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Eine Klinik im Kriegszustand

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Das al-Schifa-Krankenhaus war lange Zufluchtsort für Menschen, die bei Luftangriffen auf den Gazastreifen verletzt wurden.
©Bild: Abed Khaled / AP / picturedesk.com
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Ein Tatort, wo Terroristen grausam Geiseln ermordeten und sich die Hamas-Führung verschanzt, so Israels Armee. Von einem Zufluchtsort für Schwerverletzte und völlig verzweifelte Zivilisten, der gnadenlos angegriffen wurde, sprechen Ärzte und humanitäre Helfer, wenn sie vom al-Schifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt sprechen. Das Spital ist Symbol eines grausam ausgetragenen Konfliktes geworden.

Die Tragödien, die sich im al-Schifa-Krankenhaus im Gazastreifen während der vergangenen Wochen ereigneten, sind schwer zu fassen. Hierher wurden Geiseln der Hamas verschleppt und hier befand sich bis zum Wochenende eine der letzten Oasen der Sicherheit für die Verletzlichsten in dem schwer umkämpften palästinensischen Gebiet. Für Kinder etwa, die Luftangriffe schwer verletzt überlebten, ihre Familien aber nicht. Man nannte sie in der heillos überlasteten Notaufnahme "unbekanntes Trauma-Kind" und sie bekamen eine Nummer. Bereits in der ersten Novemberwoche habe er die Nummer 1.500 vergeben, berichtet Ghassan Abu-Sittah, ein Chirurg, der für die Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" im Einsatz war. "Sie waren schwer geschockt, wurden mit Verbrennungen, Splittern im Körper oder Verletzungen, nachdem Trümmer auf sie gefallen waren, gebracht." Und sie waren völlig alleine, einzig auf Hilfe im größten medizinischen Zentrum Gazas angewiesen.

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Bis zu 15.000 Vertriebene und 1.500 Patienten suchten bis vor Kurzem hier im al-Schifa-Krankenhaus noch Behandlung und Zuflucht. Doch das Krankenhaus ist zur Front im Krieg geworden und der Betrieb steht still. Unter dem Tausende Quadratmeter großen Areal soll sich die Kommandozentrale der Hamas in Bunkern verschanzen, so die Einschätzung der israelischen Armee seit dem Beginn des Krieges. Und hierher soll die Spur zu wenigstens einigen der 240 Geiseln führen.

Am Sonntag präsentierte Daniel Hagari, Sprecher der israelischen Armee, eindeutige Beweise dafür. Er zeigte Videos der Überwachungskameras dieses Krankenhauses. Am 7. Oktober, dem Tag des Hamas-Angriffes, zwischen 10.42 Uhr und 11.01 Uhr, ist darauf zu sehen, wie zwei Männer von Bewaffneten ins Krankenhaus gebracht wurden. Einer liegt verletzt auf einer Bahre, der zweite wird gewaltsam in einen Raum gedrängt. "Das Krankenhaus wurde eindeutig als Schutzschild für die Hamas-Terroristen verwendet," sagte Hagari und, dass es klar sei, dass die verschleppte Soldatin Noa Marciano in dem Krankenhaus ermordet worden sei. Auch die Leiche einer weiteren Geisel, Judith Weiss aus dem Kibbuz Be'eri, wurde in einem Gebäude nahe dem al-Schifa entdeckt.

Seit Mittwoch ist die Eliteeinheit "Shaldag" der israelischen Armee auf dem Areal des Krankenhauses im Einsatz. Es sind Spezialkräfte, die für solche Operationen extra trainiert wurden, um nach Spuren der Hamas-Terroristen zwischen OP-Sälen und Behandlungsräumen zu suchen. Vor allem geht es darum, eindeutig zu zeigen, dass das al-Schifa-Krankenhaus, wie andere medizinische Einrichtungen des Gazastreifens, zwei Funktionen hatte: Hilfe für Kranke und Schutz für Terroristen zu bieten. Gefunden wurden neben den Spuren zu Geiseln Waffen, Munition, Propagandamaterial der Hamas, aber auch der Zugang zu einer Tunnelanlage. Er war von einem Auto verstellt, das mit Sprengstoff beladen war. Darunter entdeckte man einen Schaft mit zehn Metern Durchmesser, der zu einem 55 Meter langen Tunnel bis zu einer Stahlbetontür führte, so die Darstellung der israelischen Armee.

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Aufnahmen, die laut israelischer Armee den Tunnel zeigen, der von Hamas-Terroristen benutzt worden sein soll. © IMAGO/UPI Photo

Es wurden allerdings auch Zweifel laut, ob es sich angesichts der vergleichsweise wenigen Waffen tatsächlich um das Hauptquartier der Hamas handeln dürfte. Dazu wurde eine Liste aus einem anderen Spital, die Namen von Geiseln zeigen sollte, von der israelische Armee mit einem schlichten Kalender verwechselt. Doch mit jedem Tag würden die Beweise dichter. "Wir haben erst die Spitze des Eisberges entdeckt", sagt Armee-Sprecher Jonathan Concricus.

Der Kampf um die Deutungshoheit

Es sind Entdeckungen und dramatische Momente, die nicht nur den Krieg entscheiden könnten, sondern Eindrücke, die weit über den derzeit eskalierenden Konflikt hinaus wirken werden. 1.200 Menschen starben in Israel bei dem horrenden Angriff der Hamas Anfang Oktober. 12.000 sind bei dem Angriff auf die Bastionen der Terroristen im dicht besiedelten Gaza-Streifen umgekommen; die Hälfte von ihnen Kinder. Zentral ist die Frage: Wäre es anders gegangen? Das al-Schifa-Spital illustriert das fürchterliche Dilemma in diesem Krieg: Israel gegen einen Gegner, der mit allen Mitteln kämpft, auch die eigene Bevölkerung quasi den Kämpfen ausliefert. Zynisch wurden zivile Einrichtungen wie Krankenhäuser als Schutzschild für die Terroristen ausgebaut. Diese hatten dafür viel Zeit, seit 2007 kontrolliert die Hamas militärisch, aber auch politisch das Gebiet, das gerade so groß wie Wien ist und wo 2,3 Millionen Menschen leben. Hier liegen auch das Gesundheitsministerium und Kliniken wie das al-Schifa.

Heilung oder Hölle?

Das Spital war eine Institution, geprägt von Politik und Konflikten seit seiner Entstehung. Ursprünglich befanden sich hier Sanitäts-Baracken der britischen Armee, die während des Ersten Weltkrieges errichtet worden waren. Als Großbritannien ab 1918 die Region als Mandatsgebiet unter seine Kontrolle brachte, wurde die militärische Einrichtung in ein ziviles Krankenhaus umgebaut: In das Dar al-Schifa, übersetzt, das Haus der Heilung. Im Sechstagekrieg 1967 eroberte Israel den Gazastreifen von Ägypten; übernahm auch die Verwaltung der Klinik. Sie wurde aufwendig modernisiert: Das al-Schifa sollte ein Leuchtturmprojekt für Israels Investitionen in den besetzten Gebieten sein. Das Abkommen von Oslo 1993 räumte den Palästinensern eine teilweise Autonomie ein. Wahlen für die politische Führung und ein Parlament fanden statt, die 2006 die Hamas gewann und danach den Gazastreifen übernahm. Politisch und militärisch. Nun ist das "Haus der Heilung" von den Terroristen vereinnahmt und zum Angriffsziel geworden. Als "Todeszone" bezeichnete der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation das al-Schifa am Samstag. Eine hochriskante Evakuierungsmission der Vereinten Nationen und des Roten Halbmondes gelangte für eine Stunde in das Krankenhausareal, um jene zu bergen, die irgendwie in einen Rettungswagen gebracht werden konnten. Darunter 39 Frühgeborene. An diesem Tag starben laut Angaben des verbliebenen medizinischen Personals jene, die auf den Intensivstationen waren. Es gab keinen Strom, keinen Sauerstoff und auch kein Wasser mehr. Mit dem Angriff der israelischen Armee wurden die Leitungen dafür gekappt.

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© News

"Die Menschen weinen vor Durst", schilderte der Krankenhausdirektor Muhammed Abu Salmiya kurz vor der Evakuierung am Wochenende die verzweifelte Lage in der Klinik. Drohnen würden über dem Areal surren, Schüsse wurden auf das Krankenhaus abgefeuert, Glastüren und Fenster zerschellten bei Detonationen, ein Trakt der Klinik ist zerstört. "Wir hören Schüsse, die in den Klinikmauern einschlagen. Deshalb haben wir in den Gängen Schutz gesucht", schilderte der Chirurg Ahmed Mokhallalati per Telefon die Lage. "Wir konnten nichts mehr tun, um die schwer Verletzten zu versorgen, wir versorgten notdürftig die Wunden", berichtet ein Sanitätshelfer, "dann sahen wir ihnen beim Sterben zu." Im Innenhof stapelten sich die Leichen. "Wir konnten sie nicht einmal noch begraben."

Der Arzt Ghassan Abu-Sittah ist mittlerweile gegangen. Im wahrsten Sinne des Wortes. 16 Kilometer zu Fuß zu einem Vertriebenen-Lager vom Norden des Gazastreifens in den Süden. Es gebe nichts mehr für ihn zu tun, schrieb er zum Abschied: An diesem Tag haben Tausende wie er die Hoffnung aufgegeben, im al-Schifa den Krieg überleben zu können. Ein langer Tross wälzte sich durch einen Sicherheitskorridor, vorbei an dem ehemaligen Stadtzentrum, dessen Gebäude in Trümmer liegen, durch eine vom Krieg zerfurchte Straße. Laut dem Sender "Al-Arabiya" berichteten sie von "Dutzenden verwesenden Leichen am Fahrbahnrand."

Die Schlacht der Bilder

Der Krieg zwischen Israel und der Hamas wird auch mit Bildern geführt: Von schwer verwundeten Kindern in Gaza und den malträtierten Opfern des Hamas-Angriffes. "Eine regelrechte Dämonisierung beider Seiten passiert, und die war möglich, weil es in der Vergangenheit kaum noch Begegnungen zwischen Israelis und Palästinensern gegeben hat," sagt Mohammed Darawshe, Strategie-Direktor am Givat Haviva Zentrum in Jerusalem. Das Vakuum fehlender echter Eindrücke ist ein Nährboden für Bilder des anderen, für die Darstellung des Konfliktes.

Vom ersten Moment an spielten dabei die Bilder eine fast ebenso große Rolle wie die Taten der Terroristen. Bei dem fürchterlichen Angriff auf 22 Städte, Dörfer und ein Musikfestival waren die Hamas-Anhänger auch mit Body-Kameras hochgerüstet. Alles sollte dokumentiert werden. "Gräuel-Propaganda" wird diese Taktik genannt, die darauf abzielt, mit Brutalität Macht zu demonstrieren. Terror in kaltblütiger Reinform. Es waren die grausamen Bilder, die plötzlich die Verwundbarkeit Israels plakativ aufzeigten. "Das zeigte Resonanz in der gesamten arabischen Welt", sagt Gaith al-Omari, einst Medien-Berater der Palästinensischen Autonomiebehörde und ein ausgesprochener Gegner der Hamas.

Der Name des Angriffes, "Al-Aksa-Flut" zeigt, was damit bezweckt werden sollte: Mit der Anspielung auf die für den Islam so zentrale Moschee in Jerusalems Altstadt soll ein Führungsanspruch für alle Palästinenser gestellt werden. Die bösartige Strategie ging zum Teil auf; vor allem durch den arabischen Kanal des TV-Senders al-Jazeera, der diese Darstellung übernommen hat. Die Hamas wird dort als kämpferische Widerstandsgruppe bezeichnet, die gegen eine übermächtige Besatzung kämpft, der Angriff als Mittel der Wahl eingeordnet. Die israelische Ankündigung, man werde die Hamas zerstören, spiele dieser in die Hände. "Die Botschaft,'Wir zerstören die Hamas' wird als 'Wir zerstören Gaza' verstanden," meint Shibley Telhami, Politikwissenschaftler an der US-Uni Maryland.

Bilder von verwundeten Kindern aus dem Gazastreifen vertieften diesen Eindruck. Israels Regierung und besonders die Führung der Armee rang damit, ihre Position des legitimen Verteidigungskrieges zu behaupten. Entscheidend war, entgegengesetzt zur Position der Palästinenser, darauf zu bestehen, dass der Hamas-Angriff vom 7. Oktober unter keinen Umständen mit der Politik Israels in den Palästinensergebieten zu vergleichen sei. Der schwerste Angriff gegen Juden und Jüdinnen seit dem Holocaust ist eine Tat, die so fürchterlich ist, dass jedes Verständnis obsolet sei. Doch die verzweifelten Bilder aus Gaza drohten die fürchterlichen Taten gegen Israels Bevölkerung zu überschatten, deshalb wurden die Videos, die bei getöteten Hamas-Terroristen gefunden wurden, internationalen Journalisten gezeigt, um diese -nachvollziehbare - Position zu vertiefen.

Eine wesentliche Rolle spielten bei der Darstellung der "Operation Eisernes Schwert" der israelischen Armee im Gazastreifen auch die Sprecher-Persönlichkeiten. Mit Jonathan Conricus, der seit einer kleinen Ewigkeit internationale Medien für Israels Armee betreut, und dem routinierten Daniel Hagari, der nahezu omnipräsent ist, wird eine sehr klare Botschaft ausgestrahlt: Hier sind Profis am Werk, klar, präzise und ruhig, auf der anderen Seite handelt es sich um blindwütige Terroristen.

Wem wird noch geglaubt? Diese Frage ist trotz aller Mühen offen. Soziale Medien erwiesen sich wie in allen Konflikten des digitalen Zeitalters als Verstärker auch manipulierter Nachrichten und Bilder. So wurde eine Aufnahme eines Protestes der ägyptischen Muslimbruderschaft aus dem Jahr 2013, bei dem sich die Aktivisten in Leichentücher wickelten und dann wieder seelenruhig und lebend den Platz verließen, als Beweis missbraucht, dass palästinensische Opfer ihren Tod nur darstellen, aber nicht erleiden. Millionenfach wurden die Aufnahmen, die in einem fälschlichen Kontext gezeigt wurden, über soziale Medien geteilt. Das Schlagwort "Pallywood" wurde kreiert. Eine Wortschöpfung aus Palästina und Hollywood.

Der Keim des Zweifels ging auf, unterstützt von zahlreichen ähnlichen angeblichen Beweisen, die zeigen sollten, dass Verwundete in Gazas Spitälern nur Schauspieler seien. Wieder wurden Aufnahmen von Filmproduktionen als "Beweise" gezeigt. Doch auch von palästinensischer Seite wurde die Info-Flut von TikTok &Co für Manipulationen genutzt. Getürkte Aufnahmen wurden geteilt, die zeigen sollten, dass es israelische Kampfhelikopter waren, die israelische Jugendliche bei dem Rave in der Wüste angegriffen hätten, und nicht die Terroristen der Hamas.

Selbst wenn sich im Nachhinein solche Fehler entlarven lassen: Es bleibt das Gefühl, dass es, immer einen doppelten Boden gibt. Neutrale Beobachter tun sich in diesem Krieg sehr schwer: Internationale Medien haben so gut wie keinen Zugang zum Gazastreifen. Die Berichterstattung übernehmen lokale Angestellte und ihr Los zeigt, dass selbst, wenn Reporter-Reisen in den Gazastreifen erlaubt wären, das Risiko kaum noch vertretbar ist. 68 Reporter starben in Gaza. So viele wie in kaum einem Konflikt.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 47/2023 erschienen.

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