Was, wenn wir den Großteil dessen, was uns widerfährt, steuern könnten? Wenn das, was wir Schicksal nennen, eine reine Erfindung des Menschen wäre?
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In seinem neuen Buch "Die Anatomie des Schicksals" nimmt sich der renommierte Gynäkologe und Reproduktionsmediziner Prof. DDr. Johannes Huber der Frage des menschlichen Schicksals an. Inwieweit bestimmt das Leben unserer Vorfahren unser eigenes? Und wie können wir dem vermeintlichen Schicksal einen Strich durch die Rechnung machen?
Herr Professor Huber, wie definieren Sie Schicksal?
Schicksal sind Ereignisse, die früher als unabwendbar galten, die wir aber heute durch die Wissenschaft ebenso wie durch das Wissen darüber, wie man sein persönliches Leben gestalten kann, immer mehr in den Griff bekommen. Ein Beispiel: der Herzinfarkt - früher schicksalshaft. Oder der Schlaganfall. Da steckt das Schicksalshafte, der Schlag, ja schon im Begriff. Heute wissen wir, dass wir vorbeugen können.
Gibt es dann das, was wir gemeinhin unter Schicksal verstehen, überhaupt noch?
Es gibt natürlich Schicksalsschläge, die unabwendbar sind. Vieles ist aber abwendbar. Nehmen wir die Semmelweißklinik. Vor mehr als hundert Jahren war es noch schicksalshaft, wo man entbunden hat. An geraden Tagen kam man auf die eine Klinik, an ungeraden Tagen auf die andere. Auf der einen war eine völlig normale Geburt möglich. Auf der anderen herrschte das Kindbettfieber. Das war katastrophal. Viele Frauen starben. Dieses Schicksal hat man bezwungen.
Sie schreiben: "Wir nennen es weiter Schicksal, aber wir kennen seine Anatomie." Was ist die Anatomie des Schicksals? Woraus setzt es sich zusammen?
Die Wissenschaft macht immer deutlicher, dass das sogenannte Schicksal mit gewissen Dingen, wie etwa der Epigenetik und der MicroRNA, verbunden ist. Dass wir ein Abbild dessen sind, was uns begegnet, was wir machen. All das speichern wir in unserem Genom und so geben wir es an die nächsten Generationen weiter. Damit lässt sich sicher nicht alles, aber vieles von dem erklären, was landläufig als Schicksal bezeichnet wurde.
Unser Schicksal ist also ständig im Wandel?
Unser Genom entsteht ja bei der Vereinigung von Ei und Samenzelle. Da dachte man früher: Das ist jetzt fertig, da kann sich nichts mehr verändern. Und so geht der Mensch, determiniert von seinen Genen, durchs Leben. Heute weiß man, dass dieses Genom im Laufe des Lebens Färbebäder bekommt.
Worum handelt es sich bei diesen Färbebädern?
Das eine Färbebad ist die Epigenetik. Die kennen wir ja schon länger und von Jahr zu Jahr besser. Das zweite Färbebad ist die MicroRNA. Hierbei handelt es sich um kleine RNA-Stücke, die bei vitalen Abläufen wie beim Sport oder aber auch beim Fasten abgelesen werden. Beide Färbebäder verändern die Architektur ebenso wie die Funktionsweise der Gene. Auf diese Weise können wir Erlebtes in unserem Genom speichern und an die nächste Generation weitergeben.
Die Gene selbst spielen also nicht so eine bedeutende Rolle, wie man lange dachte?
Natürlich sind die Gene wichtig. Aber sie sind nur die Hardware. Es ist die Software, die für ihre Funktionsfähigkeit sorgt. Und die Software ist die MicroRNA und die Epigenetik. Im Grunde handelt es sich hier um Adaptionsmechanismen, die es uns ermöglichen, dass wir uns in kürzester Zeit an unsere Umgebung anpassen kann. Das wäre mit der DNA ja nicht möglich. Die kann nur durch Mutationen geändert werden, was vielleicht alle tausend Jahre einmal passiert. Während epigenetische Prozesse und die MicroRNA eine schnelle Anpassung erlauben.
Wie schnell kann das gehen?
Innerhalb von Tagen. Man hat einen Eindruck, und sofort wird er epigenetisch gespeichert. Das kommt vor allem in der Schwangerschaft zum Tragen. Die Schwangerschaft ist jener Lebenszeitraum, während dem die Mutter die Gene des Kindes, die ja schon geformt sind, noch einmal färbt und verändert. Das Kind erlebt praktisch alles mit, was die Mutter in diesen neun Monaten erlebt. Die Mutter speichert ihre Erfahrungen im Kind. Und das ist auch gut so. Weil das Kind dadurch schon auf die Umgebung vorbereitet ist, in die es hineingeboren wird. Eigentlich ein Wunderwerk der Evolution.
Alles, was wir erleben, wird also abgespeichert und an unsere Nachkommen weitergegeben. Was bedeutet das für uns?
Einerseits zeigt es uns, dass wir achtsam und gezielt durchs Leben gehen müssen. Andererseits führt es uns vor Augen, welchen Einfluss unsere Umwelt auf uns hat. Ein Beispiel: Über die beschriebenen Mechanismen stellt sich unser Immunsystem auf Belastungen ein, die es bisher nicht kannte, wie zum Beispiel Feinstaub. Die Luft, die wir heute atmen, ist nicht mehr die Luft, die wir vor hundert Jahren geatmet haben. Weil sie so viele Partikel enthält. Das Immunsystem kennt sie nicht und reagiert überschießend. Das hat zwei Folgen. Die eine ist, so zumindest die Annahme, die rasante Zunahme von Immunerkrankungen wie Diabetes oder Schilddrüsenerkrankungen.
Und die andere?
Die Immunfaktoren kommen nicht nur auf der Haut und in der Lunge zum Tragen, sondern auch im Gehirn. Dort bewirken sie, dass sich unsere Psyche ändert. Möglicherweise lässt sich dadurch auch erklären, warum Menschen, die in Großstädten leben, viel häufiger an Depressionen erkranken.
In Ihrem Buch gehen Sie noch einen Schritt weiter und sprechen von einer "mentalen Allergie".
Das ist wissenschaftlich zwar noch nicht bewiesen, aber möglicherweise wird durch die Umweltbelastung auch die Aggressionsbereitschaft gesteigert. Schauen Sie sich nur die Hasspostings im letzten Wahlkampf an. Dabei geht es den Österreichern doch so gut. Natürlich kann man immer etwas verbessern. Aber wir haben Zugang zum Gesundheitssystem und ein gesichertes Sozialsystem. Eigentlich müssten wir das friedlichste Volk sein. Aber genau das Gegenteil ist der Fall.
Beim Lesen Ihres Buches bekommt man den Eindruck, der Mensch könne alles lenken, wenn er nur die richtigen Hebel bewegt. Sind uns überhaupt noch Grenzen gesetzt?
Vor hundert Jahren hätte man nicht gedacht, dass man die Leber oder die Niere eines anderen Menschen bekommen und mit ihr noch viele Jahre weiterleben kann. Das war damals nicht vorstellbar. So gesehen kommen sicher noch Dinge auf uns zu, die gewaltig sind. Dinge, über die zu reden fast noch verboten ist. Die Frage ist, ob der Mensch das alles mit seiner Ethik handeln kann. Oder ob nicht auch wieder eine Entwicklung in der Ethik notwendig sein wird.
Was ist es denn, das da auf uns zukommen könnte?
Ich bin ja eher ein Optimist. Zwei Jahre vor seinem Tod durfte ich noch eine Korrespondenz mit Sir Karl Popper führen. Er hat sich mit der offenen Gesellschaft befasst. Die kann sich zum Guten und zum Schlechten wenden. Popper hat die Auffassung vertreten, dass sie sich wahrscheinlich zum Guten wenden wird. So glaube auch ich, dass in der Biologie wahrscheinlich das Gute überwiegt. Aber mit hundertprozentiger Sicherheit kann man das natürlich nicht sagen. Es wird sich weisen, ob es ein Homo sapiens sapiens oder ein Homo sapiens brutalis wird.
Die Grenzen des Möglichen werden sich also weiter verschieben. Und wo stehen wir heute? Wo stoßen wir derzeit an unsere Grenzen?
Die kosmischen Ereignisse sind für uns momentan nicht beeinflussbar. Also ob uns ein Meteor trifft oder nicht. Ob uns das gleiche Schicksal droht wie den Dinosauriern vor 60 Millionen Jahren. Aber die Kohlenwasserstoffchemie, in der wir leben, die können wir beeinflussen. Das Leben hier auf der Erde ist eine Rechenaufgabe. Und diese Rechenaufgabe beinhaltet die Lösung von Krankheiten. In Silicon Valley wollen sie sogar den Tod abschaffen (lacht).Das Universum, in das wir eingebettet sind, das ist schicksalshaft. Aber die Rechenaufgabe unseres Lebens, die ist wahrscheinlich sehr weit lösbar.
Sie schreiben "Wissen ist die Macht, einzugreifen". Welche Gefahren bringt dieses Wissen mit sich?
Angenommen, eine kleine Schar von Menschen kann die Rechenaufgabe des Lebens plötzlich lösen - da besteht dann natürlich die Gefahr, dass ein Neofeudalismus entsteht. Früher waren es die Feudalherren, die über alles verfügt haben. Über Boden, Geld, Waffen, Nahrung und Frauen. Heute besteht die große Gefahr, dass eine kleine Gruppe von Menschen auf unserem Planeten die künstliche Intelligenz verwaltet, die für das Leben von allen Menschen entscheidend ist.
An welcher Stelle sollten wir damit aufhören, in unser Schicksal einzugreifen?
Die Frage ist berechtigt. Jedoch: Solange der Mensch etwas erforschen kann, wird er es auch tun. Wenn Europa noch eine Strahlkraft hat, dann auch deswegen, weil es in der Ethikdiskussion durchzusetzen versucht, was Europa eigentlich zu Europa macht. Nämlich die goldene Regel "Was du nicht willst, das man dir tut, das füg' auch keinem anderen zu". Oder: "Wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die linke hin". Das heißt nicht, dass man es genauso machen muss. Aber dass man alles vergelten muss, immer nur den eigenen Vorteil sucht und letzten Endes über Leichen geht - das entspricht nicht dem alteuropäischen Denken. Wir werden sehen, ob Europa seine Tradition in der globalen Diskussion einbringen kann. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob die Leute, die in Brüssel sitzen, das alteuropäische Ethikerbe kennen.
Vom Globalen zurück zum Individuum: Sie beschreiben, wie Eltern ihr Kind formen - großteils ohne bewusstes Zutun. Indem sie sind, wie sie sind, und tun, was sie tun. Wie sollten sich Eltern verhalten, um dem Kind "das beste Schicksal" zu bescheren?
Sie müssen ein gesundes Leben führen. Sie müssen sich gesund ernähren und ausreichend bewegen. Und zwar schon vor der Zeugung. Es ist zum Beispiel erwiesen, dass Bewegung den Erwachsenen vor Alzheimer-Demenz schützt. Sie bewirkt aber auch beim Kind etwas. Kinder, deren Eltern sich vor der Zeugung genügend bewegt haben, haben später einmal ein geringeres Risiko, an metabolischen Erkrankungen wie Diabetes zu leiden. Dieser Schutz wird von den Eltern über die MicroRNA ans Kind weitergegeben.
Das heißt also, man sollte versuchen, sein Leben so positiv wie möglich zu gestalten.
Genau! Um letzten Endes auch das Kind positiv zu beeinflussen. In Amerika hat dieser Ansatz bereits zu einer eigenen Bewegung geführt: der preconception care. Also der Erziehung der Kinder, noch bevor sie überhaupt gezeugt sind. Durch die Art und Weise, wie man seine Denk- und Verhaltensweisen gestaltet.
Gerade in den letzten Jahren hat die Wissenschaft auf diesem Gebiet viele neue Erkenntnisse gebracht. Welche Rätsel gibt es denn noch zu lösen?
Welchen Einfluss die Psyche der Eltern auf das Kind hat. Warum manche Kinder als kleine Sonnenscheine zur Welt kommen und andere von Anfang an in sich gekehrt sind. Das ist bislang nur eine Hypothese, aber es ist anzunehmen, dass auch die mentale Situation der Eltern Spuren im Kind hinterlässt. Wir können das Mensch-Sein zwar noch nicht zur Gänze erklären, aber es ist damit zu rechnen, dass sich das Verständnis vom Menschen durch all diese Erkenntnisse völlig verändern wird.
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Steckbrief
Univ-Prof. DDr. Johannes Huber
Prof. DDr. Johannes Huber studierte Theologie und Medizin. Von 1992 bis 2011 war er Leiter der klinischen Abteilung für gynäkologische Endokrinologie im Wiener Allgemeinen Krankenhaus. Er ist in Wien und München als Arzt tätig, seine Vorträge machten ihn im gesamten deutschsprachigen Raum bekannt.