Bis zu drei Prozent der Weltbevölkerung leiden am Tourette-Syndrom. Männer vier mal so häufig wie Frauen. Das Tourette-Syndrom ist nicht heilbar. Einmal aufgetreten, bleibt es ein Leben lang. Doch es gibt Möglichkeiten, gut mit der Erkrankung zu leben. Die Psychotherapeutin Mag. Nicole Trummer gibt Antwort auf die wichtigsten Fragen.
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- Wie entsteht das Tourette-Syndrom?
- Welche Faktoren begünstigen die Erkrankung?
- Wie äußert sich das Tourette-Syndrom?
- Warum gerade Schimpfwörter?
- Ab welchem Alter tritt die Krankheit auf?
- Die ersten Anzeichen der Erkrankung?
- Wodurch verstärken sich die Symptome?
- Wie behandelt man das Tourette-Syndrom?
- Wie kann man mit Tourette gut leben?
Wie entsteht das Tourette-Syndrom?
Das Tourette-Syndrom ist eine neurobiologische Erkrankung, der ein gestörter Stoffwechsel von mindestens einer chemischen Substanz zugrunde liegt. "Man geht davon aus, dass der Neurotransmitter Dopamin oder Serotonin betroffen ist", so Trummer. Diese beiden Stoffe sind für das Weiterleiten von Informationen verantwortlich. Diverse Studien legen den Schluss nahe, dass das Tourette-Syndrom vererbbar ist. Zudem haben Untersuchungen gezeigt, dass Betroffene im Laufe ihres Lebens an einer Streptokokkeinfektion litten. Forscher gehen der Frage nach, ob besagte Infektion bei der Entstehung des Tourette-Syndroms eine Rolle spielt.
Welche Faktoren begünstigen die Erkrankung?
Welche Faktoren tatsächlich die Erkrankung begünstigen, ist bis heute nicht vollends geklärt. Man hat allerdings festgestellt, dass die Mütter von Betroffenen in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten unter starker Übelkeit litten und häufig erbrechen mussten. Psychosozialer Stress während der Schwangerschaft dürfte, ebenso wie der Konsum von Zigaretten und Alkohol, die Entstehung des Tourette-Syndroms beim Kind begünstigen. Zudem hatten Menschen, die später erkrankt sind, ein niedrigeres Geburtsgewicht und ältere Eltern. Mitunter wurden sie per Geburtszange auf die Welt gebracht.
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Wie äußert sich das Tourette-Syndrom?
Vom Tourette-Syndrom spricht man dann, wenn mindestens zwei motorische Tics und ein verbaler vorhanden sind. "Die Kombination ist ausschlaggebend", betont Trummer. "Wenn nur motorische oder nur verbale Tics auftreten, dann handelt es sich nicht um Tourette." Grundsätzlich unterscheidet man zwischen folgenden Gruppen von Tics:
Einfache motorische Tics: z. B. Augenblinzeln, Schulterzucken, Schneiden von Grimassen, Verreißen des Mundes
Einfache vokale Tics: z. B. unwillentliches Räuspern, Grunzen, Schnalzen mit der Zunge
Komplexe motorische Tics: z. B. plötzliches Aufspringen, Berühren anderer Personen, Verdrehen des Körpers, selbstverletzendes Verhalten wie Sich-selbst-Schlagen
Komplexe verbale Tics: Ausstoßen von Wörtern oder ganzen Sätzen
Bei komplexen Bewegungen obszöner Art spricht man von der Koprolaxie, beim Aussprechen von obszönen Wörtern von der Koprolalie. Das unwillkürliche Nachahmen von Bewegungen anderer nennt man Echopraxie, das Nachsprechen von Wörtern oder Sätzen des Gegenübers Echolalie. Egal aber ob obszön oder nicht, ob motorisch oder vokal, einfach oder komplex - der Erkrankte verspürt den starken Drang, den Tic auszuführen. "Betroffene sagen, es ginge einfach nicht anders", veranschaulicht die Psychotherapeutin den stets unwillkürlichen Akt.
Warum gerade Schimpfwörter?
Warum stoßen Betroffene mitunter obszöne Wörter aus? "Das hat eigentlich keinen erklärbaren Grund", sagt Trummer. Manche Patienten berichten, sie verspürten den Drang, etwas Provozierendes zu sagen. Und Schimpfwörter werden in unserer Gesellschaft nun einmal als provozierend empfunden. Einen wissenschaftlichen Beleg für diesen Zusammenhang gibt es aber nicht.
Ab welchem Alter tritt die Krankheit auf?
"Tics beginnen eigentlich immer im Kindesalter", erklärt Trummer. Genauer gesagt entstehen 99 Prozent aller Tics in den ersten 15 Lebensjahren. Wobei deren Auftreten nicht gleich Grund zur Sorge ist. Zehn bis 15 Prozent der Kinder haben vorübergehende Tics. So lässt sich immer wieder beobachten, wie ein Kind seine Augen zusammenzwickt, den Mund aufreißt oder den Kopf in eine Richtung schüttelt. "Gewisse Tics sind normal", entwarnt die Psychologin. Am stärksten ausgeprägt sind die Tics um das zehnte Lebensjahr herum. Nur ganz selten treten sie erstmals im Erwachsenenalter auf. Dementsprechend früh zeigt sich auch das Tourette-Syndrom.
Die ersten Anzeichen der Erkrankung?
Anfänglich kommt es meist zu Tics motorischer Art. Diese betreffen für gewöhnlich den Kopfbereich, wie es beispielsweise beim Augenblinzeln oder Grimassenschneiden der Fall ist. "Oft fallen die Tics anfangs gar nicht so auf. Mit manchen kann man auch ganz gut leben", erklärt Trummer. Dann breiten sie sich auf andere Körperteile aus, bis schließlich die verbale Komponente hinzukommt. Der Prozess verläuft mehr oder weniger schleichend. "Niemand wacht in der Früh auf und hat plötzlich Tourette", so die Psychotherapeutin.
Wodurch verstärken sich die Symptome?
Stress, Anspannung, Ärger, aber auch Freude tragen zur Verstärkung der Symptome bei. "Wenn sich die Person in einer emotional bedeutenden Situation befindet", fasst Trummer zusammen. Oder aber in einer, in der sie das Auftreten der Tics als besonders unpassend empfindet. Wie etwa in der Kirche oder während des Unterrichts. Aus ihrer beruflichen Praxis weißt die Psychologin, dass die Tics auch in Gegenwart einer Personen, die man als unsympathisch empfindet oder von der man sich bedroht fühlt, vermehrt auftreten. Dagegen nimmt die Frequenz der Tics ab, wenn sich der Patient einer für ihn interessanten Aufgabe widmet. Denselben positiven Effekt haben Zustände tiefer Entspannung.
Wie behandelt man das Tourette-Syndrom?
Weil Tics vermehrt in Stresssituationen auftreten, stellt das Erlernen von Entspannungstechniken ein zentrales Element der Behandlung dar. So auch beim Habit Reversal Training*. "Bei dieser Therapiemethode geht es darum, die Tics ganz genau wahrzunehmen. Welche Tics habe ich? Wann und wie ticke ich? Und weshalb?", veranschaulicht Trummer. Dann werden Handlungen, die anstelle des Tics ausgeführt werden sollen, erarbeitet und trainiert. Man spricht hier von Gegenbewegungen. Mit diesen lässt sich der Tic verhindern oder zumindest hinauszögern.
"Die Tics verschwinden nicht. Aber mit dieser Methode kann man sie in gewissen Situationen, in denen sie für die Person eine Belastung darstellen würden, hinauszögern", erklärt die Psychotherapeutin. Ist das Tourette-Syndrom sehr stark ausgeprägt, wird es mitunter auch medikamentös behandelt. In einigen Ländern, so etwa in Deutschland, arbeitet man auch mit auf Cannabis basierenden Präparaten.
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Wie kann man mit Tourette gut leben?
Die Erkrankung kann zwar nicht geheilt, die Symptome aber reduziert werden. Neben dem Habit Reversal Training und dem Erlernen von Entspannungstechniken rät die Expertin zu ausreichend Bewegung. "Dadurch werden Stresshormone abgebaut." Umgekehrt sollte sich der Betroffene Situationen, die ihn belasten, nicht unnötigerweise aussetzen. Abgesehen davon empfiehlt sich der Besuch einer Selbsthilfegruppe. "Zu sehen, dass es anderen auch so geht, ist enorm wichtig." Ebenso wichtig sei, die Krankheit zu akzeptieren und das soziale Umfeld darüber aufzuklären, was es bedeutet, mit Tourette zu leben.
Bei der "Österreichischen Tourette Gesellschaft" im 2. Wiener Gemeindebezirk finden Betroffene und deren Angehörige Hilfe.
Steckbrief
Nicole Trummer
MMag. Nicole Trummer ist Psychotherapeutin, Klinische Psychologin, Gesundheitspsychologin und Arbeitspsychologin mit Schwerpunkt unter anderem auf Stress, Burnout, Depression, Ängsten, Zwängen und Phobien. Hier geht es zu ihrer Homepage.