Ob Kindergarten, Altenpflege oder Sonderschulen: Im Sozialbereich fehlen Tausende helfende Hände. Das freiwillige soziale Jahr wird ab Herbst 2023 durch Maßnahmen aufgewertet. Höheres Taschengeld und gratis Klimaticket sollen mehr junge Menschen in Gesundheits- und Sozialberufe locken. Doch beherztere Maßnahmen wären erforderlich.
Eckdaten zum freiwilligen sozialen Jahr (FSJ)
Definition: Das freiwillige soziale Jahr (FSJ) - auch Freiwilliges Sozialjahr genannt - ist eine ehrenamtliche Tätigkeit, die jungen Menschen nach Schulabschluss die Möglichkeiten geben soll, im Bereich Gesundheits- und Sozialberufe Erfahrungen zu sammeln.
Mindestalter: ab 17 Jahren (mit Einwilligung der Erziehungsberechtigten)
Dauer: in der Regel 10 - 11 Monate (max. 12 Monate)
Gehalt: man bekommt für die ehrenamtliche Tätigkeit zusätzlich zur Familienbeihilfe ein Taschengeld (ab 1. September 2023 auf 75 bis 100 Prozent der Geringfügigkeitsgrenze) - und das Klimaticket bzw. ein Fahrtkostenersatz muss ab 1. Oktober 2023 zur Verfügung gestellt werden. Teilnehmer:innen sind kranken-, unfall- und pensionsversichert.
Alternative zu Zivildienst: mind. 10 Monate FSJ (durchgehende Teilnahme) kann als Zivildienst angerechnet werden.
Mögliche Einsatzstellen: Rettungswesen, Sozial- und Behindertenhilfe, Betreuung von alten Menschen/Drogenabhängigen/Geflüchteten etc. Kinderbetreuung (Kindergärten), Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und alten Menschen
Bewerbung: Das FSJ startet immer im Herbst (1. September und 1. Oktober) und die Bewerbung wird im Jänner desselben Jahres freigeschaltet. Online erfolgt die Bewerbung unter: www.bewerbung.fsj.at
Freiwilliges soziales Jahr als Auszeit nach der Ausbildung
Im Morgenkreis singen, beim Rechnen unterstützen, Bastelrunden begleiten: Mit diesen Aufgaben verbrachte die 19-jährige Emma Pohl zehn Monate lang ihren Alltag. "Ich wusste schon nach der Matura, dass ich später mit Menschen arbeiten will", sagt sie. "Aber ich wusste noch nicht, welcher Bereich der Richtige ist." Also entschied sie sich für ein freiwilliges soziales Jahr in einer Schule für Kinder mit körperlicher und geistiger Beeinträchtigung. Die Arbeit hat sich ausgezahlt, die 19-Jährige ihre Sparte gefunden. "Ab Herbst werde ich allgemeine Gesundheits- und Krankenpflege studieren."
Emma Pohl ist eine von etwa 1.500 jungen Menschen, die 2022 ein freiwilliges soziales Jahr in Österreich absolviert haben. FSJ-Teilnehmer sind neben Zivildienern eine wichtige Stütze für den nahe am Zusammenbruch stehenden Sozialbereich. In Österreich fehlen rund 2.200 Pflegekräfte in der Kranken-, Alten-und Behindertenbetreuung. In Kindergärten werden bis 2030 rund 13.700 Fachkräfte gesucht - das belegt eine Studie der Uni Klagenfurt. Anfang Mai stellte die Regierung ein Maßnahmenpaket vor, um das FSJ aufzuwerten. Statt 270 Euro "Taschengeld" soll es ab Herbst 2023 500 Euro geben, zusätzlich bekommt jeder FSJ-Teilnehmer ein Klimaticket, ist kranken- und pensionsversichert. Das FSJ ist eine gute Schraube, um mehr junge Menschen in die verzweifelt unterbesetzten Bereiche zu locken. "Etwa 75 Prozent der FSJ-Teilnehmer entscheiden sich später für einen Beruf im Sozial-oder Gesundheitsbereich", betonte Gesundheitsminister Johannes Rauch.
"Es ist stark in den Köpfen verankert, dass man 'ein Jahr verliert', wenn man nicht gleich studieren geht. Das ist eine falsche Annahme", sagt Elisabeth Marcus, Geschäftsführerin des Vereins zur Förderung freiwilliger sozialer Dienste. Über diese Organisation wird die Mehrheit der FSJ-Einsätze in Österreich organisiert, koordiniert und begleitet. "Ein FSJ ist kein Jahr, das man als junger Mensch opfert - es ist ganz klar ein Jahr, das man in sich selbst, in die eigene Persönlichkeitsentwicklung steckt."
In der Schule bleibe für Jugendliche wenig Zeit, sich wichtige Fragen zu stellen. "Wer bin ich, was kann ich, was will ich? Das FSJ ist eine gute Option, Antworten zu finden. Anstatt sich ins nächste Studium zu hetzen, um es nach zwei Semestern wieder frustriert abzubrechen."
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FSJ statt Zivildienst
Von den 1.500 jungen Menschen, die 2022 ein FSJ absolviert haben, waren 80 Prozent weiblich. Das Fünftel junger Männer entschied sich großteils als Alternative zum Zivildienst für das FSJ -eine Option, die vielen gar nicht bekannt ist. "Die Einsatzstellen sind oft dieselben. Nur sind für FSJler die Rahmenbedingungen besser", sagt Elisabeth Marcus. "FSJ-Teilnehmer arbeiten 34 Wochenstunden, Zivildiener können bis zu 48 Stunden wöchentlich eingeteilt werden. Ein wichtiger Unterschied: Für FSJ-ler überwacht unser Verein die Rahmenbedingungen." Die Organisation achte auf angemessene Aufgaben im Betreuungsbereich, weil niemand vom Kästeneinräumen glücklich werde. "Zivildiener hingegen sind auf sich allein gestellt."
Der finanzielle Aspekt ist für Zivildiener auch weiterhin geringfügig besser. Zivildiener erhalten in Österreich eine Grundvergütung von monatlich 536,10 Euro, dazu kommen monatlich bis zu rund 400 Euro Verpflegungsgeld oder kostenlose Mahlzeiten.
Finanzieller Engpass bei FSJlern
Für 34 Wochenstunden in der Sonderschule hat Emma Pohl 270 Euro Taschengeld bekommen. Da sie über 19 Jahre alt ist, stehen ihr 174,70 Euro Familienbeihilfe zu. Das ergibt in der Summe 444,70 Euro -ein Betrag, der keinesfalls zum Leben reicht. Nebenbei ging sie abends bei einem Heurigen kellnern, um sich etwas dazuzuverdienen. In manchen Wochen seien so über 40 Arbeitsstunden zusammengekommen. "Ich wohne noch zu Hause", sagt sie. "Ohne die Unterstützung meiner Eltern wäre das FSJ nicht möglich gewesen." "Jetzt gibt es erstmals Zuschüsse vom Bund", sagt Vereinsgeschäftsführerin Elisabeth Marcus. "Bis zu dieser Gesetzesnovelle mussten wir uns fast zur Gänze selbst finanzieren." Die Einsatzstellen hätten Beiträge an den Verein gezahlt, durch die Bildungsarbeit, Begleitung, Versicherung und auch das Taschengeld gedeckt wurden. "Mehr als 270 Euro war einfach nicht drin. Wir hätten sonst die Beiträge für die Einsatzstellen erhöhen müssen - dann wäre das Projekt für diese wiederum nicht mehr leistbar gewesen."
Das novellierte Gesetz soll Abhilfe schaffen. Ab Herbst 2023 schießt der Bund jährlich 4,5 Millionen Euro an Förderungen für das FSJ zu. "Dieser Betrag reicht gerade so, um für die bestehenden 1.500 Teilnehmer das Taschengeld aufzubessern", sagt Elisabeth Marcus. "In Wahrheit haben wir mit diesem Betrag keine Wachstumsperspektive." Das zweite Problem: Es sei nicht gesetzlich festgelegt, dass die Fördergelder jährlich an die Inflation angepasst werden. Daher brauche es einen Pro-Kopf-Betrag, der jedes Jahr valorisiert wird - und Möglichkeiten, das Budget aufzustocken, falls sich mehr Freiwillige melden. "Ich glaube, dass in den nächsten fünf Jahren eine Verdoppelung der Teilnehmerzahlen realistisch wäre", sagt die Geschäftsführerin. Dafür müssten aber nicht nur die Arbeitsbedingungen, sondern auch die Bekanntheit des FSJ steigen. "Es gäbe bestimmt in jeder Schulklasse zwei bis drei Leute, für die ein FSJ genau das Richtige wäre."
Problembereich Behindertenhilfe
Die Palette ist breit: Wer sich für ein FSJ entscheidet, kann in Kindergärten, Krankenhäusern, Altersheimen oder Schulen arbeiten. Auch sozialarbeiterische Tätigkeiten in Jugendwohngemeinschaften oder der Flüchtlingshilfe sind möglich. "Die beliebtesten Stellen haben mit Kindern oder älteren Menschen zu tun. Das sind Bereiche, die jedem ein Begriff sind", sagt Elisabeth Marcus.
"Eine wesentlich größere Hemmschwelle erleben wir im Bereich Menschen mit Behinderung." Viele Menschen hätten noch nie in ihrem Leben Kontakt mit Personen gehabt, die an einer Beeinträchtigung leiden. "Meistens sind Freiwillige in diesen Einsatzstellen sehr positiv überrascht."
So auch Emma Pohl, die anfangs eigentlich in einem regulären Kindergarten arbeiten wollte. Ihre Arbeit in der Sonderschule sei herausfordernd, aber auch von Erfolgserlebnissen geprägt gewesen. "Zum Beispiel gab es einen Buben mit einer Lernbeeinträchtung, dem ich beigebracht habe, bestimmte Laute wie ,ei' oder ,au' zu lesen", erzählt die junge Frau. "Als er aus den Weihnachtsferien zurück kam, wusste er noch alles. Wenn meine Arbeit gefruchtet hat und sich dann auch das Kind über ein Erfolgserlebnis freuen konnte, war das sehr bestärkend für mich."
Während des Jahres habe die 19-Jährige ein gutes Gespür für ihre Grenzen entwickelt und gelernt, bei Überlastung Nein zu sagen. "Ich habe kein Problem mehr damit, Hilfe zu holen", sagt die junge Frau. "Es bringt weder den Kindern noch den Kollegen etwas, wenn ich mich überlaste und dann die Qualität meiner Arbeit leidet."
Freiwilliges soziales Jahr: Vorbild Deutschland
In Deutschland haben im Jahr 2022 46.830 junge Menschen ein freiwilliges Sozialjahr absolviert. Anteilsmäßig erfreut sich das FSJ dort größerer Beliebtheit als hierzulande. "Der Unterschied: In Deutschland stand das FSJ schon immer auf zwei festen Beinen. Die Bekanntheit ist eine andere als in Österreich", sagt Elisabeth Marcus. "Jeder Abiturient weiß, dass es dieses Angebot gibt. Freiwilligendienste sind dort so gut verankert, dass man im Jahr 2011 sogar den Schritt zum Aus der Wehrpflicht gewagt hat."
In Österreich sei die Debatte zwei Jahre später, im Jahr 2013, auf den Tisch gekommen. Bei einer Volksbefragung stimmten 59,7 Prozent für die Beibehaltung von Wehrpflicht und Zivildienst. "Hauptgrund war, dass es keinen Plan gab, um die Zivildienststellen zu ersetzen."
Dass das deutsche FSJ populärer ist, liegt laut Marcus hauptsächlich an der längeren Tradition rechtlicher Absicherung. In beiden Ländern wurde das freiwillige Sozialjahr zeitgleich im Jahr 1968 eingeführt. In Deutschland wurden Taschengeld und Versicherung von Anfang an gesetzlich klar geregelt. Das österreichische FSJ hing hingegen 44 Jahre lang im rechtlichen Vakuum. Erst 2012 wurde ein entsprechendes Freiwilligengesetz verabschiedet.
"Danach haben sich die Zahlen schlagartig verdoppelt. Seither haben wir einen stetigen Anstieg verzeichnet", sagt Elisabeth Marcus. "Doch seit Pandemie und Inflation stagnieren die Zahlen wieder." Covid und Inflation hätten vielen Familien ein Loch ins Budget geschlagen. Jetzt seien weniger Eltern in der Lage, ihr Kind ein Jahr länger durchzufüttern. "Leider gibt es noch immer keine Zuschüsse für interessierte Jugendliche aus finanziell schwächer gestellten Familien", sagt Elisabeth Marcus. "Für Zivildiener in einer ähnlichen Lage gibt es Zuschüsse für Wohnungskosten oder erhöhte Lebensausgaben. Derselbe Standard für das FSJ wäre im Namen einer echten Aufwertung wünschenswert."
Headhunter für Mangelberufe
Jeder suche derzeit händeringend nach Personal. "Vor Anfragen von Einsatzstellen können wir uns kaum retten", sagt Elisabeth Marcus. Das habe auch gute Seiten. "Arbeitgeber haben verstanden, dass sie die Freiwilligen gut behandeln müssen. Wenn sie ihnen ein Jahr lang ein gutes Umfeld bieten, ist die Chance hoch, dass sie später als ausgebildete Mitarbeiter zurück ins Haus kommen", sagt die Geschäftsführerin. Das passiere nicht selten. "Ich habe immer wieder mit ehemaligen Freiwilligen zu tun, die heute das Haus leiten."
An der Sonderschule, die auch für Emma Pohl zum Einsatzort wurde, waren insgesamt neun Zivildiener und sechs Freiwillige stationiert. "Pflegetätigkeiten waren keine Pflicht. Aber ich hatte kein Problem mit solchen Aufgaben", sagt die 19-Jährige. Der Einblick sei entscheidend für ihren Entschluss gewesen, Gesundheits-und Krankenpflege zu studieren. "Vor meinem FSJ dachte ich, als Krankenpflegerin kann ich nur im Krankenhaus oder Altersheim arbeiten", sagt sie. Jetzt weiß Emma Pohl, dass es auch im Bereich der Behindertenhilfe Möglichkeiten gibtzum Beispiel in Werkstätten oder Schulen. "Ich kann mir auf jeden Fall vorstellen, später an meinem Einsatzort zu arbeiten."
Der sich zuspitzende Fachkräftemangel heizt in Deutschland die Debatte um ein soziales Pflichtjahr neu an. Zuletzt sprach sich der CDU-Politiker Jens Spahn dafür aus. In Österreich steht die Debatte nicht an der Tagesordnung, heißt es seitens der ÖVP-Staatssekretärin Claudia Plakolm, die für Jugend und Zivildienst verantwortlich ist. "Der Zivildienst ist der Headhunter für den Sozialbereich. Viele Burschen kommen dadurch überhaupt erst zum ersten Mal mit Sozialberufen in Berührung und bleiben dann als haupt-oder ehrenamtliche Mitarbeiter erhalten", sagt Plakolm. Ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis im Sozialbereich sei sehr wichtig. "Bevor wir darüber nachdenken, Frauen für einen Zivildienst zu verpflichten, müssen noch viele Schritte in der Gleichstellung gegangen werden."
Auch Elisabeth Marcus hält nichts von einem verpflichtenden Sozialjahr. "Nicht jeder ist für den Sozialbereich geeignet. Wenn jemand keine Geduld mit Menschen hat, ist das für alle Beteiligten eine Tortur", sagt sie. Ein verpflichtender Gesellschaftsdienst müsse daher gänzlich vom Sozialbereich abgekoppelt werden. Je nach Eignung und Fähigkeiten sollten im Falle des Falles auch handwerkliche Tätigkeiten mögliche Aufgabenbereiche sein. "Ich plädiere dafür, vom Pflichtgedanken wegzukommen und stattdessen die Rahmenbedingungen für Freiwillige attraktiver zu gestalten."
"Wer mit dem Gedanken spielt, sollte sich einfach trauen", sagt Emma Pohl zum Abschluss. Die Herausforderungen seien kleiner als die Erfolgserlebnisse gewesen. "Es gab ein autistisches Mädchen, das mit Berührungen schwer umgehen konnte. Eine Umarmung wäre am Anfang des Jahres undenkbar gewesen", erzählt sie. "Als ich am Ende meines FSJ gegangen bin, hat sie mich gar nicht mehr losgelassen."
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 30/2023 erschienen.