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Philipp Hochmair: Vom "Ersatzspieler" zum Superstar

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Philipp Hochmair raucht Zigarre.

©clamlive.at/Stephan Brückler
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Die Salzburger Festspiele erreichen am 20. Juli mit der Staatsaktion "Jedermann" in neuem, unprovinziellem Gewand den ersten Höhepunkt. Wir sprachen mit den Protagonisten Philipp Hochmair und Deleila Piasko und dem Regisseur Robert Carsen. Außerdem im Salzburg-Extra von Heinz Sichrovsky und Susanne Zobl: Intendant Markus Hinterhäuser und Regie-Legende Peter Sellars.

Im Herbst, kaum dass die letzten Töne des letzten Konzerts verklungen sind, wird schon die Baustelle vorbereitet. Dann gibt es keine Umkehr mehr für das Jahrzehntprojekt, den identitäts- wie wohlstandstiftenden Festspielbezirk einer Erneuerung zu unterziehen, wie Salzburg sie seit dem Neubau der Festspielhäuser anno 1960 nicht erlebt hat. In mindestens einem Folgesommer wird das große Haus mit auch kommerziell dramatischen Konsequenzen unbespielbar sein. Anlass genug also, sich um das Bevorstehende zu sorgen.

Doch im Oktober des Vorjahrs erfuhr die Welt, worum es in Salzburg wirklich geht. Michael Sturmingers "Jedermann"-Inszenierung, die sich pandemiebedingt vom Notprovisorium über sieben Jahre gerettet hatte, wurde vom Festspieldirektorium abgesetzt: Infolge jährlich steigenden Publikumsunmuts drohte dem Goldesel funktionelle Obstipation. Den Protagonisten Michael Maertens – er gestaltet heuer in Salzburg einen Leseabend – auszuzahlen, war da das Resultat schlichten kaufmännischen Kalküls. Das aber aufgrund des öffentlich losbrechenden Intrigensturms beinahe die Vertragsverlängerung des Intendanten Markus Hinterhäuser verhindert hätte.

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Das ist der neue „Jedermann“

Der neue "Jedermann" also, unter dem Kanadier Robert Carsen, der hier vor 20 Jahren einen "Rosenkavalier" von weltläufiger Eleganz inszeniert und sich dabei als Spezialist für den Librettisten Hugo von Hofmannsthal erwiesen hat. Hinterhäuser zählte nun also bloß eins und eins zusammen, und der Protagonist ist ein weiteres, kaum schlagbares Atout: Der Wiener Philipp Hochmair, 50, reist seit Jahr und Tag mit einem furiosen "Jedermann"-Solo und übernahm den Titelprasser 2018 für fünf Vorstellungen vom schwer erkrankten Tobias Moretti auf dem Domplatz. Ein Faustschlag sei das damals gewesen. "Ich hätte auch verlieren können, dass es nur so knallt. Aber ich hatte einen gewissen Welpenschutz. Der ist jetzt weg." In der Tat: Carsen, der aus dem Operngenre Höchstpräzision gewohnt ist, bleibt nichts schuldig. Sechs bis sieben Stunden Proben jeden Tag sind nichts Alltägliches, sagt Hochmair und legt einen Schatten über seine ewigjunge Anmutung. "Es war für mich eine harte Schule. Dass mir jemand sagt, das hast du anzuziehen und da hast du so hinzugehen, kenne ich seit Jahren nur aus dem Film."

Der "Jedermann", häufig als Mozartkugel mit verteilten Rollen verachtet, gehe schon an die Substanz, sagt der bei Brandauer am Reinhardt-Seminar Ausgebildete. "Das Verhältnis zum Tod ändert sich. Dieser Jedermann ist am Höhepunkt seiner Kräfte. Er ist voller Elan. Er ist natürlich auch ein Narzisst, aber er liebt, erlebt das größte Glück und fällt plötzlich an seiner Geburtstagsparty einfach um. Der Gedanke, dass wir jederzeit sterben können, war mir so vorher nicht präsent. Da denkt man, man habe noch viel Zeit, und dann lehrt einen ein Jedermann, es kann in dieser Sekunde vorbei sein. Was man nur als Vorfilm wahrgenommen hat, war schon längst der Hauptfilm."

Und, noch einen Dreh philosophischer: Nicht Angst sei es, die das Bewusstsein der Endlichkeit mit sich bringe, sondern Dankbarkeit. "Ich bin dankbar, dass ich so viel erleben durfte. Und wenn ich noch mehr erleben darf, bin ich noch dankbarer. Aber ich dürfte als glücklicher Mensch von dieser Erde scheiden, wenn es jetzt so weit wäre."

Nicht auszuschließen, dass da auch der im Oktober erklommene Fünfziger seine Wirkung tut. Er führe seit Probenbeginn ein asketischeres Leben, sagt Hochmair, trinke keinen Alkohol, lege den Fokus auf die bevorstehende Herausforderung.

Die Last des Amtes der durch Salzburg wandelnden Identifikationsfigur? Das Publikum liebe einen dafür, sagt Hochmair, er fühle sich als eine Art Jedermann-Minister und müsse die Würde nun zu tragen verstehen.

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Last der Geschichte, leicht genommen: Philipp Hochmair und Deleila Piasko als Herrscherpaar des wieder unvermüllten Domplatzes

© SF/Monika Rittershaus

Klare Botschaft ohne Klimakleber

Was wird nun heuer anders sein beim "Jedermann"? Eine klare, mit texttreuer Akkuratesse vermittelte Botschaft, so darf man prophezeien, ohne miniberockten Protagonisten, ohne Klimakleber vor der zugemauerten Domfassade. Die werde selbstverständlich Zentrum und Kraftort des Ganzen sein, sagt der Regisseur Robert Carsen. Auch an die Verlegung der "Jedermann"-Rufe sei nicht zu denken.

Aber im Heute wird das Ganze spielen, großer Aktualität halber. Hofmannsthal sei in Sorge gewesen über das Auswuchern des Materialismus. Jedermann sei ein Neureicher, schon in den ersten Szenen mit dem Schuldknecht und dem armen Nachbarn verbreite er sich prahlerisch über sein Verhältnis zum Geld, ohne dass die Herkunft des Segens benannt werde.

Erkennen wir in ihm eine Art Benko wieder? "Heute, in der Welt von Kryptowährungen, kommt das Geld wie aus dem Nichts und verschwindet wieder", sagt Carsen. "Jedermann kann ein Investmentbanker sein, der schnell zu sehr viel Geld gekommen ist." Hofmannsthal habe die Figur des Mammon erfunden, die Personifikation des Geldes. Bei ihm wolle sich der vom Tod bedrängte reiche Mann als erste Reaktion Lebenszeit kaufen, ein hoffnungsloses Unternehmen. "Und dann lernt er. Zuerst schämt er sich, weil er nichts hat, und dann kommt das Schuldgefühl."

"Jedermann" sei das Stück der Stunde, ergänzt Hochmair, das Stück zum Rechtsruck, zur bevorstehenden Wahl Trumps, zur Umweltzerstörung und zur Flüchtlingskatastrophe. All das sei durch Gier verursacht, durch antisoziales Verhalten, Jedermanns lebenslange Triebkraft also. Ein gebendes soziales Denken sei der einzige Schlüssel zur Genesung: die wieder wachzurufende Motivation, Gutes zu tun.

Die Buhlschaft und der Tod

Die Schweizerin Deleila Piasko ist 33 Jahre alt, eine feine, fragile junge Frau von geheimnisvoller Aura. Zu Beginn der Ära Kušej konnte sie am Burgtheater beeindrucken, ehe sie, nicht als Einzige, ihr Glück anderswo suchte. Selten, sagt sie, habe sie eine Rolle derart rasch angenommen. Sie werde auch während der gesamten Aufführungszeit in Salzburg wohnen bleiben, um Teil der Performance zu sein, die zur Rolle gehöre wie die Zeitreise mit den legendenumwobenen Vorgängerinnen. Dass man als Buhlschaft leicht ins Visier von Schmutzfinken geraten kann, die einem mit öffentlichen Beleidigungen an die Wäsche gehen, sich jedenfalls mehr für die Robe als für die Kunst interessieren? "Man muss aufpassen, dass man nicht alles an sich ranlässt in diesem Beruf", erwidert sie. "Da braucht man ein dickes Fell, aber das kann man sich erarbeiten." Der Beruf sei ja so fragil, vieles hänge vom Selbstbewusstsein ab, das wiederum spielerische Freiheit mit sich bringe.

Der Jedermann, von einer Frau gespielt, wie zuletzt öfter gefordert wurde: Das sei fraglos möglich, räumt Carsen ein, wie man schon beim Hamlet gesehen habe. Die Diversitätsdebatten? In London wird gerade darüber debattiert, dass eine nicht behinderte Frau Richard III. spielt. "Das Pendel, das so lange in die falsche Richtung ausgeschlagen habe, wird wohl bald den Mittelweg anzeigen. Vielleicht sind wir dort ja schon angekommen."

Das letzte Wort? Gehört dem Tod, wem sonst? Der Niederösterreicher Dominik Dos-Reis, 31, spielt derzeit bei Johan Simons in Bochum. Ihm sei der Schlüsselsatz des Stücks zugedacht, will er festgehalten wissen: "War alls dir nur geliehen." Und der Tod selbst? "Ist in unserer Produktion eine Art Engel, etwas Leichtes. Er ist der Bote, der die anderen abholt."

Womöglich wird man heuer wieder gern in den "Jedermann" gehen.

Lesen Sie hier das ganze Interview: Philipp Hochmair über sein Einspringen 2018, seine Lehren aus dem "Jedermann" und Hofmannsthals Kapitalismuskritik

Markus Hinterhäuser: "Ich gehe auf keine verzweifelte Neuigkeitssuche"

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Markus Hinterhäuser: "Ich gehe auf keine verzweifelte Neuigkeitssuche"

Am richtigen Ort: Markus Hinterhäuser (* 30. März 1958), Pianist und Intendant

© FRANZ NEUMAYR / APA / picturedesk.com

Trotz Intrigenbombardements wurde der Vertrag des Salzburger Intendanten Markus Hinterhäuser bis 2031 verlängert. Im Interview verteidigt er den bekämpften Dirigenten Teodor Currentzis, tadelt die Wr. Festwochen, kündigt harte Jahre an und entgegnet Aufforderungen, sein Programm nicht näher benannten Reformen zu unterziehen.

Dank überzeugender Resultate für die kleine Ewigkeit bis 2031 im Amt bestätigt, blickt Markus Hinterhäuser dennoch seinen vorletzten Festspielen unter regulären Umständen entgegen: 2026 beginnt der 400 Millionen teure Umbau des Festspielbezirks mit massiven Einschränkungen der Bespielbarkeit.

Wie geht es Ihnen vor den Festspielen?

Hinterhäuser: Ich gehe mit einem Gefühl der Vorfreude in die Festspiele. Wir haben sehr viel dafür gearbeitet, dass es interessante, faszinierende Konstellationen gibt, die hoffentlich klaglos über die Bühne gehen. Es läuft sehr gut.

Liegt die Vorfreude auch an den Besucherzahlen?

Die Nachfrage ist außerordentlich erfreulich, nicht nur beim "Jedermann", dessen Premiere schon Mitte Februar viereinhalb Mal überbucht war. Auch die anderen Produktionen stoßen auf extrem hohes Interesse. Was mich besonders freut, ist, dass die Opern, die man nicht unbedingt als Blockbuster bezeichnen kann, wie "Der Spieler" von Prokofjew und "Der Idiot" von Weinberg, das Publikum neugierig machen.

Und die Wiederaufnahme von "Don Giovanni"?

Die ist phänomenal verkauft. Das ist keine Aufführung, die vorbehaltslos auf Zustimmung gestoßen ist, aber sie hat etwas ausgelöst. Ein Nachdenken, auch beim Regisseur Romeo Castellucci. Die hohe Nachfrage hat sicher auch mit Teodor Currentzis zu tun. Für die "Matthäuspassion" findet man schon seit Wochen keine Karten mehr. In den letzten Jahren hat er sehr Wesentliches zum Gelingen der Festspiele beigetragen. Es gab seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine eine durchaus heftige Debatte um ihn, in der ich immer wieder meine Position klarmachen musste und auch wollte. Ein großes Publikum freut sich, ihn zu erleben.

Jetzt hat er eine Konzerthalle in St. Petersburg bekommen. Haben Sie Bedenken, dass wieder etwas losgeht?

Sicher wird wieder irgendwas losgehen. Aber diese ständige Beobachtung, was jemand wo macht, und daraus Rückschlüsse zu ziehen auf einen eigenen, manchmal auch ziemlich fragwürdigen Moralbegriff, ist schon ein wenig ermüdend geworden. Currentzis hat jetzt einige Konzerte in Deutschland gegeben. In einer großen deutschen Tageszeitung war eine hymnische Besprechung über seine Aufführung des "War Requiem" in der Berliner Philharmonie zu lesen, die in dem Satz gipfelte: "Teodor Currentzis hat mit dieser Aufführung alles zum Krieg gesagt."

Das hätten wir in Wien auch hören sollen, aber die Festwochen haben ihn ausgeladen, weil seine ukrainische Kollegin nicht mit ihm in einem Programm auftreten wollte.

Damit wurde diese Diskussion neu befeuert. Die Festwochen waren sehr diskursiv angelegt. Über alles Mögliche wurde diskutiert, aber in der Sache Currentzis und "War Requiem" wurde ohne irgendeine Debatte eine Entscheidung getroffen, die im Grunde kleinmütig war, um das Wort feige zu vermeiden. Eine Diskussion vonseiten der Festwochen zu diesem Thema hätte extrem interessant sein können

Täuscht der Eindruck, dass Ihr Programm unsere Zeit abbildet?

Ich kann mit einigen Werken hoffentlich ein Nachdenken auslösen. Der Spieler in Prokofjews Oper ist wie eine emblematische Figur für unsere Zeit, in der alle mit allem spielen, mit Kryptowährungen, Bitcoins, unserem Klima, unserer Existenz. Und das ohne Rücksicht auf Verluste. Wir brauchen uns nur René Benko vor Augen zu führen. Das ist ja auch das Charakteristikum und die obsessive Kraft eines Spielers, seine eigene Existenz und die anderer Menschen aufs Spiel zu setzen. Es ist auch nicht uninteressant, dass wir in diesem Jahr neben dem "Spieler" eine neue Auseinandersetzung mit dem "Jedermann" haben. Auch hier geht es um Reichtum, um den Fall eines Individuums. Und um die Frage, ob sich mit Geld wirklich alles richten lässt. Erst das Erscheinen des Todes löst beim Jedermann ein Denken und ein Fühlen aus. Und die Erkenntnis, Vergebung zu lernen.

2026 steht der Umbau des Festspielbezirks an. Wird es dann weniger Produktionen geben?

Das kann ich jetzt noch nicht genau beantworten. Das war auch die entscheidende Frage bei meiner Verlängerung. Ich habe sehr darüber nachgedacht, ob es richtig ist, noch ein paar Jahre anzuhängen. In einer Sache bin ich mir ganz sicher: Intendant der Salzburger Festspiele zu sein, ist das größte Privileg meines Lebens. Ich halte mich aber auch nicht für unersetzbar, ich bin auch kein Sesselkleber. Ich kenne die Festspiele sehr gut, ich kenne die Stadt sehr gut, und ich habe auch schon einmal eine gewaltige Modifizierung eines ziemlich großen Festspielprogramms in einer Ausnahmesituation, nämlich im Corona-Jahr 2020, vorgenommen. Auch das war Thema der Kuratoriumssitzung am 4. April. Meine Bewerbung war eher ein Angebot an das Kuratorium: Wenn ihr glaubt, dass ich in den schwierigen Jahren des Umbaus noch irgendetwas zu den Festspielen beitragen kann, bleibe ich von Herzen gerne, ansonsten ist es für mich auch ganz in Ordnung, wenn ich aufhöre. Wir haben uns dann auf einen Vertrag bis zum Jahr 2031 mit einer beiderseitigen Ausstiegsklausel für das Jahr 2029 geeinigt.

Werden Sie die in Anspruch nehmen?

Das kann ich jetzt nicht sagen. Es wird bestimmt nicht leichter, und es wird sich bestimmt noch einiges ändern. Auch wie die Festspiele in den Jahren des Umbaus aussehen werden, kann ich beim besten Willen noch nicht sagen. Wir prüfen, auch weil wir wissen, dass wir 28, vielleicht 29 das Große Festspielhaus nicht zur Verfügung haben werden, jede Möglichkeit an alternativen Spielstätten. In diesem Haus mit seinen 2.200 Plätzen findet ein wesentlicher Teil des Programms statt, durch den sich die Festspiele finanzieren: notfalls 14 "Jedermann"-Vorstellungen, die Philharmoniker-Konzerte, Opern, Solisten-Konzerte. Salzburg ist keine Industriestadt, die ein Angebot in Überfülle hat, es gibt keine Hallen, keine Remisen. Wir haben die Perner-Insel, aber die liegt weit draußen.

Was ist mit der Messehalle?

Die haben wir uns natürlich auch angesehen. Auch die Salzburg Arena. Über all das kann man nachdenken, aber ein ganz wesentliches Problem bleibt dabei ungelöst, das der "Jedermann"-Aufführungen. Wie bringt man 2.400 Leute vom Domplatz nach Liefering, wenn plötzlich das Wetter umschlägt? Wir denken an eine auf die Festspielzeit begrenzte Überdachung des Domplatzes. Es gibt auch schon Pläne dafür. Als ich in Salzburg studierte – das war die Zeit, als Nikolaus Harnoncourt im Festspielhaus absolut unerwünscht war – hörte ich mit ihm, dem Chamber Orchestra of Europe und Friedrich Gulda ein Mozart-Konzert auf dem Domplatz. Das war eines meiner schönsten Erlebnisse.

Werden Sie an Ihrem Konzept etwas ändern, wie öfter verlangt wird?

Wir haben so etwas wie eine Familie hier. Aber es sollten auch neue Namen kommen, ohne dass ich auf eine verzweifelte Neuigkeitssuche gehe. Es wird tatsächlich ab ’25 die eine oder andere neue Konstellation geben, auch in der Regie. Vielleicht ist das ja auch nach fast zehn Jahren Intendanz ein guter Zeitpunkt, um eine Art Überprüfung vorzunehmen, ohne dass ich dabei in eine Neuigkeitsfalle tappe. Ich bin Rechtshänder und ich werde nicht plötzlich Linkshänder. Es geht ausschließlich um künstlerische Gedanken. Ich will einfach das eine oder andere neu überlegen und neu denken.

Steckbrief

Markus Hinterhäuser

Beruf
Intendant der Salzburger Festspiele

Markus Hinterhäuser wurde am 30. März 1958 in La Spezia, Italien, geboren, als Pianist gastierte er weltweit. Bei den Salzburger Festspielen verantwortete er von 2007 bis 2011 das Konzertprogramm. Von 2014 bis 2016 leitete er die Wiener Festwochen. Seit Oktober 2016 ist er Intendant der Salzburger Festspiele, sein Vertrag wurde bis 2031 verlängert.

Hinterhäuser tritt bei den Salzburger Festspielen in zwei Konzerten als Pianist auf: „Entrückung“ mit Werken von Schönberg, dem Minguet Quartett, Anna Prohaska und Georg Nigl am 1. 8.

Und ein Liederabend mit Werken von Mahler und Schostakowitsch als Begleiter des Baritons Matthias Goerne (4. 8.)

Peter Sellars: "Wir leben heute in einer Nonstop-Panik"

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Peter Sellars: "Wir leben heute in einer Nonstop-Panik"

Der Visionär. Peter Sellars (* 27. September 1957) ist den Salzburger Festspielen seit 30 Jahren verbunden

© IMAGO / Funke Foto Services

Der amerikanische Regisseur Peter Sellars inszeniert "Der Spieler" von Prokofjew. Ein Gespräch über unsere immer mehr aus den Fugen geratende Welt, seine Arbeit und omnipräsente Gewalt.

Der letzten Produktion der Wiener Volksoper in dieser Spielzeit, John Adams‘ Oratorium "The Gospel According to the Other Mary", verlieh der Amerikaner Peter Sellars internationalen Glanz. Nicht als Regisseur, sondern als Autor: Er hatte das Libretto für die Passionsgeschichte verfasst, die das Wirken und Leiden Jesu aus der Sicht von Frauen und Außenseitern nachzeichnet. Um mit dem Wiener Publikum darüber zu diskutieren, war er eigens für einen Abend aus Los Angeles eingeflogen. Zuvor traf er News zum Gespräch über seine nächste Großproduktion, Prokofjews frühe Dostojewski-Oper "Der Spieler" für die Salzburger Festspiele, Premiere am 12. August.

Eine Oper über die Welt an der Kippe

Man möge es gutem Karma zuschreiben, dass Festspielintendant Markus Hinterhäuser ihm dieses Werk an diesem Ort angeboten habe: In der Felsenreitschule könne er Kraft und Energie von Prokofjews Musik freisetzen.

Worum geht’s? Der junge Hauslehrer Alexej begleitet seinen Dienstgeber, einen hochverschuldeten General, und dessen Stieftochter Polina in den fiktiven Kurort Roulettenburg. Im örtlichen Kasino versucht der General, im Glücksspiel Abhilfe für seine Geldnot zu schaffen Doch er gewinnt nichts. Seine letzte Aussicht ist eine wohlhabende Tante. Der General hofft auf deren Tod und ein reiches Erbe. Doch er irrt. Denn die Babulenka reist selbst nach Roulettenburg und verspielt ihr Vermögen. Am Ende gerät auch Alexej in den Sog der Spielleidenschaft.

"Das Werk bildet unsere Welt ab", rühmt Sellars. "Wo gibt es nicht jemanden, der seine Miete, seine Raten nicht zahlen kann? Überall auf der Welt geraten Menschen in Panik, weil sie nicht wissen, wie sie ihre Familien durchbringen sollen. Überall hoffen die Menschen auf rasches Glück, die Welt steht an der Kippe und als Prokofjew seine Oper schrieb, stand die Welt in Russland auch an der Kippe", kommt Sellars auf noch Näherliegendes.

"Prokofjew brach mit allen musikalischen Konventionen. Er befand, dass die Musik mit der Gesellschaft Schritt halten müsse. Er schrieb eine Oper für das 20. Jahrhundert, eine Oper für die Zukunft, doch die Zukunft fand nie statt." Denn 1917, kurz vor der geplanten Uraufführung in Moskau, brach die Revolution aus. Prokofjew verließ Russland, kam bis San Francisco, wurde als vermeintlicher Bolschewik kurz festgenommen, ließ sich in den USA nieder und kehrte erst 1936 ins stalinistische Reich zurück. Er starb am 5. März 1953, am selben Tag wie der Diktator.

Der junge Prokofjew hatte einen Blick für starke Stoffe und erkannte das Potenzial des Romans, in dem Dostojewski seine eigene, auf Europareisen exzessiv ausgelebte Spielsucht aufarbeitet. Prokofjew erstand von Dostojewskis Witwe die Rechte und verfasste selbst das Libretto.

Das Werk auf seine russische Herkunft zu reduzieren, wäre komplett falsch, stellt Sellars klar. "Ein Kasino ist ein internationaler Ort, da kommen Menschen aus aller Welt zusammen." Deshalb die Internationalität der Besetzung. Der Tenor Sean Panikkar wurde als Sohn sri-lankischer Immigranten in Pennsylvania geboren. "Er ist überwältigend und absolut furchtlos", rühmt Sellars den Sänger der zentralen Figur Alexej. Nicht zu reden vom Clou der Besetzung: Asmik Grigorian, die in Salzburg als Salome ihre Weltkarriere begann, verkörpert die Polina. "Vielleicht sind auch manche Sänger aus Russland", schiebt Sellars den aktuellen Cancelling-Wahn beiseite. "Aber darum geht es nicht. Man weiß nicht, was als nächstes passiert. Wir leben in einer Nonstop-Panik, auch in den USA. Daher wollte ich das Geschehen nicht auf ein bestimmtes Land fokussieren." Und er selbst? Wandelt ihn vor der Weltlage nicht die Panik an?

Gewalt ist spürbar

"Für Künstler ist es nie gut, wenn sie in Panik geraten. Es ist schrecklich, das zu sagen, aber in den schlimmsten Zeiten wurden die größten Kunstwerke geschaffen, und die Zeiten sind heute so schrecklich, dass sie die Zeitungen nicht zu beschreiben wagen, weil sie dann nichts mehr verkaufen würden. Also liegt es an mir, als Künstler, das zu tun. Niemand", setzt er fort, "weiß heute, was er sagen darf und was nicht. Das gilt nicht nur für Putins Russland, auch der amerikanische Präsident weiß oft nicht, was er sagen darf und was nicht." Schöne Aussichten.

Als Professor an der Universität von Kalifornien sei er heute immer wieder mit Gewalt konfrontiert, fährt Sellars fort. "Man spürt die Gewalt unter den Studenten." Der explodierende Antisemitismus an den Unis? Da will er nicht pauschal urteilen. "Das sind doch nicht alle Antisemiten! Man darf in einem Menschen nicht nur eine einzige Facette sehen. Wenn das geschieht, werden wir uns einmal alle umbringen!" Die Welt rennt in die Irre, schon gibt es Diskussionen, ob man die identitätsstiftenden russischen Klassiker Dostojewski und Prokofjew überhaupt spielen soll. "Es ist ein Albtraum, Dostojewski darauf zu reduzieren, dass er Russe war. Oder Russland auf den aktuellen Krieg. Oder Israel nur auf Israel, und nicht auch über Netanjahu zu diskutieren: Das führt zu nichts. Wir müssen als Künstler die Kommunikation aufrechterhalten. Manchmal braucht man dafür viel Geduld."

Und noch etwas: "Wenn nur ein Hundertstel dessen, was für Kriege ausgegeben wird, in Kunst investiert würde, sähe die Welt anders aus."

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 29/2024 erschienen.

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