Der Kampf ums Klima beginnt im Frühverkehr. Als die Ampel rot leuchtet und die Autos stehen bleiben, stellen sich fünf Aktivistinnen in orangefarbenen Warnwesten mitten auf die fünfspurige Fahrbahn beim Wiener Franz-Josefs-Kai vor dem Schwedenplatz. Sie halten mehrere Banner in die Höhe. "Stoppt die fossile Zerstörung" prangt auf einem, auf dem anderen steht: "Tempo 100 - auf der Autobahn". Unterschrieben sind die Slogans mit "Letzte Generation". Die Aktivistinnen und Aktivisten dieser Gruppe nennen sich so, weil ihre Mitglieder die Letzten seien, die eine Klimakatastrophe aufhalten könnten, davon sind sie überzeugt.
Die Frauen setzen sich mitten auf die Straße, legen ihre Plakate vor sich auf den Boden und öffnen eine kleine, weiße Tube. Sie träufeln den Sekundenkleber 2g auf ihre Handinnenflächen und drücken sie auf den Asphalt. Autofahrer hupen, ein Mercedes-Fahrer in der ersten Reihe gibt Gas und versucht, zwischen den Aktivistinnen durchzufahren. Die strecken im letzten Moment ihre Beine aus. Das Auto stoppt, um die Frauen nicht zu überrollen.
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Das Ende war ihr Anfang
Überrollt wurde vor ein paar Tagen das Handy von der Aktivistin Caroline Thurner. Jetzt sitzt sie in einem Café mitten im siebten Wiener Gemeindebezirk neben ihrem Mitstreiter David Sonnenbaum. Die beiden gehören zum Gründungsteam von der Letzten Generation Österreich. Thurner und Sonnenbaum waren zuvor Mitglieder bei der Gruppe Extinction Rebellion Austria. Im vergangenen Winter protestierten sie gemeinsam mit Aktivisten der Gruppen von Fridays for Future und System Change, not Climate Change gegen den Bau der Stadtstraße in der Lobau.
Caroline Thurner schlief dort nächtelang in Zelten, David Sonnenbaum versorgte die Aktivisten mit Lebensmitteln, die er zuvor aus Müllcontainern sammelte. Bei ihrem Kampf gegen die Wiener Stadtstraße ging es den Klimaschützern sämtlicher Gruppierungen auch darum, Alarm zu schlagen, weil weltweit die Klimaziele nicht erreicht werden. Dieser Kampf hatte sie in der Lobau vereint. Aber als Anfang Februar die Hunderschaften der Polizei anrückten, um auf Geheiß von Bürgermeister Michael Ludwig das Protestcamp zu räumen, beschlossen David Sonnenbaum und Caroline Thurner, dass ihr Protest radikaler werden muss. Sie fühlten sich mit ihren Sorgen nicht gehört und nicht ernst genommen. "Wir sind der Teil von Extinction Rebellion, der evaluiert und festgestellt hat, dass unsere Aktionen in dieser Form nicht ausreichen", sagt Caroline Thurner.
Sie hätten Gespräche mit anderen Aktivisten geführt, ob es alternative Methoden gäbe, um mehr Aufmerksamkeit zu bekommen. Aber niemand wollte bei ihrer Idee mitmachen: Bereit zu sein, durch Aktionen des zivilen Ungehorsams auch ins Gefängnis zu gehen. "Unsere Handlungen unterscheiden sich insofern, dass wir uns nicht einfach vor ein Ministerium hinstellen, sondern wenn, dann kleben wir uns dort fest", sagt David Sonnenbaum. "Uns kann man nicht mehr ignorieren." Die beiden ärgern sich über die Untätigkeit der Gesellschaft: "Seitdem sich Nichtregierungsorganisationen wie Greenpeace gegründet haben, glauben die Menschen, dass diese Organisationen die ganze Arbeit übernehmen und sie deshalb nicht mehr protestieren müssten", sagt David Sonnenbaum. Aber das verändere sich jetzt.
Das Gründungsteam
Die Letzte Generation Österreich hat drei Gründungsmitglieder, die sehr unterschiedlich sind. David Sonnenbaum trägt einen dünnen Baumwollpulli, darunter schaut das T-Shirt heraus. Beides habe er aus einem Altkleidercontainer gezogen. Er wurde in Moskau geboren, lebt in Wien und ist 35 Jahre alt. Sein Informatikstudium hat er abgebrochen, stattdessen absolvierte er eine Ausbildung zum Freizeitpädagogen. Aber weil ihm das Schulsystem zu starr gewesen sei, habe er auch damit aufgehört. Dafür gründete er Robin Foods, eine Initiative, deren Mitglieder genießbare Ware aus den Mistkübeln der Supermärkte heraussuchen, verkochen und sie an obdachlose Menschen verteilen.
Anfangs war David Sonnenbaum nur nachts alleine unterwegs, um Lebensmittel zu sammeln, mittlerweile macht er das tagsüber und fragt direkt beim Supermarkt an. Viele würden ihn schon kennen, sodass er bisher keine rechtlichen Probleme damit hatte. David Sonnenbaum ist überzeugt davon, dass er seit ein paar Monaten vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Er kann das nicht nachvollziehen, denn schließlich würde er nur auf die Versäumnisse der Regierung aufmerksam machen und damit schlussendlich die Verfassung schützen.
Caroline Thurner ist 52 Jahre, kommt aus Wien und arbeitet Vollzeit als Chemikerin. Sie ist Mutter einer erwachsenen Tochter. Die studiert Jus und liest die immer häufiger ankommenden Briefe der Polizei, die an Caroline Thurner adressiert sind. Die 52-Jährige hat ein Pflaster am Kinn, nicht etwa weil sie sich mit einem wütenden Autofahrer angelegt hat, sondern weil sie vom Fahrrad gestürzt ist. Ihr Handy sei aber tatsächlich bei einer Protestaktion zerstört worden. Es tue ihr leid, wenn sich die Autofahrer über sie ärgern würden, aber "Ärger ist ein tolles Mittel, um wach zu werden". Sie hofft, dass nach der Wut das Verständnis für die Aktion kommt und sie damit viele für die Klimakatastrophe sensibilisieren kann. Sie berichtet von der Aktion im vergangenen Sommer, als sie einen Kinderwagen bei den Bregenzer Festspielen anzündete und daneben Sekt trank. Ihr Vergleich für sterbende Kinder in Afrika und feiernde Lobbiisten, sagt sie. "Wir wollen eine Debatte auslösen, ob wir als Gesellschaft tatsächlich alle miteinander untergehen möchten. Wer wollen wir sein?"
Sie fordern ein Tempolimit
Martha Krumpeck ist das dritte Gründungsmitglied. Sie ist 31 Jahre und Mikrobiologin. Sie ist das berühmteste Gesicht der Klimaschützer. Als das Protestcamp in der Lobau am 4. Februar aufgelöst wurde, verfolgten sämtliche Medien den Hungerstreik der Aktivistin Martha Krumpeck. Auch Thurner und Sonnenbaum mussten dabei zusehen, wie sich Krumpeck beinahe zu Tode hungerte, um ein Gespräch mit Bürgermeister Michel Ludwig zu erzwingen. Am 44. Tag des Streiks brach die Aktivistin vor der SPÖ-Parteizentrale zusammen, ohne dass der Bürgermeister mit ihr gesprochen hatte. Die Geburtsstunde der Letzten Generation Österreich. Seitdem fordern sie mit ihren Aktionen Gesetze, die Klima und Umwelt schützen. Etwa solche, die den Gebrauch von Öl und Gas einschränken oder ganz verbieten. Sie wollen, dass klimafreundliche Energien gefördert werden und fordern ein Tempolimit von 100 km/h auf der Autobahn. "Das verbraucht weniger Energie und verursacht weniger schädliches CO2", sagt Sonnenbaum.
Seit ihrer Gründung blockierte die Letzte Generation hierzulande laut eigenen Angaben 21 Mal die Straßen, hauptsächlich in Wien. Sechsmal sorgten sie mit sogenannten Kunstaktionen für Schlagzeilen. Zuletzt wollten sie sich im Wiener Naturhistorischen Museum an dem Gestänge eines Dinosaurier-Modells ankleben. Die Polizei konnte das verhindern, weil die Direktion für Staatsschutz und Nachrichtendienst (DSN) die Aktivistinnen und Aktivsten tatsächlich beobachtet. Das geschehe unabhängig davon, ob jemand als gefährlich eingeschätzt würde oder nicht, zur Bewertung der Lage, um für zukünftige Szenarien vorbereitet zu sein.
Die Leiterin der Beratungsstelle Extremismus ist nicht überrascht von der Radikalisierung: "Die Klimakrise ist ein ernst zu nehmendes Problem und eine Gefahr für die kommenden Generationen. Gleichzeitig sind die politischen Maßnahmen nicht weitreichend genug, um dem Klimawandel aufzuhalten, auch selbst gesteckte Klimaziele werden nicht erreicht. Eine gewisse Radikalisierung ist da nicht verwunderlich", sagt Verena Fabris von der Beratungsstelle. Grundsätzlich würden Protestbewegungen zu einer Demokratie dazugehören. Auch Methoden des zivilen Ungehorsams seien legitime Mittel. "Schwierig wird es, wenn andere zu Schaden kommen."
Ob dies durch eine Protestaktion geschehen sei, war vergangene Woche Thema vieler Diskussionen. So soll wegen einer Straßenblockade in Berlin ein Rettungswagen nicht rechtzeitig zu einer Radfahrerin durchgekommen sein, die von einem Betonmischer überrollt worden war. Inzwischen soll eine Notärztin ausgesagt haben, dass der Wagen nicht mehr benötigt worden sei. Trotzdem werden die Klimarebellen seither vor allem in den sozialen Netzwerken stark kritisiert.
Der Super-Gau für die Superkleber
Wie groß die Bewegung hierzulande ist, können die Gründungsmitglieder selbst nur schätzen. Sie wüssten von 28 Mitgliedern, die aktiv bei der Bienen-Gruppe dabeiseien. So nennt die Letzte Generation die Aktivisten, die ausschwärmen, um Straßen zu blockieren. Der Koordinator eines Einsatzes sei die Bienen-Königin. Weil die Polizei Nachrichten mitlesen könne, würden die Aktivisten äußerst vorsichtig vorgehen. Niemals würde der Ort des Protests bereits über das Telefon geteilt werden. Dass die Autofahrer wütend auf die Aktivisten sind, spürt David Sonnenbaum regelmäßig. Bei seiner letzten Aktion sei ein Autofahrer ausgestiegen und habe ihn mit Wasser übergossen. Kurz darauf seien andere Passanten zu Hilfe geeilt, um ihm Tücher zu bringen. Daran könne er auch erkennen, dass die Gesellschaft ihre Proteste immer mehr unterstütze, sagt Sonnenbaum.
Jüngst lud die Letzte Generation zu einer Pressekonferenz ins Café Prückel ein. Sie hatten Informationsmaterial vorbereitet und Sekundenkleber dabei, um die Tuben zur Aufheiterung an die Journalisten zu verteilen. Doch nur vier Reporter waren gekommen. Von den Boulevardmedien, die sonst über jede Klebe-Aktion groß berichten, war niemand anwesend. Ein Super-Gau für die Superkleber.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 45/2022 erschienen.