Zwei Serien und zwei Kinofilme erzählen wieder einmal von Sisi. Historikerin Martina Winkelhofer rückt Klischees zurecht und erklärt, wie Kaiserin Elisabeth erst durch die Liebe ihres Mannes zum Mythos werden konnte
Das Korsett ist bis heute schauerlich eng. Zwischen klischeehaften Beschreibungen wie "die Anorektikerin", "die Rebellin" oder "die Narzisstin" bleibt dem Vermächtnis von Elisabeth von Österreich kaum Raum zur Entfaltung. Die Anekdoten über die Kaiserin, die als Sisi verehrt wird, ranken sich auch 124 Jahre nach deren Tod noch immer um ihre 46-cm-Wespentaille und die dafür nötigen Diäten. Sie erzählen vom rebellischen Ultimatum an Kaiser Franz Joseph, mit dem die Gattin erwirkte, dass Sohn Rudolf auf Basis bürgerlicher Ideale der Revolution 1848 unterrichtet wurde, statt seine Ausbildung zum Kriegshelden zu beenden. Immer wieder im Zentrum der Mutmaßungen: die Eitelkeit der Kaiserin, die sich ab ihrem 30. Geburtstag nicht mehr malen ließ und nur für das berühmte Portrait zum 25. Hochzeitstag 1879 eine Ausnahme machte.
Gleich zwei Serien - der quotenstarke RTL-Sechsteiler "Sisi" und die Netflix-Serie "The Empress" - widmen sich aktuell dem Stoff, den Ernst Marischka mit Romy Schneider schon in den 50er-Jahren als legendäre Trilogie erfolgreich verfilmt hat. Zwei Kinofilme legen demnächst den Fokus auf zwei mit Sisi assoziierten Kernthemen: Frauenfreundschaft ("Sisi und ich") und Schönheitswahn ("Corsage").
Leben im Einklang mit ihren Werten
Es ist nicht falsch, den Mythos Sisi um die ewig gleichen Attribute "körperbewusst", "emanzipiert" und "eitel" zu stricken. Richtig ist es aber auch nicht, wie der Blick auf das Unerzählte beweist. Das Bild, das die Historikerin Martina Winkelhofer von der "mit Ausnahme von Marie Theresia bedeutendsten Frau der Familie Habsburg" kreiert, ist deutlich vielschichtiger und hundertmal spannender.
Winkelhofer, die mehrere Bücher zum Thema verfasst hat (u. a. "Sisis Weg. Vom Mädchen zur Frau"*, 2021), beschreibt Elisabeth von Österreich als Frau, die danach strebte, ein Leben im Einklang mit ihren Werten zu führen. Dafür war sie bereit, ungewöhnliche Wege zu gehen und dafür einen hohen Preis zu bezahlen. Sie nahm schlechte Nachrede in Kauf, um eine für ihre Zeit ungewöhnliche Ehe zu führen und Freiheit statt Rollenerfüllung wählen zu können. Damit spricht Elisabeths Geschichte auch aktuelle Frauenthemen an, sagt Winkelhofer: "Auch heute ist der Preis für Emanzipation hoch. Wenn eine Frau nicht mit Lächeln, sondern mit männlichen Attributen wie Durchsetzungskraft Karriere macht, sind die Zuschreibungen noch immer eher unsympathisch."
Sisis Weg: Vom Mädchen zur Frau – Kaiserin Elisabeths erste Jahre am Wiener Hof | Die erste Biografie über das Privatleben von Sisi
In der Zeitlosigkeit der Erzählungen um die Frau, die im Alter von 17 Jahren aus Bayern nach Wien übersiedelte und Kaiserin von Österreich wurde, verortet die Historikerin und Autorin deren ungebrochenes Erfolgsgeheimnis.
"Sie hat uns eine universelle Frauengeschichte hinterlassen, in der es darum geht, wie aus Krisen persönliches Wachstum entsteht. Heute würden wir diese Themen als Mental Health bezeichnen. Da ist die Emanzipation von der Herkunftsfamilie, die Suche nach der Position in der neuen Familie, die Frage nach den eigenen Werten und das Verlassen der Komfortzone. Das sind Themen, die auch heute in jedem Leben eine Rolle spielen. Dadurch bietet sie ein unglaubliches Identifikationspotenzial, das auch in hundert Jahren noch relevant sein wird", so Winkelhofer.
Rare historische Frauengeschichte
Dass sich der Sisi-Mythos ausschließlich aus dem Privatleben nährt, ist für die Historikerin ein weiterer Grund für den anhaltenden Boom, denn dadurch wird Elisabeths Geschichte nie unmodern. Die Popularität der Kaiserin lebt überdies davon, dass sie als Frau - mit Ausnahme weniger Eroberinnen oder Pionierinnen - eine rare Erscheinung in der Geschichtsschreibung darstellt. "Frauen waren lange kein Thema", sagt Winkelhofer. Quellen über historisch bedeutende Frauen sind rar, und man kreist rasch immer wieder um dieselben Namen wie Elisabeth I. von England oder Maria Medici. Gerade wegen ihrer zeitgeschichtlichen oder politischen Bedeutung werden manche bedeutenden Frauen für die an Privatheiten interessierte Öffentlichkeit unergiebig. Mit Themen, die Queen Victorias Regentschaft prägten - Kolonialismus oder die Hungersnot in Irland -, kann sich heute kaum jemand identifizieren. Bleibt "Sisi", die indes so viel mehr zu bieten hätte als Klischees.
Klischees und Wahrheit
Vom Schönheitswahn der alternden Kaiserin erzählt bald im Kino Marie Kreutzers "Corsage". Dass die Kaiserin in ihrer Sorge um ihr Aussehen tatsächlich eine Ausnahmeerscheinung war, bestätigt Winkelhofer. In der damaligen Zeit sei dies auffällig gewesen, weil Schönheit bei Frauen ihrer gesellschaftlichen Stellung ein untergeordnetes Thema war. "Man musste sich nicht um Schönheit bemühen. Die Stellung allein war genug. Gutes Aussehen änderte daran nichts", sagt die Autorin. Dass Elisabeth ihr öffentliches Image steuerte, indem sie ihre Portraits kontrollierte, wie es heute Influencer tun, ist demnach tatsächlich außergewöhnlich.
Zu relativieren gilt es laut der Expertin das gern zugespitzte Thema Diäten. Die Kaiserin sei keineswegs magersüchtig gewesen, das würden die Hofrezeptbücher und Protokolle zeigen, wie sie sagt. Natürlich habe Elisabeth viele Ernährungsformen probiert und auch damit experimentiert, aber das sei für ihre Zeit nicht weiter ungewöhnlich gewesen, denn Diäten waren damals ein riesiger Trend unter jenen, die sie sich leisten konnten. Winkelhofer: "Moderne Ernährungswissenschaft wurde im 19. Jahrhundert zum ersten Mal populär. Reichskanzler Bismarck hat die Milchdiät nach Schweninger berühmt gemacht, das Thema war en vogue und ein Ausdruck von Wohlstand."
Elisabeth war diesbezüglich also näher daran, ein Kind ihrer Zeit zu sein, als eine hysterisch Hungernde. Ähnlich verhält es sich mit ihren vielen Reisen und Kuraufenthalten, die ausschließlich als Fluchten vor dem strengen Wiener Hofprotokoll interpretiert werden. Natürlich bot das Reisen eine Art von Freiheit. Elisabeth konnte bestimmen, wer sie begleitete und wie sich ihre Tage gestalteten, während diese Dinge bei Hof strikten Regeln unterlagen und der Rang bestimmte, wer zur Kaiserin durfte, wie Winkelhofer ausführt.
"Gleichzeitig war Reisen damals einfach extrem populär, weil das Streckennetz zunehmend gut ausgebaut war. In 24 Stunden war man an der Côte d'Azur. Queen Victoria verbrachte Monate dort, die russischen Großfürsten reisten nach Frankreich. Kaiser Wilhelm war im Sommer in Norwegen und im Winter in Frankreich. Man nannte ihn sogar den Reisekaiser. Wer es sich leisten konnte, der ist gereist", relativiert die Historikerin das Narrativ über die panisch Flüchtende.
Eine außergewöhnliche Liebe
Um einige spannende Aspekte, die über liebliche Klischees hinausgehen, muss auch die Liebesgeschichte zwischen dem Kaiserpaar erweitert werden. Tatsächlich - und hier stimmen rosarot gefärbte Erzählungen - verband Elisabeth und Franz Joseph eine Liebesheirat: die einzige aus Liebe geschlossene Ehe unter Royals in dieser Zeit, wie Winkelhofer ausführt: "Das war unüblich, und tatsächlich hat er sie gesehen, wollte sofort die Verlobung verkünden und war ihr bis ans Lebensende verfallen." In Franz Josephs Liebe zu Elisabeth sieht die Historikerin auch den Schlüssel zum Sisi-Mythos, da der Kaiser seiner Frau aus Liebe viele Freiheiten ließ. Nur so konnte sie zur emanzipierten Frau werden, der heute noch weitreichende Bewunderung gilt.
"Hätte er, wie es damals üblich war, darauf bestanden, dass sie am Hof bleibt und ihren Pflichten nachkommt, wäre sie heute eine von vielen Habsburgerinnen. Er hat sie aber auf eine durchaus moderne Art geliebt und konnte sagen: Wenn es dich glücklich macht, dass du fern von mir und meiner Heimat mehr Freude hast, dann lass ich dich gehen, weil ich dich sehr liebe. Das ist ein unglaubliches Bekenntnis für diese Zeit", meint Winkelhofer, die dieses Thema in ihrem nächsten Buch ausführlich vertiefen will.
Als weiteren Liebesbeweis führt sie die finanzielle Sicherheit an, die Franz Joseph seiner Gattin gewährte. Er habe Elisabeth finanziell bewusst unabhängig gestellt, so die Autorin, damit sie auch über seinen Tod hinaus ein freies Leben hätte führen können, was für konservative Kreise und die damalige Zeit absolut außergewöhnlich gewesen sei.
Geschwätz ohne Grundlage
Affären oder bisexuelle Neigungen, die Sisi oft nachgesagt werden, verweist die Historikerin ins Fantasiereich. Als bestbeobachtete Frau der Welt sei ihr dies schlicht unmöglich gewesen, da sie außer, während sie schlief - nie allein gewesen sei, und selbst da sei die Kammerzofe nebenan gewesen. Gleichzeitig war es in einer Zeit, in der Ehen emotionale Bedürfnisse kaum stillen konnten, üblich, dass Frauen einander sehr überschwängliche Briefe schrieben. Formulierungen wie "mein liebster Schatz" oder "meine geliebte Irma" hatten der Historikerin zufolge einen völlig anderen Hintergrund und bedeuteten keineswegs eine Liebesbeziehung, wie wir es heute verstehen würden.
Elisabeths Geschichte über die Klischees hinaus zu betrachten, ist ein Wunsch, den Winkelhofer formuliert: "Etwas mehr Nüchternheit und Respekt im Umgang mit der historischen Elisabeth wäre schön, ähnlich wie in Großbritannien mit historischen Frauenfiguren umgegangen wird. Denn die Klischees zwischen süßlich und hysterisch werden ihr nicht gerecht." Über ihre persönliche Geschichte hinaus zählen zudem Millionen an Tourismuseinnahmen zu Sisis Vermächtnis, das Anerkennung verdient.
Im besten Fall dient ihr Mythos als verlockender Einstieg in geschichtliches Interesse. Selbst wenn es mit Korsett und "Sissi"-Kitsch beginnt.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 1+2/2022 erschienen.
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