Olaf Scholz bleibt auf X. Und Friedrich Merz ebenso. Das verbindet die deutschen mit den österreichischen Spitzenpolitikern: Für die Reichweite ihrer Propaganda-Instrumente opfern sie die persönliche Glaubwürdigkeit. Sie wirken wie Hummer-Fahrer, die Radwege fordern.
Wer vor der wehmütigen Dreiuneinigkeit der Nicht-(Mehr-)Teilnehmer an den österreichischen Regierungsverhandlungen das Kanzlerduell 14 Tage vor der deutschen Bundestagswahl verfolgt hat, dem ist vielleicht ein entlarvendes Detail zum Status quo der politischen Kommunikation in Erinnerung. Sandra Maischberger (ARD) und Maybrit Illner (ZDF) fragten, ob die Herren Spitzenkandidaten noch auf der Plattform X blieben, zu der Elon Musk das vormalige Twitter demoliert hat. Herausforderer Friedrich Merz (CDU) bejahte mit der Einschränkung eines zunehmend schlechten Gefühls. Titelverteidiger Olaf Scholz (SPD) begründete seinen Verbleib hingegen schnippisch mit dem Hinweis, er gebe ja auch Zeitungen Interviews, die er nicht gut finde.
Das FPÖ-Vorbild für die AfD
Der deutsche Noch-Kanzler entblößt ein Fehlverständnis des Verhältnisses von Politik, Medien und Propaganda – dem Mr. Hyde zum Dr. Jekyll der Public Relations (PR). Auch missliebigen Journalisten Rede und Antwort zu stehen, ist eine demokratische Grundlage. Dass höchste Mandatsträger – wie einst Helmut Kohl dem „Spiegel“ – sich der guten Sitte entziehen, ändert nichts an ihrer Sinnhaftigkeit. Weitere Sündenfälle reichen von „Schweigekanzler“ Wolfgang Schüssels Nicht-Kommunikation über Nachnachfolger Werner Faymanns Boykott der „ZIB 2“ bis zu Herbert Kickls Ignoranz der nachrichtenjournalistischen Medien. Auf X oder einer anderen digitalen Plattform zu sein, heißt aber, Botschaften zu verkünden, statt Auskunft zu geben. Der Unterschied zu den Zeiten von Kohl, Schüssel, Faymann und sogar Sebastian Kurz ist: Kickl hat der FPÖ in den Online-Netzwerken eine derart starke PR-Stimme verschafft, dass Partei und Obmann die Reichweite unabhängiger, aber kritischer Medien nicht mehr brauchen. Das ist ein Vorbild der AfD. Auch deshalb ist die Antwort von Scholz naiv.
Der Auszug von Austro-Twitter
Das für den parteipolitischen Absender größte Problem des Verbleibs auf X ist aber der Verlust an Glaubwürdigkeit. In Österreich haben viele Protagonisten von Austro-Twitter ihre Aktivitäten auf der Plattform eingestellt. In einer ebenso konzertierten Aktion sind zahlreiche Hochschulen im D-A-CH-Raum ausgestiegen. Der gesellschaftspolitische Diskurs im deutschsprachigen Raum verlagert sich zusehends. Plattformen wie Bluesky und Mastodon gewinnen dafür an Bedeutung, X verliert sie in Österreich, bleibt aber auch für alle Wegzieher die global relevanteste aktuelle Nachrichtenquelle. Doch weder in Österreich noch weltweit suchen Spitzenpolitiker gemeinsam den Abschied von X – und auch die individuellen Beispiele sind selten. Die Scheu, ein mühsam aufgebautes Publikum zu verlieren und andernorts neu anfangen zu müssen, überwiegt. Man könnte das auch Opportunismus nennen. Oder Feigheit. Auf jeden Fall ist es nichts, das Vertrauen in die Politik stärkt. Aber ein Musterbeispiel dafür, warum sie es verloren hat. Kleiner Mutmacher zum Abschluss: Armin Wolf hat auf Bluesky in drei Monaten 50.000 Follower gewonnen, auf Twitter brauchte er dafür drei Jahre.
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Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr.07/2025 erschienen