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Christoph Wiederkehr: „Wir waren als Gesellschaft zu lasch und laissez-faire“

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19 min

Christoph Wiederkehr

©Bild: Matt Observe

Der NEOS-Politiker Christoph Wiederkehr möchte Österreichs Bildungssystem wieder leistungs- und anschlussfähig machen. Im Interview erklärt der neue Bildungsminister, wie das gehen soll: durch größere Chancengerechtigkeit, klarere Regeln – etwa beim Deutschlernen – und mehr Autonomie für die Schulen. Einfach wird das alles nicht, räumt er ein, sondern „harte Arbeit“.

Wenn Sie könnten, wie Sie wollten – keine Bedenkenträger, keine Geldprobleme –, was würden Sie als Bildungsminister tun?

Ich würde gerne eine Vision erfüllen, nämlich dass alle Kinder gerne in die Schule gehen. Das wäre eine große Erleichterung, weil man dann besser lernt. Aber auch für die Eltern und für die Lehrkräfte. Ich glaube, Bildung muss Freude bereiten und um dorthin zu kommen, brauchen wir eine große Kulturveränderung.

Wie zum Beispiel?

Wir müssen es schaffen, dass in der Schule die Talente der Kinder im Mittelpunkt stehen und dass sie auf die Welt im 21. Jahrhundert vorbereitet werden. Weg von der reinen Wissensvermittlung, hin zu den K-Fragen des 21. Jahrhunderts: Kritikfähigkeit, Kooperationsfähigkeit, Kreativität, denn das sind die Kompetenzen, die man in der heutigen Gesellschaft benötigt.

Jetzt sind Sie ja tatsächlich Bildungsminister geworden, wenn auch unter realen Bedingungen. Sind Sie zufrieden mit dem Regierungsprogramm?

Ich bin sehr zufrieden. Es ist das visionärste Bildungskapitel eines Regierungsprogramms, seitdem ich politisch denken kann. Es haben darin sehr viele NEOS-Forderungen Platz gefunden und gleichzeitig haben sich SPÖ und ÖVP bewegt, sodass wirklich große Ziele drinnen sind. Ein zweites verpflichtendes Kindergartenjahr, Demokratieunterricht, mittlere Reife, Chancenbonus. All das Themen, die im Vergleich zu den letzten Jahren und Jahrzehnten richtig große Würfe sind. Jetzt geht es darum, dieses Programm auch konsequent abzuarbeiten.

Ich muss gestehen, ich war ein bisschen enttäuscht von dem, was auf dem Tisch liegt. Das zweite verpflichtende Kindergartenjahr zum Beispiel: Wir wissen schon jetzt, dass es zu wenig Pädagoginnen gibt. Warum soll es jetzt auf einmal gehen, nur weil NEOS das Bildungsministerium übernommen haben?

Wir denken das Bildungsministerium grundsätzlich anders. Bisher wurde immer gesagt, es läuft eh alles gut genug. Ich bin aber der Auffassung, dass wir in Österreich bildungspolitisch zurückgefallen sind, was zum Beispiel die Lesekompetenz betrifft. Und da reicht es nicht, genügsam zu sein, sondern wir müssen eine große Aufholjagd starten, mit dem Ziel, die Chancengerechtigkeit zu verbessern. Ich finde, alle Kinder haben gute Bildungschancen verdient. Und wir müssen auch die Leistungen verbessern, denn wir müssen im internationalen Wettbewerb bestehen können. Eine einzelne Maßnahme wird nicht reichen, um das Bildungssystem wieder an die Spitze zu bringen, sondern es wird harte Arbeit.

Ein lange antizipierter NEOS-Bildungsminister tritt an und das erste große Thema ist das Handyverbot. Ist das wirklich unser größtes Problem?

Es ist ein wichtiges Thema, weil wir als Gesellschaft lange unterschätzt haben, welche Auswirkungen massiver Handykonsum hat. Wir sehen bei Jugendlichen, dass die Anzahl der Stunden am Handy massiv zunehmen. Wir sind aktuell bei fast fünf Stunden durchschnittlicher Bildschirmzeit pro Tag. Wir sehen, dass sich dadurch Konflikte erhöhen, Mobbing stärker wird, die Konzentrationsfähigkeit und auch die Sprachfähigkeit abnehmen. Deshalb finde ich es eine gute und wichtige erste Handlung, den Schulen den Rücken zu stärken. Es gibt aber natürlich auch viele andere Themen, an denen wir gleichzeitig arbeiten.

Es fällt auf, dass Sie viel von Verboten und Geboten reden. Ist das ein Learning aus Ihrer Wiener Zeit, dass es im österreichischen Bildungssystem ohne Verbote nicht geht?

Meine Haltung ist, dass wir klar vorgeben müssen, was wir uns als Gesellschaft erwarten. Von allen Menschen, die hier leben, aber insbesondere von Zugewanderten, damit im Bildungssystem die persönliche Entfaltung gewährleistet ist. Und das hat für mich mit Freiheit und Eigengestaltung zu tun. In Bildungssystemen, die ich als Vorbild sehe – dem finnischen zum Beispiel – , gibt es klare Rahmenbedingungen, was erwartet wird, aber gleichzeitig ganz viel Freiheit und Schulautonomie. Das geht für mich Hand in Hand.

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 © Bild: Matt Observe

Zwang und Druck gibt es auch im Bereich des Deutschlernens. Das sind aber keine optimalen Lernbedingungen, sagen Experten.

Mir ist wichtig, dass Lernen Freude bereitet und dass das pädagogische Umfeld so ist, dass man sich entfalten kann. Es ist aber kein Widerspruch dazu, zu sagen, dass alle Kinder Deutsch können müssen. Denn Kindern, die in Österreich zur Schule gehen und nicht Deutsch können, wird die Zukunft verbaut. Wir müssen beides schaffen, die Freude am Lernen in den Mittelpunkt stellen und auch klar machen, dass es ohne Grundkompetenz nicht gehen wird. Das sind wir den Kindern, den Eltern, aber auch der ganzen Gesellschaft schuldig. Ich finde, dass wir in den letzten Jahren als Gesellschaft zu lasch und zu laissez-faire waren und klarer einfordern müssen, was ein Jugendlicher nach der Schule leisten und können muss.

Wir müssen klarer einfordern, was ein Jugendlicher nach der Schule können und leisten muss

Die umstrittenen und wissenschaftlich kritisierten Deutschförderklassen sollen weiterentwickelt werden, steht im Regierungsprogramm. Was bedeutet das genau?

Es steht im Regierungsprogramm, dass die Deutschförderklassen weiterentwickelt werden sollen und dass die Schulautonomie gestärkt werden soll. Es war bisher immer mein größter Kritikpunkt, dass die Schulen hier zu wenige Freiräume haben. Denn in der Deutschförderung geht es erstens darum, welche Ressourcen die Schulen bekommen und zweitens darum, ob sie selbst einen Rahmen schaffen, der zu guten Ergebnissen führt. Beides wird es geben, nämlich mehr Autonomie und mehr Mittel für die Deutschförderung.

Schulen können also weg von diesem starren Konzept, wenn sie es nicht für sinnvoll halten?

Mir ist wichtig sicherzustellen, dass die Ergebnisse passen. Wie sie diese Ziele erreichen, sollen die Schulen autonom entscheiden können.

Die Qualität soll auch durch ein besseres Verhältnis Lehrkraft-Kinder verbessert werden. Wo nehmen wir denn das Personal dafür her? Was ist mit dem Lehrermangel?

Wir haben noch immer einen Lehrermangel in Österreich, der zum Teil auch hausgemacht ist. Ich habe als Schüler von der damaligen Ministerin Gehrer einen Brief bekommen, dass ich nicht Lehrer werden soll. Das hat mit der Gesellschaft viel gemacht. Wir müssen den Beruf weiter aufwerten. Es ist ein sinnstiftender Beruf, ein sicherer Job, der in unserer Gesellschaft eine große Bedeutung hat. Darum ist es eines meiner größten Ziele, den Lehrermangel möglichst rasch zu beheben. Indem wir Maßnahmen setzen, um Lehrpersonen gezielt zu unterstützen, durch weniger Bürokratie, mehr Autonomie, mehr Unterstützungspersonal und einen Chancenbonus, der zum Ziel hat, Schulen, die besonders herausgefordert sind, auch besonders zu unterstützen.

Die meisten dieser Ansätze gab es in der Vergangenheit auch schon. Warum soll es jetzt anders, besser vorangehen?

Es gab in Österreich noch nie einen Chancenbonus. Der wurde schon von vielen gefordert – auch von uns –, aber noch nie umgesetzt. Ich halte das aber für wichtig, weil wir sehen, dass Länder, deren Bildungssysteme sichtbar besser geworden sind, ganz bewusst Schulen mit besonderen Herausforderungen unterstützen und sie in der Schulentwicklung begleiten. Beides ist mein Ziel, und das sind ganz neue Ansätze in der österreichischen Bildungspolitik.

Rechnen Sie mit Widerständen?

Widerstände wird es viele geben. Überall dort, wo man Veränderung bewirkt, gibt es Widerstände. Man kann aber auch aus der Reibung etwas Positives gestalten. Es wird Energie freigesetzt, die man für positive Veränderung verwenden kann. Dafür mache ich Politik, nicht um es jedem recht zu machen. Gleichzeitig ist es mir ein Anliegen, möglichst viele mitzunehmen, denn eine Veränderung geht besser, wenn viele gemeinsam daran arbeiten.

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 © Bild: Matt Observe

Eine Reform wird im Regierungsprogramm ganz lapidar erwähnt: Erleichterung von Modellregionen für die gemeinsame Schule der Zehn- bis Zwölf- bzw. 14-Jährigen. Was heißt das denn, „Erleichterung einer Modellregion“?

Es ist jetzt meine Aufgabe, das gemeinsam mit Expertinnen und Experten und auch mit unterschiedlichen Stakeholdern in den Bundesländern auszuarbeiten. Es gab schon unterschiedliche Versuche in Österreich, eine gemeinsame Schule einzuführen, die alle krachend gescheitert sind. Ich bin offen dafür, einen neuen Anlauf zu starten, um die frühe Trennung Richtung Mittelschule oder Gymnasium, die schlecht für die Chancengerechtigkeit ist, aufzubrechen. Dafür gibt es unterschiedliche Ansätze. Einer ist eine gemeinsame Schule in Modellregionen, ein anderer die Verlängerung der Volksschule. Da bin ich ergebnisoffen und auch nicht dogmatisch. Ich finde, gute Modelle sollen sich dann natürlich durchsetzen, indem eben gezeigt wird, dass diese Modelle überlegen sind.

Wie zuversichtlich sind Sie, da auch nur zwei Millimeter vorwärts zu kommen?

Ja, es ist ein sehr dickes Brett, das bisher nicht erfolgreich durchgebohrt worden ist. Mein Ziel ist es, Varianten zu schaffen, damit solche Modellregionen endlich einmal ausprobiert werden können. Wir sehen im internationalen Vergleich, dass Länder, die eine so frühe Trennung haben, in der Bildungsgerechtigkeit, aber auch in der Leistungsfähigkeit der Gesellschaft leiden. Darum müssen wir in Österreich weiter daran arbeiten.

Sind Sie der Meinung, dass Gesamtschulen nur in Modellregionen sinnvoll sind – oder dass sie für ganz Österreich die optimale Lösung sind?

Ich glaube nicht, dass wir eine erzwungene Gesamtschule in Österreich implementieren können. Dafür gibt es zu wenig Unterstützung. Und ein Bildungssystem lebt auch davon, dass es Legitimität besitzt. Die Diskussion um die gemeinsame Schule ist in Österreich verbrannte Erde. Meine Aufgabe wird sein, hier neue Wege zu finden. Es ist zuerst notwendig, die gesetzlichen Rahmenbedingungen so zu verändern, dass es praktisch sinnvoll ist, das durchzuführen. Und dann benötigt es auch den politischen Willen, um das umzusetzen. Es gibt einige Regionen in Österreich, in unterschiedlichen Bundesländern, die mir schon signalisiert haben, dass sie Interesse haben.

Wenn Sie sagen, es wurde viel verbrannte Erde hinterlassen, wer waren da die größten Zündler?

Wir haben in der österreichischen Bildungspolitik viele Diskussion gehabt, die wenig lösungsorientiert waren. Die Diskussion der gemeinsamen Schule verfolgt mich, seitdem ich selbst in der Schule war. Wir wissen aber aus der Bildungsforschung, dass die Art der Schulstruktur nicht das Wesentlichste für die Schulerfolge ist. Wir haben uns zu viel mit der Beschriftung der Türschilder vor der Schule auseinandergesetzt als mit der Frage, was inhaltlich stattfinden soll.

Aber die Türschilder entscheiden ja darüber, wo ein Kind hingeht, ob es nach rechts geht oder nach links, in die AHS oder in die Mittelschule, und welche Aufstiegschancen es hat.

In den letzten zehn Jahren wurde die Mittelschule, glaube ich, dreimal umbenannt. Das meine ich mit dem Wechsel von Türschildern, dass ein reines Umbenennen nicht zum Erfolg führt. Es gibt aber sehr, sehr spannende Modelle wie die Wiener Mittelschule, wo AHS und Mittelschulen gemeinsam kooperieren. Das sind innovative, kreative neue Ansätze, die ich forcieren möchte. Gute pädagogische Modelle, die auch von Eltern angenommen werden.

Die künstliche Intelligenz zwingt uns dazu, Bildung neu zu denken. Weg vom reinen Faktenwissen

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 © Bild: Matt Observe

Es soll ein Handyverbot geben, andererseits bekommen die Kinder bei Eintritt in die Sekundarstufe ein elektronisches Gerät – einen Laptop oder ein iPad – in die Hand gedrückt, das sie auch privat nützen dürfen. Ist das gescheit?

Es ist wichtig, dass Kinder den Umgang mit digitalen Endgeräten lernen, und ich finde, die Schule ist der Ort dafür. Das ist für mich ein großer Unterschied zu einem nicht gezielten Einsatz von Social Media oder zum Scrollen in irgendwelchen Foren.

Halten Sie die aktuellen Lehrpläne, noch für zeitgemäß?

Ich bin der Auffassung, dass wir Lehrpläne ständig evaluieren und auch überdenken müssen, denn die Gesellschaft verändert sich so schnell, dass sich die Lehrpläne auch schnell verändern müssen. Bisher war es Usus, dass sie alle zehn Jahre erneuert werden. Mein Ansatz ist, das immer dann zu tun, wenn es notwendig ist. Wir werden tabulos diskutieren, welche Fächer forciert werden sollen und wo es Veränderungen benötigt. Fokus hat für mich aktuell das Thema Demokratiebildung, weil ich sehe, dass die Demokratie in Gefahr ist und wir das gute Zusammenleben auch in den Schulen lernen müssen.

Welche konkreten Pläne gibt es denn, um in Österreichs Schulen mit der ganzen KI-Entwicklung mitzuhalten?

Wir müssen künstliche Intelligenz in den Unterricht einbeziehen. Es ist eine große Chance für unser Arbeitsleben, birgt aber natürlich auch große Gefahren, weil Quellenkunde durch künstliche Intelligenz viel schwieriger möglich ist. Darum ist es wichtig, dass die Jugendlichen auch Ergebnisse der künstlichen Intelligenz hinterfragen können. Aber Verbote sind sicher nicht der richtige Weg. Auch ich arbeite sehr viel mit der künstlichen Intelligenz und chatte auch ab und zu mit ihr.

Stichwort Hausaufgaben. Wenn Kinder die immer mithilfe von KI erledigen, lernen sie halt nicht viel ...

Die KI zwingt uns dazu, Bildung neu zu denken, weg von der reinen Wissensvermittlung, weg davon, Faktenwissen abzufragen. Es ist ja auch nicht das, was wir in unserer Gesellschaft benötigen. Wir benötigen Menschen, die sich selbst etwas beibringen können, die Zusammenhänge erkennen können, die kritisch Themen hinterfragen können.

NEOS standen gerade im Bereich Bildung immer für den Ruf nach den ganz großen Reformen. Wie viel müssen Sie denn davon jetzt liefern, um glaubwürdig zu bleiben?

Wir müssen liefern, weil es notwendig ist für Österreich. Wir sind bildungspolitisch zurückgefallen. Aber Menschen und ihre Bildung sind die größte Ressource, die wir in unserer Gesellschaft haben. Deshalb werde ich jeden Tag daran arbeiten, die Chancengerechtigkeit im Bildungssystem – und seine Leistungsfähigkeit – zu verbessern.

Sie haben vor wenigen Monaten ein Buch veröffentlicht, in dem Sie das österreichische Bildungssystem scharf kritisieren. Wie ist Ihre Gesprächsbasis zur mächtigen Lehrergewerkschaft?

Viel besser. Ich habe die letzten Tage und Wochen einen intensiven Austausch gepflegt, weil ich der Auffassung bin, dass man gemeinsam mehr bewegen kann. Mir geht es darum, etwas für die Kinder und Jugendlichen in unserem Land zu bewegen. Und je mehr da konstruktiv mitarbeiten, desto besser.

Erleben Sie mehr Blockierer oder mehr Kräfte, die jetzt endlich etwas bewegen wollen?

Ich habe sehr viel Unterstützung für das Regierungsprogramm gesehen, auch aus Kreisen der Lehrergewerkschaft gibt es eine große Bereitschaft mitzumachen. Das ist sehr erfreulich. Ich bin auch sehr froh, dass die parteipolitischen Konflikte, die ich in meiner letzten Funktion in Wien erlebt habe, deutlich weniger geworden sind. Das ist gut für unser Land, weil dann auch etwas vorangeht.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 14/25 erschienen.

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