Während andere sich bei schimpfenden, fluchenden Mitmenschen empört die Ohren zuhalten, hört Martin Reisigl bei Kraftausdrücken ganz genau hin. Reisigl ist Forscher am Institut für Sprachwissenschaft der Universität Wien und widmet sich seit vielen Jahren der Wissenschaft vom Fluchen und Schimpfen: der Malediktologie, die im Lichte jüngster "Gsindl"-Erregungen womöglich die Wissenschaft der Stunde ist.
Der Begriff, der de facto in keinem gängigen Lexikon der Sprachwissenschaft zu finden ist, wurde von dem aus Bayern stammenden und in die USA emigrierten Schimpfwortforscher Reinhold Aman geprägt. Aman veröffentlichte 1973 sein "Bayrisch-Österreichisches Schimpfwörterbuch" und war zudem von 1977 bis 2005 Herausgeber der Zeitschrift "Maledicta: The International Journal of Verbal Aggression".
Ein Werk, für dessen Lektüre Reisigl weite Strecken auf sich nahm: "Wegen dieser Zeitschrift habe ich als Student in den 1990er-Jahren mit dem Zug einen Tagesausflug nach Passau gemacht, um etliche Jahrgänge der Zeitschrift in der dortigen Universitätsbibliothek zu kopieren. Die Zeitschrift konnte ich in keiner Wiener Bibliothek finden", erinnert sich Reisigl.
Die meisten Artikel, die sich damals mit Fluch- und Schimpfwörtern befassten, brachten den Gebrauch von Kraftausdrücken vorschnell in Verbindung mit Aggressionen. Ein Vorurteil, mit dem Reisigl aufräumen wollte.
Schimpfen und Fluchen
"Grundsätzlich gilt es, begriffl ich zu unterscheiden zwischen Fluchen und Verfluchen und Schimpfen und Beschimpfen", erklärt der Sprachforscher. "Das Verfluchen ist ein Sonderfall des Fluchens. Es kann magisch oder religiös motiviert sein."
Ähnlich stellt das Beschimpfen deshalb eine Sonderform des Schimpfens dar, so der Forscher, das sich gegen andere Menschen oder auch gegen religiöse Instanzen richtet, die auf beleidigende und abwertende Weise mit Schimpfnamen bedacht werden. "Das Schimpfen richtet sich aber nicht immer als gerichteter Zuruf gegen andere, sondern kann auch nur die Funktion erfüllen, einen intensiven inneren Gefühls- oder Bewusstseinsprozess unmittelbar zum Ausdruck zu bringen."
Stereotype. Fluchen wird bei Männern gesellschaftlich oft eher akzeptiert als bei Frauen. Studien zeigen allerdings: Frauen fluchen anders, aber nicht weniger.
67 freiwillige Studenten nahmen am Experiment des Forschers Richard Stephens teil. Sein "Ice-Bucket-Test" zeigte erstaunliche Zusammenhänge über Schmerztoleranz und Fluchen.
Fluchen und Schimpfen ist also ganz schön komplex und sagt viel über unsere Herkunft und unseren Gefühlszustand aus. Aus diesem Grund bezieht Reisigl auch psychologische, soziologische, anthropologische, religionswissenschaftliche, kulturgeschichtliche, juristische und sogar psychoanalytische Aspekte in seine Forschungen mit ein.
Fluchen und Leiden(schaft)
"Für das Fluchen gibt es viele Gründe und Motive", erklärt der Forscher. Einerseits spielt natürlich die Erziehung eine Rolle. "Wie Erziehungsinstanzen, die Gruppe der Gleichaltrigen und andere soziale Gruppen, in denen ich mich bewege, mit dem Fluchen und Schimpfen umgehen, prägt meine eigene Haltung und meinen Habitus stark mit."
Aber auch die Persönlichkeit jedes Einzelnen entscheidet, ob und wie wir fluchen. "Manche reagieren auf ein alltägliches Missgeschick mit einem Wutausbruch und einer Fluchlitanei, andere versuchen, ruhig zu bleiben und das Malheur weitgehend gelassen zu beseitigen." Manche Menschen fluchen, um Aggression, Stress oder Schmerz zu bewältigen oder weil sie einer intensiven Gefühlsregung Ausdruck verleihen möchten, so Reisigl.
Dass Fluchen gewissermaßen die körperliche Schmerztoleranz erhöhen kann, belegen Beobachtungen aus Großbritannien. Der britische Verhaltenspsychologe Richard Stephens von der Keele University ließ 67 freiwillige Probanden ihre Hand zweimal hintereinander in Eiswasser halten und untersuchte deren Schmerztoleranz anhand der Verweildauer. Im ersten Durchgang war lediglich die Verwendung von harmlosen Testbegriffen gestattet. Beim zweiten Durchlauf des Experiments duften die Testpersonen nach Belieben fluchen und schimpfen.
Das Resultat: Unter Fluchen hielten die Probanden das schmerzhafte Experiment um etwa 50 Prozent länger durch. Dem Forscher zufolge führt Fluchen zu einer Ausschüttung von Adrenalin, Cortisol und Endorphinen, und diese lindern das Schmerzempfinden.
Tabus brechen, Identität zeigen
Auch Rebellion ist ein Motiv, so Reisigl: "Manche fluchen, weil sie das innere Bedürfnis haben oder es cool finden, gegen ein religiöses, ethisches oder sozial-ästhetisches Tabu zu verstoßen, sich also aus einer Antihaltung heraus als Rebell oder Rebellin zu inszenieren."
Ebenso wird Gruppenzugehörigkeit oder Geschlechtsidentität, insbesondere Männlichkeit, mit Fluchen markiert. Daneben können auch physiologische Ursachen zu intensivem Schimpfen führen: "Einige fluchen sehr viel, weil sie an einem Tourette-Syndrom leiden, weil aufgrund einer Hirnverletzung ihre Fähigkeit zur Selbstbeherrschung beeinträchtigt ist oder weil sie demenzbedingt ihr Vermögen zur Selbstkontrolle eingebüßt haben."
Nicht nur Aggression
Dass nur aggressive Menschen fluchen, konnte Reisigl in seinen Untersuchungen widerlegen. "Meine Analysen von Flüchen in Alltagsgesprächen in Südtirol haben mir gezeigt, dass Fluchinterjektionen viele unterschiedliche kognitive, emotive, zwischenmenschliche und redegliedernde Gesprächsfunktionen erfüllen können, die nichts mit dem Abführen von Aggression zu tun haben." Das wird Johanna Mikl-Leitner sicher gern lesen.
Auch einen Zusammenhang zwischen Intelligenz und Fluchen konnte der Forscher noch nicht erkennen: "Ich kenne sehr intelligente und weniger intelligente Menschen, die gleichermaßen fluchen." Geflucht wird also durch sämtliche sozioökonomischen und Bildungsschichten hindurch -oder eben auch nicht: "In Italien fluchen Menschen mit und ohne Universitätsabschluss. Dass Menschen, die viel fluchen und schimpfen, über einen reduzierten Wortschatz verfügen, ist eine Mär. Wer fähig ist, das Fluch- und Schimpfrepertoire kreativ und wortspielerisch zu erweitern, ist sicherlich überdurchschnittlich sprachbegabt."
Kultur und Religion
Eindeutig erfassbar sind dagegen kulturelle Unterschiede beim Fluchen: "Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft wirkt sich stark auf das Fluchverhalten aus", erklärt Reisigl. Er erkennt eine Trennlinie zwischen katholischen und protestantischen Einflüssen.
"Wo sich in Europa der Protestantismus durchgesetzt hat, ist der Religionsbezug aus dem Fluchen weitgehend verschwunden. Als die Schweiz noch stärker katholisch war, gab es dort noch ein viel größeres religiöses Fluchrepertoire als heute. Im katholischen Italien und überhaupt im katholischen Süden Europas wird nach wie vor viel geflucht, wobei religiöse und sexuelle Motive vermischt werden." Nur in Portugal sind gotteslästerliche Flüche seltener zu hören.
In slawischen Sprachen finden sich dagegen häufig Vergewaltigungsflüche, die oftmals gegen die Mutter des Beschimpften gerichtet werden, aber auch religiöse Schimpfinhalte, so der Forscher. Generell, so Reisigl, scheinen jüngere Menschen in ganz Europa verstärkt sexuelle Themen in ihr Schimpfrepertoire aufzunehmen. Hier mache sich der Einfluss der englischen Sprache besonders bemerkbar.
Frauen fluchen anders
Die britische Forscherin und Autorin Emma Byrne ist sich sicher: Wir fluchen bereits seit Beginn der menschlichen Kommunikation, unabhängig vom Geschlecht. Auch wenn die Verwendung von Kraftausdrücken bei Männern weitaus mehr toleriert wurde und immer noch eher verziehen wird: Frauen fluchen vielleicht anders, aber deshalb nicht weniger.
In ihrem Buch "Swearing Is Good For You: The Amazing Science of Bad Language"* kritisiert sie, dass es nach wie vor signifikante geschlechtsspezifische Unterschiede hinsichtlich der Akzeptanz gibt. Flucht eine Frau, die kürzlich eine Krebsdiagnose erhalten hat, in Gegenwart ihrer Freundinnen, so ist die Chance sehr viel höher, dass sie dadurch Kontakte einbüßt und depressiver wird, so die Forscherin. Ein Mann hingegen, der über eine Krebsdiagnose flucht, stärkt durch die Verwendung der Kraftausdrücke die Bindung zu seinen männlichen Freunden, sofern diese einen ähnlichen Sprachgebrauch haben. Geschlechtsstereotype lassen sich somit auch beim Fluchverhalten beobachten.
"In meiner Forschung zum Fluchen deutschsprachiger Südtiroler und Südtirolerinnen habe ich festgestellt, dass Frauen in der Öffentlichkeit so gut wie keine gotteslästerlichen Flüche ausstießen, bei denen Gott zum Beispiel als Schwein oder Hund beschimpft wird - was sehr übliche und weitverbreitete alltägliche Flüche in Italien sind", erklärt Martin Reisigl. Derartige Flüche habe er nur aus dem Mund von Männern vernommen, "und zwar oft".
Wie die wilden Tiere
Aber nicht nur wir Menschen werden verbal ausfällig: Auch Tiere geben sich gerne dem Fluchen und Schimpfen hin. Ein berühmtes Beispiel sind Schimpansen. Um ihr Revier zu markieren, bewerfen Tiere in der Wildnis Eindringlinge mit Exkrementen. Aber auch Unmut drücken die Primaten durch das Werfen mit Kot aus.
Im katholisch geprägten Ungarn finden sich häufig Flüche, die religiöse und sexuelle Motive vermischen, erklärt Martin Reisigl.
Besonders in stark katholisch geprägten Gebieten in Deutschland, etwa in Bayern, ist das religiöse Fluchen ebenfalls noch geläufig. Fäkalsprache wird dagegen häufiger in den protestantischen Gebieten Deutschlands verwendet.
Seit den Sechzigerjahren sind Forschende deshalb vom Projekt Washoe fasziniert: Washoe wurde als junges Schimpansenweibchen vom Forscherpaar Robert Allen Gardner und Beatrix Tugendhut Gardner großgezogen, die das Tier Gebärden lehrten. So brachten sie dem Tier auch ein Handzeichen für das Wort "schmutzig" bei, um es stubenrein zu erziehen. Bei dieser Geste wurden die Knöchel an die Unterseite des Kinns gehalten.
Als Washoe später in einer anderen Forschungseinrichtung untergebracht wurde, nutzte sie Gebärden auch zur Kommunikation mit jüngeren Schimpansen. Fortan verwendeten die Tiere diese spezifische Geste als Synonym für menschliche Fäkalschimpfwörter. Die Forscher kamen zu der Erkenntnis, dass die Tiere wohl ebenso leidenschaftlich fluchen mussten wie Menschen.
Ein weiteres Beispiel ist die australische Lappenente, die imstande ist, Geräusche nachzuahmen. Ente "Ripper" wurde in den Achtzigerjahren in einem australischen Naturreservat von Hand aufgezogen und soll von einem der Tierpfleger den Begriff "du Idiot" aufgeschnappt haben. Fortan quakte das Tier die Beleidigung vor sich hin, wenn es wütend oder aggressiv war.
Weniger Vorurteile
Martin Reisigl ist sich sicher: Die Motive für Fluchen sind vielseitig und hängen vor allem nicht vom Bildungsstatus ab. Auch muss eine Schimpferei nicht immer mit einer Reaktion bedacht werden. "Es kommt darauf an, welche Einstellung jemand zum Fluchen hat. Ob eine befürwortende, gelassene oder tabubehaftete."
Gegen zeternde Zeitgenossen hilft oft eine Prise Humor. Oder man schimpft eben mit. Schämen muss man sich dafür aber nicht: Schließlich war auch Mozart ein großer Fan von Fäkalhumor.
Dieser Beitrag erschien ursprünglich im News 7/2022.
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