandert: Private Gründe führten sie im Jahr 2014 in die Region. Inzwischen fühlt sich die zweifache Mutter ganz und gar als Leobnerin. "Manchmal bin ich sogar erstaunt, wenn mir einfällt, dass ich gar nicht von hier bin", lacht sie.
Dabei sei die Gegend "schon sehr … speziell", drückt es die Einheimische Susanne Leitner-Böchzelt diplomatisch aus. Sie ist die Leiterin des KulturQuartiers und ebenfalls Teil des "Iron Women"-Netzwerks. In der Industrieregion werde man ohne technischen Beruf nicht unbedingt mit offenen Armen empfangen – und im dörflichen Umland präge meist eine traditionell alt eingesessene Bauernschaft die Orte, führt sie aus. "Wenn man in ein Dorf zieht, braucht man circa zehn Jahre, um als Einheimische akzeptiert zu werden", ergänzt Maurer-Jobst.
Rolle der Vereine in der Regionalentwicklung
Was Zeiler-Mahrous einst das Ankommen unter anderem erleichtert hat, war ein Engagement in einem Verein. Bei der "Plattform Integrationshilfe Leoben" habe sie viele Frauen kennengelernt, viele davon tief in der Region verwurzelt: "Das hat nicht nur den Menschen mit Fluchthintergrund bei der Integration geholfen, sondern auch mir selbst."
"Vereine leisten einen bedeutenden Beitrag zum Aufbau von Freundschaft und sozialen Netzwerken - und damit zur Bindung [von Mädchen und jungen Frauen] an die Region", belegt die SORA-Studie "Frau wos wüst?" Zeiler-Mahrous' Erfahrungen.
Frauen helfen Frauen und gestalten mit
So wichtig Vereine aber sind – so männerlastig sind sie oft. Genau hier setzt das Frauennetzwerk an: Die"Iron Women – Frauen an der Eisenstraße" wollen Frauen diese wichtigen Anker bieten.
Dabei sind die Aktionen der "Iron Women" so vielseitig wie die Frauen selbst; von Netzwerktreffen und Stammtischen für Zugezogene über Workshops und Ausstellungen bis zu Frauenspaziergängen reichen die Initiativen. Frauen, egal ob daheim geblieben oder zuzogen, sollen sich austauschen, vernetzen und unterstützen; sie sollen Anschluss finden und Fuß fassen – und sie sollen die Region gemeinsam gestalten.
Der Enthusiasmus ist den drei Gründungsfrauen anzumerken. Es sei ein großes Glück, dadurch so tolle Frauen, "Sinnesgleiche", kennengelernt zu haben. Man möchte es nicht mehr missen, ist man sich einig. Dabei ragt der Benefit über das bloße Glück neuer Freundschaften hinaus: "Es ist auch ein berufliches Netzwerk. Wenn man etwas braucht, schaut man sich hier um: Wer kann was? Man zapft sich quasi gegenseitig an", schildert Maurer-Jobst etwas, das sonst vor allem Männer beherrschen. In weiterer Folge hilft dies wiederum, die Sichtbarkeit der Frauen in der Region zu erhöhen.
Ihr wertvoller Einsatz blieb nicht unbemerkt: Jüngst wurden die "Iron Women" vom Land Steiermark für die "Verdienste um die Stärkung von Frauen und die Schaffung von Lebensräumen" ausgezeichnet.
Leoben aus der Sicht der Jungen
Der Weg vom KulturQuartier entlang der Mur führt uns an diesem Freitag auch zum Bahnhof Leoben. Dort warten einige Jugendliche nach Schulschluss auf Busse oder Züge. Darunter auch drei etwa 14-jährige Mädchen. Ob sie einmal in Leoben bleiben werden? "Nicht unbedingt", erzählen sie auf der Busfahrt. Nach der Matura möchten sie "vermutlich nach Graz. Wegen der Möglichkeiten und der Ausbildung". Auch der ältere Nachwuchs der drei "Iron Women" lebt inzwischen in Graz und Wien. Es ist der klassische Weg von Maturanten und Maturantinnen hier.
Dabei hat Leoben mit der Montanuniversität sogar eine Hochschule. (Mit einem stark steigenden Anteil an weiblichen Studierenden – bereits 36,1 Prozent aller Erstinskribierenden waren 2021/22 weiblich.) Das Studienangebot kann naturgemäß nicht alle Interessensgebiete abdecken, aber es braucht ohnehin mehr, um junge Menschen zu halten – etwa eine lebendige (Jugend-)kultur-Szene.
Die drei Mädchen steigen an diesem Tag zehn Kilometer weiter in der Gemeinde St. Michael aus dem Bus. Sie wollen zum "Kirtag", einem traditionellen Volksfest mit Partei-Ständen, Bier, Lederhosen und Lebkuchen-Herzen. Nicht der einzige Kirtag der Woche im Bezirk.
Abseits solch traditioneller Veranstaltungen habe die Region allerdings relativ wenig zu bieten, finden sowohl Tiffner als auch die "Iron Women". Auch das junge, studentische Umfeld setze kaum Akzente und bleibe tendenziell eher unter sich. Alternative Events wie etwa das innovative Rostfest in Eisenerz, das österreichweit Anklang findet oder die "Iron Road for Children" bleiben eher vereinzelte Leuchtturmprojekte.
Kinderbetreuung und die Rolle der Bürgermeister:innen
Neben diesen sogenannten "weichen Standortfaktoren" für ein attraktives Lebensumfeld, braucht es auch "harte Faktoren" wie Mobilität oder Kinderbetreuung, um einen runden Mix für ein modernes Leben zu schaffen. Letztere liegen meist im Verantwortungsbereich der Gemeinden. Das heißt, Bürgermeister und Bürgermeisterinnen (es gibt eine Bürgermeisterin und eine Vize-Bürgermeisterin im Bezirk) sind hier gefragt.
Hier fällt oft der Name Mario Abl. Abl ist Bürgermeister der 11.000-Einwohner:innen-Stadt Trofaiach, etwa neun Kilometer nordwestlich von Leoben. Trofaiach, einst das "Wohnzimmer der Voest-Mitarbeiter", wird heute als Vorzeigeprojekt der Orts(kern)-Wiederbelebung durch internationale Medien gereicht. Ein Aspekt, der in diesem Prozess forciert wurde: Ein dichtes Kinderbetreuungs- und Bildungsangebot. "Darauf schauen vor allem die Frauen und die entscheiden in Wahrheit, ob die Familie herzieht oder nicht", wusste Abl schon 2018, als er sich dazu in der Wiener Stadtzeitung "Falter"äußerte.
Inzwischen wisse jede;r Bürgermeister:in, dass Kinderbetreuungsplätze ein Muss sind, um (junge) Frauen und damit Familien zu halten, glaubt Maurer-Jobst. Kalwang habe zum Glück eine gute Kinderbetreuung – auch nachmittags. Ihre Netzwerk-Kollegin Susanne Leitner-Böchzelt lebt im Nachbardorf Mautern und konnte einst ihre Funktion als Leiterin des Museums und der Kunsthalle Leoben – kein 9-to-5-Job – nur dank ihres Netzwerks, Großeltern und einem Ehemann, der vor fast 30 Jahren wohl als erster Mann im Dorf in Karenz ging, ausüben. Dabei sind gerade Frauen wie sie als weibliche Rollenvorbilder im engen Umkreis immens wichtig und können viel bewirken. Gibt es aber kein derartiges Netzwerk, steht und fällt für Frauen meist alles mit der Kinderbetreuung.
Dennoch wollen sich die "Iron Woman" das Thema nicht allzu groß an die Fahnen heften: "Kinderbetreuung ist kein Frauen- sondern ein Gesellschaftsthema. Da sollen sich auch die Männer drum kümmern!", gibt sich Zeiler-Mahrous kämpferisch.
Vordernberg: Prämien für Zuziehende
Gekämpft wird auch in Vordernberg, einer Gemeinde mit extremer Abwanderung und Überalterung; 2015 musste die Volksschule schließen, 2023 öffnete ein Seniorenzentrum. Bürgermeister Walter Hubner (SPÖ) versucht mit "einzelnen Mosaiksteinchen" der Entwicklung entgegenzuwirken: Der Nahversorger wird als Verein erhalten, Zuziehenden winkt eine Prämie von 500 Euro und durch Subventionen wird zumindest eine stündliche Öffi-Anbindung ermöglicht.
Zukunftshoffnung Tourismus
Zukunftshoffnung für seinen Ort und die Region sieht Hubner aber dennoch – und zwar im Tourismus. "Es gibt wunderbar unverbaute Naturräume, Seen, Berge ... es ist alles da, was das Herz begehrt – und das nicht so kommerzialisiert wie etwa in Tirol oder Salzburg", sieht auch Regionalentwickler Tiffner das Potenzial. Dass sich dieses aber noch nicht richtig entfalten konnte, liegt neben fehlenden modernen Unterkünften wiederum im negativen Image der "Altindustrieregion Mur-Mürzfurche", wurde etwa im Rahmen eines Konzepts der Region als Klimamodellregion festgestellt.
Hier ist es also wieder, das Image, dem "Iron Woman" Zeiler-Mahrous so entschieden entgegentritt: Mit Stolz repräsentiert sie ihre Wahlheimat – nicht nur optisch auf ihrer Handtasche, die das Bergbau-Symbol Schlägel und Eisen ziert: "Wenn ich in Wien bin, sage ich schon, dass der steirische Brotlaib [Bezeichnung für den Erzberg]erheblich zum Wohlstand der Habsburger-Monarchie beigetragen hat und die Gebäude, auf die sie so stolz sind, davon mitfinanziert wurden." Zeiler-Mahrous vermittelt ihre spürbare Begeisterung von der Region auch als Fremdenführerin.
Die großen Potenziale der Region Leoben
Für Besucher:innen als auch Einheimische ist Leobens vorteilhafte Lage und gute Anbindung ein großer Vorteil: Mit dem Zug ist Graz in weniger als einer Stunde, Wien in weniger als zwei Stunden und Linz in zweieinhalb Stunden direkt erreichbar.
Und auch der Rest der Welt ist heute nur wenige Klicks entfernt. Damit birgt eine Möglichkeit, die es vor 20 Jahren so noch nicht gab, das vielleicht größte Potenzial gerade für die ländlichen Gebiete: Die Möglichkeit des ortsunabhängigen Arbeitens dank der Digitalisierung. "Remote Working ist die größte Chance überhaupt – und für Frauen ganz speziell, weil wir haben nichts zu verlieren", so Maurer-Jobst. Die Vorteile des Landlebens – Stichwort Lebensqualität sowie leistbarer Wohnraum – lassen sich dadurch mit einer Erwerbstätigkeit an einem Ort, wo es keine Jobs gibt, vereinbaren. Seit Corona ist das auch zunehmend Realität.
Und dass das Landleben auch aufgrund der Klimakrise immer gefragter wird, merkt man etwa in Vordernberg bereits: "Personen aus Städten kaufen bei uns Häuser oder Wohnungen, weil es dort im Sommer aufgrund der Hitze unerträglich ist", so Bürgermeister Hubner.
Die Chancen und Potenziale der Region, sie sind also da, findet auch Simone Maurer-Jobst und lacht: "Sonst wären wir eh schon alle weg." Zustimmend nicken auch ihre beiden Mitstreiterinnen, bevor sie kurz darauf ins lebendige Treiben Leobens entschwinden.
Transparenzhinweis: Dieser Bericht entstand im Rahmen eines Workshops des forum journalismus und medien wien (fjum). Teil davon war eine Reise nach Brüssel, die vom Europäischen Ausschuss der Regionen finanziert wurde.