Der Nahostkonflikt droht nach dem brutalen Angriff von Hamas-Terroristen gegen Israels Bevölkerung zu eskalieren. Der neue Krieg gegen die Terroristen könnte sich bis in den Libanon und Syrien ausdehnen, wo Hamas-Verbündete ihre Stellungen halten: Diese Gruppen werden vom Iran finanziert und orchestriert, der so den lang angekündigten Krieg gegen den Erzrivalen Israel vom Zaun brechen könnte.
Israel ist im Kriegszustand. Zum ersten Mal seit einem halben Jahrhundert. Der Alptraum wird zum Alltag. Angst vor erneuten Angriffen in ihren eigenen Städten bis hinein in ihre Häuser versetzen die neun Millionen Menschen vom Süden des Landes und nun auch bis Jerusalem, wo es zu schweren Ausschreitungen kommt, bis in den Norden Israels in Panik. Die Bevölkerung von 20 Dörfern dicht an der Grenze zum Libanon ist bereits evakuiert worden. Berichte häufen sich, dass auch Mitglieder der Hisbollah-Miliz aus dem nördlichen Nachbarland ins Land einsickern. Panik grassiert, dass sich hier die fürchterlichen Ereignisse im Grenzgebiet zum Gaza-Streifen vom vergangenen Samstag wiederholen könnten.
Mit einem Mal scheinen sämtliche Horrorszenarien bedrohlich nahe. Israel scheint verwundbar wie nie. Raketen aus dem Gaza-Streifen und auch aus dem Südlibanon gelingt es seit Tagen, den Schutzschild des "Eisernen Doms" zu durchdringen. Sie schlagen in Tel Aviv ein, in Jerusalem, töten Menschen, verursachen schwere Schäden. Für den größten Schock sorgten die Angriffe von Terroristen der Hamas und des Palästinensischen Dschihad. Das Land steht unter Schock und rüstet nun zur Verteidigung.
Immer mehr Fronten
"Der Krieg gegen die Hamas ist ein Krieg um unsere Zukunft, der länger dauern kann", formulierte es Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant: "Es geht um unsere Existenz in der Region und es werden in diesem Kampf nie dagewesene Schritte unternommen." Noch deutlicher wurde am Dienstag General Ghassan Aliyan, Kommandant der israelischen Armee in den besetzten Gebieten. In einer Botschaft adressiert an die Hamas: "Ihr wolltet die Hölle, ihr bekommt die Hölle."
Seit der Nacht von Samstag auf Sonntag wird der Gaza-Streifen, von wo aus die Hamas-Terroristen ihre Angriffe starten, massiv bombardiert. Das Gebiet -in etwa so groß wie Wien, wo 2,3 Millionen Menschen leben - wurde von der Außenwelt abgeschottet. Hier tobt dieser neue Krieg bereits, der auf beiden Seiten auf den Rücken der Zivilbevölkerung ausgetragen wird. Zu befürchten ist, langfristig nicht nur in Israel und den Palästinenser-Gebieten. Es drohen nun mehrere Fronten aufzubrechen. Im Libanon und auch Syrien, wo die eng mit der Hamas verbündete Hisbollah-Miliz ihre Stellungen hält. Diese Gruppe droht Israel in einen zweiten Konflikt zu ziehen, um der Hamas Spielraum zu verschaffen. Alleine am Dienstag steuerten 15 Raketen aus den Hisbollah-Stellungen im Südlibanon auf Israel. Auch hier haben die Menschen Angst: Seit Montag flüchten Tausende Libanesen aus dem Süden in Richtung Beirut.
Es droht ein regionaler Flächenbrand, entfacht durch die Eskalation einer lange schwelenden, hochbrisanten Konflikt-Linie im Nahen Osten: Jene zwischen Israel und dem Iran. Denn sowohl die Hisbollah wie auch die Hamas werden von der Islamischen Republik unterstützt. Dies mehr als offensichtlich auch jetzt: Der iranische Präsident Ebrahim Raisi gratulierte, wie er sagte, "der gesamten palästinensischen Bevölkerung zu der gelungenen Operation." Und in einem Interview mit der BBC brüstete sich ein Sprecher der Hamas mit der Ansage: Ohne die Hilfe unserer Verbündeten in Teheran hätten wir das nie geschafft, das mache ihn sehr stolz.
Trügerische Sicherheit
Die Vorzeichen sind alarmierend. "Rüstet euch für einen langen Krieg, stockt die Vorräte auf", rät derzeit der israelische Zivilschutz. So sind die Grundnahrungsmittel in vielen Läden ausverkauft, die Schulen vorerst geschlossen, 300.000 Reservisten eingezogen. Militärkonvois wälzen sich an die möglichen Fronten: Hin zum Libanon, zu den Golan-Höhen am syrischen Grenzgebiet und hin zum Gaza-Streifen. Noch geht es vor allem auch um Psychologie. Es gilt, den Glauben an die Verteidigungsfähigkeit Israels wieder zu etablieren, eine der Grundsäulen der Identität.
Diese ist seit den Ereignissen nahe dem Gaza-Streifen schwer havariert. 1,2 Milliarden Euro hat der Bau des Grenzzauns gekostet; drei Jahre wurde gebaut. "Eine Barriere der Spitzenklasse, ausgestattet mit bester Technologie", lobte der damalige Verteidigungsminister Benny Ganz das Projekt, als es vor vier Jahren fertiggestellt wurde: "Es ist ein mit Sensoren und Beton verstärkter Wall, der unsere Bevölkerung vor den Terroristen schützt", sagte er.
Doch dieser konnte die versprochene Sicherheit nicht bieten. Hamas-Terroristen konnten diese Hürde am Samstag in den frühen Morgenstunden mit Bulldozern problemlos durchdringen. Vorher dürfte mit gezielten Sprengsätzen die Stromversorgung gekappt worden sein und Beobachtungsposten ausgeschaltet. Die Operation dürfte lange vorbereitet worden sein, sogar motorisierte Paragleiter waren im Einsatz. Mindestens 1.500 Terroristen gelangten so nach Israel.
Sie töteten mehr als 1.200 Menschen mit schier unfassbarer Brutalität. Jugendliche, die in einem Wald bei dem Dorf Re'im eine Rave-Party feierten, alte Menschen an Bushaltestellen, Familien in ihren Häusern. Allein in dem winzigen Dorf Kfar Aza sind am Dienstag die Leichen von 40 Babys und Kleinkindern geborgen worden. "Es war der tödlichste Angriff gegen Juden an einem einzigen Tag seit dem Holocaust," zieht Deborah Lipstadt, die weltweit führende Expertin in der Erforschung des Holocaust, eine dramatische Bilanz.
Weltweit herrscht Abscheu angesichts der sadistischen Gewalt. Aber es kursiert auch die Frage: Wie konnte Israels Armee, die zu den schlagkräftigsten der Welt zählt, samt einem der besten Geheimdienste diese sich anbahnende Katastrophe übersehen? "Man hat die falsche Bedrohung aus dem Iran im Visier", versucht dies David Schenker in der israelischen Zeitung "Ha'aretz" zu beantworten: "Israels Regierung war fixiert auf das iranische Atomprogramm. Doch die wahre Gefahr entstand durch die Hochrüstung von Irans Verbündeten, der Hisbollah und der Hamas."
Noch härter ins Gericht mit der israelischen Führung geht sein Kollege, der Journalist Amir Tibon: "Was geschehen ist, war das größte Versagen einer Regierung in der Geschichte Israels. Es gab Warnungen von unseren Geheimdiensten, aber auch sehr klare Berichte aus Ägypten, die Wind von einer geplanten massiven Operation an der Grenze zum Gazastreifen gekommen hatten", sagt er in einem Interview. Sein Zorn ist zu begreifen, denn er lebte in einem der von der Hamas überfallenen Dörfer, in Nahal Oz. Dass er noch dort lebt, verdankt er dem mutigen Einsatz seines Vaters Ziv Isreals, einem pensionierten Armeeangehörigen, der von Tel Aviv in den Süden raste, um seinen Sohn zu retten. Nun hat Amir Tibons Geschichte vom Überfall der Terrorkommandos ein gutes Ende gefunden. "Saba higea", rief seine kleine Tochter Galia, nachdem sie ein Klopfen an der Tür des Bunkers und vertraute Stimmen gehört hatte. Es bedeutet, "Der Opa ist hier." Zu diesem Zeitpunkt hatten Amir Tibon, seine Frau Miri und ihre beiden kleinen Töchter zehn Stunden im Bunker des Hauses verbracht. In Dunkelheit, ohne sich zu bewegen, ohne einen Mucks zu machen.
Sie waren durch das Pfeifen von Granaten geweckt worden. Während sie noch ihre Sachen packten, um für einige Zeit im Schutzraum ausharren zu können, hörten sie das Knattern von automatischen Waffen. Erst aus allen Richtungen, dann aus dem Garten, gefolgt von Schreien auf Arabisch. "Ich spreche die Sprache und wusste sofort, was los war", so Tibon. Vor der Flucht in den Bunker gelingt es ihm noch, eine Textnachricht an seinen Vater zu schicken. "Hilfe, hier sind Terroristen."
Verschleppte Personen
Die Geschichte der Rettung dieser Familie ist schier unglaublich: Der 60-jährige Vater des Journalisten startete mit Freunden, die mit ihm in der Armee dienten, ein privates Rettungskommando. Auf dem Weg zu seinem Sohn wurde er Zeuge einer der fürchterlichsten Angriffe auf die israelische Zivilbevölkerung in der 75-jährigen Geschichte des Landes. Er fuhr an verlassenen Autokolonnen vorbei, die Fahrgäste erschossen in den Wracks, sah ermordete Zivilisten. Er kämpfte sich im Alleingang zu seinem Sohn durch, trotz aller Risiken. Nicht nur jenem, erschossen zu werden, sondern zur Geisel der Hamas zu werden.
Dies zählt zu den entsetzlichsten Aspekten dieses Übergriffs. Mindestens 200 Personen wurden verschleppt; darunter zahlreiche Frauen, aber auch Kinder, bis hin zu einem neun Monate alten Baby. Auch zwei schwerkranke Frauen, die über 80 Jahre alt sind, hat die Hamas in ihre Gewalt gebracht. Betroffen sind nicht nur Israelis, sondern Staatsbürger aus zahlreichen Staaten der Welt; höchstwahrscheinlich auch drei Menschen mit österreichischem Pass.
Für ihre Angehörigen bedeuten diese Tage eine schier unvorstellbare Tortur. So hat Yoni Asher zum letzten Mal am Samstag um neun Uhr mit seiner Frau Doron gesprochen, die samt der beiden kleinen Kinder ihre Mutter im Süden Israels besuchte: "Wir sind im Schutzraum", flüsterte sie da ins Telefon. "Es sind Terroristen im Haus." Danach war die Leitung tot, aber er konnte ihr Mobilgerät orten: In der Stadt Khan Younis, im Gaza-Streifen. Und Yoni Asher entdeckte ein Video auf Sozialen Medien, das zeigt, wie ein Mann einer Frau eine Augenbinde anlegt, neben ihr dicht gedrängt zwei kleine Mädchen und eine ältere Frau: "Es war wie ein Schlag, aber ich bin sicher. Das sind meine Frau, meine Kinder und meine Schwiegermutter."
Die Angst um sie zermürbe ihn, sagt er. "Wenn Israel das Bombardement Gazas nicht stoppt, werden wir beginnen, Geiseln vor laufender Kamera zu erschießen und das weltweit übertragen", kündigt Abu Obaida, der Sprecher des bewaffneten Flügels der Hamas am Montag an. Ob sich Israels Regierung dem beugen wird, ist wenigstens vorerst fraglich. Bereits am Samstag kündigte Verteidigungsminister Bezalel Smotrich an: "Wir werden die Hamas mit voller Härte angreifen und dabei keine Rücksicht auf die Frage der Geiseln nehmen."
Wie viel er künftig zu sagen haben wird, ist allerdings fraglich. Die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit der wichtigsten Parteien steht im Raum. Wahrscheinlich müssen dafür Netanyahus bisherige radikale Bündnispartner Platz machen. Zu ihnen zählt Smotrich, in erster Linie aber Polizeiminister Itamar Ben-Gvir, der radikale Siedler vertritt.
Kritik an der Regierung
Bereits seit Monaten ist die Regierung mit eine massiven Protestwelle konfrontiert. Im Zentrum der Kritik stehen eine Justizreform, aber auch ihre Westjordanland-Politik, die auf eine Annexion der Gebiete hinauszulaufen schien, auf Kollisionskurs mit der palästinensischen Bevölkerung zusteuerte. Im Westjordanland hatte sich der Konflikt zuletzt dramatisch zugespitzt, deshalb konzentrierte sich vergangenen Samstag Israels Sicherheitsapparat auf den Schutz der jüdischen Bevölkerung in den besetzten Palästinenser-Gebieten; der Süden, der Raum um Gaza, war nicht im Fokus.
Die Vorbereitungen für den Großangriff am Samstag konnten auch deshalb anscheinend weitgehend unbehelligt laufen. Dazu war die Bevölkerung den Terroristen lange schutzlos ausgeliefert. Es dauerte schlussendlich Tage, bis die Grenze zu Gaza wieder unter Kontrolle der israelischen Armee stand. Als die "Al-Aksa Sturmflut" bezeichnete die Hamas ihren brutalen Ansturm auf Israels Grenzregion. Mit diesem Bezug zu dem muslimische Heiligtum in Jerusalems Altstadt, scheint auch die politische Stoßrichtung klar: Die Hamas will angesichts der Zuspitzung die Führung der Palästinenser übernehmen. Ob die Gruppe dies mit den abscheulichen Verbrechen im Süden Israels erreicht, ist mehr als fraglich. Wie Österreich stellen weltweit Staaten derzeit ihre humanitäre Hilfe für die Palästinenser infrage.
Seit 2007 hat in Gaza die Hamas das Sagen, die bereits 1986 aus der palästinensischen Fraktion der Muslimbruderschaft heraus entstand. Sie ging in frontale Opposition zu Jassir Arafats Fatah-Partei, die 1993 einen Pakt mit Israel schloss: Das Oslo-Abkommen sah eine schrittweise Annäherung an einen palästinensischen Staat vor, bot die Grundlage für die Entstehung der Palästinensischen Autonomiebehörde. Für die Hamas war dies Verrat und die Gruppe torpedierte mit zahlreichen Selbstmordanschlägen gegen die israelische Bevölkerung das Abkommen.
Terrorstaat der Hamas
Während Arafats Erben das Westjordanland kontrollieren, baute die Hamas in Gaza einen regelrechten Terrorstaat auf. Die Bevölkerung - unter ihnen ist die Hälfte minderjährig - schlitterte in eine humanitäre Katastrophe, zerrieben in dem Dauerkonflikt zwischen der Terrorgruppe und Israel. Nun scheint die Lage völlig ausweglos: Vorerst wurden alle Grenzübergänge ausnahmslos geschlossen, Wohngebiete sind im Visier von Bombardements, die Helfer vor Ort sind völlig überfordert. Die medizinische Hilfe kollabiert.
So scheint es derzeit nur einen - noch - stillen Sieger zu geben: die Führung im Iran. Seit Jahren schürt die Islamische Republik mithilfe eines Netzwerks an verbündeten bewaffneten Gruppen den Konflikt mit Israel. Ihre Achse des Widerstands, die von den Revolutionsgarden seit den 1980er-Jahren aufgebaut wird, reicht von der Hamas-Bewegung und dem Palästinensischen Jihad bis zur libanesischen Hisbollah, Milizen, die aufseiten des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad kämpfen, bis zu bewaffneten schiitischen Gruppen im Irak und den Houthi-Milizen im Jemen. Laut einer Analyse des US-amerikanischen "Wilson Instituts", in der die Geldflüsse aus der Islamischen Republik akribisch untersucht wurden, zeigte sich, dass jährlich alleine umgerechnet bis zu 100 Millionen Euro von Teheran an die Hamas fließen.
Denn die Hamas scheint der Führung des Irans viel wert zu sein. Bereits im August des Vorjahres hat Hossein Salami, Kommandant der Revolutionsgarden, öffentlich darüber spekuliert, wie es möglich sein könnte, "Israel zu zerstören." Dabei seien weniger Drohnen und Raketen der Schlüssel, sondern Bodenoffensiven der Verbündeten Hisbollah und der Hamas.
"Solche Operationen würden Chaos verbreiten, schlussendlich das Land destabilisieren", sagte Salami. Verstärkt wird der Eindruck, dass der Iran mutmaßlich eine wesentliche Rolle bei den Vorbereitungen gespielt habe, durch die auffällige Reisetätigkeit Esmail Ghanis, des Chefs der Auslandsagenden der iranischen Revolutionsgarden: Mehrmals ist er in den vergangenen Wochen in der libanesischen Hauptstadt Beirut aufgetaucht, wo er sich mit Vertretern der Hisbollah, aber auch der Hamas getroffen hat.
Die Rolle des Iran
Noch fehlen eindeutige Beweise dafür, dass der Hamas-Angriff gegen Israel vergangenen Samstag tatsächlich vom Iran orchestriert wurde. "Sicher ist auf jeden Fall, dass die Hamas und auch der Palästinensische Jihad massiv von dem Land unterstützt wurden", formuliert der führende israelische Iran-Experte Raz Zimmt in einer Analyse: "Auf jeden Fall ist diese Operation ein Ereignis, das die Lage im Nahen Osten massiv verändern wird. Auch wenn der Iran vielleicht nicht direkt diese Operation angeordnet haben sollte, kann sich die Führung in Teheran nicht mehr aus dem Konflikt heraushalten, wenn das Überleben ihrer wichtigsten Verbündeten auf dem Spiel steht."
Der Beitrag erschien ursprünglich im News 41/2023.