Die Wiener Volksschulen ächzen unter dem akuten Lehrermangel. News hat mit zahlreichen Direktoren und Lehrern gesprochen. Das Bild ist besorgniserregend: Leistungsschwache Kinder können nicht mehr genügend gefördert werden, Lehrpersonen brennen aus.
"Das System ist nicht am Anschlag, der Anschlag ist überschritten. Wir sind eigentlich schon im Notbetrieb. Wir wüssten, was die Kinder bräuchten, können es aber nicht leisten. Da, wo die Eltern unterstützen können, geht's. Kinder, die keine Eltern haben, die können oder wollen, rutschen komplett durch."
Der Volksschullehrer, der diese ernüchternde Diagnose abgibt, möchte anonym bleiben. So wie die zahlreichen anderen Lehrerinnen und Direktorinnen, mit denen News über die Zustände an den Wiener Volksschulen gesprochen hat.
Die offizielle Version lautet: Es herrscht zwar Lehrermangel, aber man habe die Situation im Griff. Wenn man den Menschen zuhört, die Tag für Tag in den Klassenzimmern stehen, klingt das anders.
Alle berichten von personellen Engpässen, die so akut sind, dass Schule vielen ihrer eigentlichen Aufgaben nicht mehr ausreichend nachkommen kann. 160 Volksschulklassen in Wien werden im kommenden Herbst keine eigene Klassenlehrerin haben, schätzt die Lehrergewerkschaft. In der Praxis bedeutet das, erzählt eine Lehrerin, deren Schule ebenfalls betroffen ist, dass durchsuppliert wird. Jede Stunde eine andere Lehrperson. "Der Schulstart ist für diese Kinder nicht gut, eindeutig", sagt sie.
Um möglichst viele Klassen besetzen zu können, versucht die Bildungsdirektion, Lehrerinnen und Lehrer abzuziehen, die bisher unterstützend tätig waren, etwa als Begleitlehrerinnen. An sich eine nachvollziehbare Maßnahme, findet die Direktorin einer innerstädtischen Ganztagsvolksschule. Aber: Der Mangel werde so nur gleichmäßig auf alle Schulen verteilt.
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"Wo ich besonders Bauchweh habe: Ich war selbst jahrzehntelang Lehrerin in einer Integrationsklasse. Dieses Modell braucht ganz klar zwei Lehrer:innen. Momentan sieht mir das aber sehr nach Kürzungen aus. Auch Stütz- und Sprachheillehrerinnen werden als Klassenlehrerinnen abgezogen. So werden sehr wichtige Support-Systeme abgebaut, damit die Klassen irgendwie besetzt werden können."
Leidtragende dieser Kürzungen sind jene Kinder, die es ohnehin schon schwer haben und von zu Hause wenig Unterstützung erfahren. Der Aufgabe, auch sie zu fördern und ihnen einen guten Start in die Bildungslaufbahn zu ermöglichen, kann die Schule im Notbetrieb nicht mehr gerecht werden, erzählen alle Pädagoginnen und Pädagogen, mit denen News gesprochen hat, übereinstimmend.
Lehrer und Lehrerinnen aus Deutschförderklassen werden in der Regel abgezogen, erzählt eine Direktorin. Sie berichtet auch von einer Klasse mit deutsch-ukrainischem Schwerpunkt (KSDU-Klasse), die eigentlich von je einer deutsch-und einer ukrainischsprachigen Lehrerin geleitet werden sollte. Tatsächlich standen für die 25 -teilweise traumatisierten, des Deutschen nicht mächtigen -Kinder im Alter von sechs bis zehn Jahren wochenlang nur Supplierstunden auf dem Programm.
"Die Schere geht immer weiter auseinander", sagt die Direktorin. "Eigentlich wäre es ja das Ziel, auszugleichen, was von zu Hause nicht kommt. Aber das bleibt immer mehr auf der Strecke."
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"Kinder, die sich beim Lernen schwertun, werden ein Wanderpokal. Sie sind in einer Klasse, schaffen es nicht, wiederholen, schaffen es wieder nicht, kommen in die nächste Klasse und werden so lange durchgereicht, bis sich irgendwann eine Lehrperson erbarmt und die Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs für sie erkämpft. Oder bis die Lehrperson so unter Zugzwang ist, dass diese Kinder einfach mitgenommen werden. Aber sie sind ständig frustriert und überfordert."
Bei höchstens 2,7 Prozent der Wiener Pflichtschüler kann wegen körperlicher oder psychischer Einschränkungen ein sonderpädagogischer Förderbedarf (SPF) festgestellt werden. Dieser Deckel wurde vor 30 Jahren im Zuge von Finanzausgleichsverhandlungen festgelegt. Der Bund stellt für diese Kinder zusätzliche Ressourcen zur Verfügung. Tatsächlich dürfte der Prozentsatz aber bei vier bis fünf Prozent liegen. In der Praxis bedeutet das, dass Kinder, die eigentlich nach Sonderschullehrplan unterrichtet und benotet werden müssten, am regulären Schulsystem scheitern.
Eine Sonderschulpädagogin erzählt von einem Kind, das aus schwierigsten sozialen Verhältnissen kommt. Es ist sich selbst und anderen Mitschülern gegenüber aggressiv, wirft Tische, schreit, weint und läuft davon. Zu ihr hat es Vertrauen gefasst. Weil es aber nach dem regulären Volksschullehrplan benotet werden muss -der Antrag auf sonderpädagogischen Förderbedarf wurde abgelehnt -, wird im Zeugnis heuer ein "Nicht genügend" stehen. Der Bub muss dieses Schuljahr wiederholen und kommt in eine neue Klasse und damit auch in ein neues soziales Umfeld. "Für ihn ist das ein Drama", sagt die Lehrerin. "Solche Kinder wiederholen schon in der Volksschule ein, zwei Mal und brechen dann oft nach der dritten Klasse die Mittelschule ohne Abschluss ab. Das ist ein Riesenthema, das sich durchzieht."
"Manchmal tun mir auch die leistungsstarken Kinder leid. Vor Jahren wurden Kinder, die besonders begabt waren, noch besonders gefördert. Das gibt es alles nicht mehr."
Die angespannte Situation in vielen Wiener Volksschulklassen ist nicht nur für Kinder mit besonderen Bedürfnissen eine Herausforderung, sondern auch für deren Mitschülerinnen und Mitschüler. "Es ist garantiert die gesamte Klasse schwächer, als sie sein könnte, weil so viel Zeit und Energie für dieses eine Kind draufgeht", sagt die Sonderschullehrerin, die an einer Wiener Brennpunktschule unterrichtet. "Ohne ein entwickeltes Szenario für dieses Kind gefährde ich nicht nur dessen Laufbahn, sondern die der ganzen Klasse."
Auch Kinder, die mehr leisten könnten als der Durchschnitt, leiden unter der Situation. Die Direktorin einer Ganztagsvolksschule sagt: "Förderung und Individualisierung kommen zu kurz. Die Inklusion wird ausgemerzt, weil die Systeme abgebaut werden und Integrationskinder wieder in die Sonderschulen kommen. Man kann im Unterricht nur mehr ein Level anbieten. Für manche Kinder passt das, die haben ein Glück. Jene, denen dieses Level zu schwer oder zu leicht ist, haben Pech und müssen schauen, dass sie selbst weiterkommen."
"Mir kommt vor, niemand hat am Schirm, dass die Corona-Generation jetzt einfach in der Klasse sitzt, als wäre nichts gewesen. Wir haben Schulanfänger, denen man deutlich anmerkt, dass sie nicht ausreichend auf die Schule vorbereitet sind. Besonders stark betroffen sind Kinder, die während der Pandemie eingeschult wurden und jetzt in der zweiten oder dritten Klasse sind. Viele haben Konzentrationsschwierigkeiten, sind sehr mit sich selbst beschäftigt und haben wenig Blick für andere Kinder."
Offiziell ist die Coronapandemie vorbei. Mit den Nachwirkungen im Bildungssystem will sich niemand so recht beschäftigen. Förderstunden können, selbst wenn sie bewilligt werden, wegen des Pädagoginnenmangels nicht abgehalten werden. Mehrere Lehrerinnen und Lehrer berichten von Auffälligkeiten bei den Kindern. "Die Kinder sind seit Corona psychisch nicht mehr so belastbar", erzählt eine Pädagogin. "Bei den Schulanfängerinnen und Schulanfängern merken wir die fehlenden Kindergartenjahre deutlich. Sie sind zum Beispiel nicht in der Lage, bei einem Ausflug gemeinsam geordnet zur Straßenbahn zu gehen, weil sie das nie gelernt haben. Sie haben Schwierigkeiten, sich in einer Gruppe zurechtzufinden, es fehlen kommunikative und soziale Fähigkeiten."
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Auch bei den Noten gibt es keine Gnade und Nachsicht, obwohl die Kinder mit ganz anderen Voraussetzungen in die Schule kommen als vor Corona. "Es ist, als hätte es die Pandemie nie gegeben", sagt ein Lehrer, "dabei ist es längst nicht vorbei. Manche Kinder schaffen es einfach nicht, sie kassieren Fünfer und hocken sieben Jahre in der Volksschule. Das ist irre."
"Es tut jeder sein Bestes und versucht, alles abzufangen. Wir Lehrer ticken so komisch. Wir denken in erster Linie an die Kinder. Aber was von außen auf uns einprasselt, ist verrückt. Wir sollen Schulentwicklungskonzepte erarbeiten, Konzepte umsetzen und so weiter. Es ist einfach zu viel."
Eine wiederkehrende Klage: Die administrativen Anforderungen sind zu hoch und es bleibt zu wenig Zeit für die pädagogischen Kernaufgaben. Auch das, sagen einige, ist während der Coronapandemie schlimmer geworden. Der Lehrermangel führt außerdem dazu, dass die Personen, die noch im Dienst sind, überdurchschnittlich stark belastet sind.
An Österreichs Pflichtschulen wurden im Schuljahr 2021/22 deutlich mehr Überstunden geleistet als in früheren Jahren. Durch diese Mehrarbeit, erzählt eine Direktorin, gibt es auch mehr Burn-outs und Krankenstände. "Es ist ein Teufelskreis", sagt sie. "Wenn die Last auf noch weniger Arbeitspferde aufgeteilt wird, brechen letztendlich alle zusammen." Ein Lehrer berichtet, dass er sich auch krank und mit Medikamenten vollgestopft in die Schule schleppt. "Um die Kolleginnen nicht im Stich zu lassen."
"Viele Kolleginnen und Kollegen fallen immer wieder aus, auch wegen psychischer Krankheiten und Überforderung und Übermüdung. Es gibt ganz viele junge Kolleginnen, die mit Tränen in den Augen in der Klasse stehen und einfach nicht mehr können. Es ist sehr, sehr anstrengend."
Noch letzten Sommer taten Bildungsminister Martin Polaschek und sein Vorgänger Heinz Faßmann ihre Verwunderung über den Lehrermangel kund, der "in diesem Ausmaß nicht vorhersehbar" gewesen sei. Eine Imagekampagne und Angebote an Quereinsteiger sollen es nun richten. Ein großes Problem laut Schulinsidern: Absolventinnen kommen nach dem Bachelorabschluss an die Schulen und müssen dann berufsbegleitend noch das Masterstudium beenden. Eine große Überforderung. "Um uns Alte geht es eh nicht mehr", sagt eine Schulleiterin. "Aber wir verheizen uns die Jungen."
Auch das Quereinsteigermodell verursacht Probleme, erzählt eine andere Direktorin. "Man versucht, Personen mit Sonderverträgen anzustellen, die zwar einen akademischen Abschluss, aber keine Ahnung von Pädagogik haben. Teilweise können sie nicht einmal gut genug Deutsch. Vielleicht wäre besser, Menschen mit Herzensbildung einzubinden und nicht nur auf die akademische Bildung zu achten."
"Wir befürchten, dass die Klassen noch größer werden. Und dass alle, die es sich leisten können, in eine Privatschule gehen. Schule kann ihre gesellschaftspolitische Verantwortung dann irgendwann nicht mehr wahrnehmen."
Analog zur Zweiklassenmedizin droht auch im Bildungsbereich eine weitere Aufspaltung. Schon jetzt sind die Kinder wohlhabender, gebildeter Menschen bevorzugt, weil sie von Haus aus mit größeren Ressourcen ausgestattet sind. Sie besuchen mit viel höherer Wahrscheinlichkeit ein Gymnasium, machen Matura, studieren an der Universität. Oft genug absolvieren sie ihre Schullaufbahn in Privatschulen. Dort ist der Lehrermangel zwar auch Thema, aber man bleibt zumindest unter sich.
Aus den Kindern der weniger Privilegierten werden, wenn die Zustände bleiben, wie sie sind, nicht einmal Facharbeiter. "Was machen wir mit den Kindern, die zu wenig lernen?", fragt ein Lehrer. "Der Niedriglohnsektor wird immer kleiner. Wir produzieren massenhaft Sozialhilfeempfänger." Eine andere Lehrerin formuliert provokant: "Wollen wir wirklich in ein paar Jahren in der Zeitung lesen, was sie dann angestellt haben?"
"Ich sehe für die Zukunft ziemlich schwarz. Österreich hat keine großartigen natürlichen Ressourcen, seine Stärke sind die Köpfe der Menschen. Wenn es schulisch so weitergeht, fehlt dafür langsam die Basis."
Wien wächst. Kommenden Herbst eröffnen in der Hauptstadt neun neue Pflichtschulen. Bestehende Standorte sollen zusätzliche Klassen eröffnen, obwohl das nötige Personal nicht zur Verfügung steht. Die Klassengrößen steigen, Klassen mit 28 oder 29 Kindern sind bereits jetzt Realität. Zugleich gehen viele ältere Lehrerinnen in Pension, laut Prognose des Bildungsministeriums rund zwölf Prozent bis 2027. Aufgrund von Kündigungen, Dauerkrankenständen etc. verlassen aber viel mehr Personen den Lehrberuf. Wie viele genau, ist unklar.
Schnell lösen lässt sich diese Situation nicht, auch wenn in den News-Gesprächen einige Verbesserungsvorschläge formuliert werden: Mehr Schulautonomie wäre nützlich, meint eine Direktorin. Die Lehrerausbildung müsste wieder verkürzt werden. Und generell würde es helfen, wenn man den Schulen auf Augenhöhe begegnen würde, anstatt über sie drüberzufahren.
"Ich rechne damit, dass die Situation in den nächsten Jahren noch schlimmer wird", sagt ein Lehrer. "Und ich würde mir von der Politik wünschen, dass sie endlich aufhört, die Probleme schönzureden. Stattdessen sollte man Ziele und Visionen entwickeln. Zum Beispiel jene, dass in ein paar Jahren in jeder Klasse zwei Lehrer stehen. Mit dieser Aussicht wären junge Leute auch eher bereit, die längere Ausbildungsdauer auf sich zu nehmen und in diesen Job einzusteigen. So will sich das ja keiner mehr antun."
Denn dieser Satz fällt in fast allen Gesprächen: Lehrerin oder Lehrer sein ist "ein wunderschöner Beruf", den die meisten immer noch gerne ausüben. Trotz der widrigen Umstände. Aber ernst genommen zu werden, auch darin sind sich alle einige, das wäre einmal ein wichtiger erster Schritt.
"Die Politik betreibt Realitätsverweigerung. Ich würde sogar sagen, es handelt sich um fehlendes Realitätsverständnis. Sie müssten mal an die Schule kommen und sehen, wie es wirklich ist. Im normalen Schulbetrieb, nicht wenn die Kinder aufgereiht stehen und singen. Aber sie sind so weit weg von unserem Alltag."
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 24/2023 erschienen.