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"Dieses Feindbilddenken muss ein Ende haben"

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Politik - "Dieses Feindbilddenken muss ein Ende haben"
©Bild: Trend Lukas Ilgner
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Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger über Antisemitismus in Österreich, ein Schulfach Demokratie und Alarmsignale für die liberale Demokratie in Österreich. Neos stünden nach der Nationalratswahl zwar für eine Reformkoalition bereit, aber nicht als "Steigbügelhalter" für den Machterhalt von ÖVP und SPÖ.

Österreich, 85 Jahre nach den Novemberpogromen: Nach Jahren des "Nie wieder" müssen wir feststellen, dass Antisemitismus offen zur Schau getragen wird. Haben wir uns ein falsches, naives Bild unserer Gesellschaft gemacht?
Ich glaube nicht, dass wir das falsche Bild hatten, aber es war jedenfalls viel zugedeckt. Wir haben eine aktive Erinnerungskultur, sagen immer wieder appellativ "Nie wieder!", ich weiß aber nicht, ob das noch auf fruchtbaren Boden fällt, oder ob es eine inhaltslose Phrase geworden ist. Das zeigt sich dramatisch am Anschlag auf den jüdischen Teil des Zentralfriedhofs und an den Attacken auf Israel-Fahnen. Oder daran, dass sich Jüdinnen und Juden nicht in die Schule trauen, weil sie bedroht werden. Das heißt, dass man etwas tun muss. Deswegen habe ich auch kurz nach dem 7. Oktober klar gesagt "Niemals wieder ist jetzt". Es reicht allerdings nicht, mit dem Finger auf muslimische Zuwanderer zu zeigen und zu sagen: "Seht her, wir haben Antisemitismus importiert." Offensichtlich ist auch bei uns in der Gesellschaft Antisemitismus unter der Oberfläche herumgewabert.

Viele sind überrascht vom links-intellektuellen Antisemitismus, der sich zeigt.
Der hat mich nicht überrascht. Im Wiener Gemeinderat gibt es eine Arbeitsgruppe Antisemitismus, und da gab es intensive Diskussionen darüber, welche Gruppen Antisemitismus vorbringen. Da haben wir über muslimischen Antisemitismus gesprochen. Das war gar nicht leicht mit der Wiener SPÖ, da wollte man nicht hinschauen oder den Deckel draufhalten. Ich sage das ganz bewusst so scharf. Und das Zweite war die Diskussion, was legitime Israel-Kritik ist, etwa am Siedlungsbau, und wo Antisemitismus beginnt. Da haben wir gesehen, dass es im Bereich der NGO, beispielsweise bei Amnesty International -nicht beim österreichischen Ableger, aber international -, Aussagen gab, die antisemitisch waren. Das heißt: Dass es diese Form des Antisemitismus gibt, war mir klar. Ich sehe immer wieder die Hufeisen-Theorie bestätigt: Egal, ob es um Russland geht oder Antisemitismus, teilweise können einander Links- und Rechtsextreme die Hand geben.

Selbst nach den grausamen Morden der Hamas ...
... kam aus dieser Richtung sofort das "Ja, aber". Ich bin eine Freundin der Kontextualisierung im politischen Diskurs. Die findet zu wenig statt, und es wird zu sehr auf die Schlagzeile geachtet. Manchmal wird Kontextualisierung aber zur Relativierung benützt, zum Verwischen der klaren Grenze zwischen Gut und Böse. Dabei ist es ganz einfach: Ich kann Israel kritisieren, die Regierung dort, die Siedlungspolitik, und trotzdem ist völlig klar, dass die Hamas dort Verbrechen begangen hat. Da brauche ich kein "Ja, aber" und keinen Rechtfertigungsversuch. Hier hat eine Terrororganisation Menschen brutal abgeschlachtet, vergewaltigt und entführt. Ich kann auch sagen, dass diese Terrororganisation die Palästinenser in Gaza in Geiselhaft hält. Und: Israel hat das Recht zur Selbstverteidigung, solange zur Auslöschung des Staates Israel aufgerufen wird.

Vor diesem Hintergrund hat die Zuwanderungsdebatte Fahrt aufgenommen. Man spricht von "importiertem Antisemitismus".
Es gibt auch den alteingesessenen rechtsextremen Antisemitismus. Oder jenen, der anekdotisch durch Witze über Juden ausgetragen wird.

Was Zuwanderer betrifft, wird die Forderung erhoben, diese abzuschieben, wenn sie durch Antisemitismus auffallen, was rechtlich gar nicht möglich ist. Neos fordern hingegen ein Schulfach: "Leben in der Demokratie". Wie soll das ablaufen? Und wie wird jüdischen Kindern geholfen, die sich jetzt nicht in die Schule trauen?
Gerade beim Thema Bildung hört man ja immer als Erstes, was nicht geht, und ich sage ganz ehrlich, ich hab die Nase voll von diesen Diskussionen. Es geht ganz viel nicht im Bildungssystem, und das ist ein Teil des Problems. Es muss mehr geben als fakultative Angebote, wo sich AHS in gutbürgerlichen Bezirken für ein paar Stunden irgendeine Demokratieinitiative ins Haus holen. Wir müssen mit dem Thema an die Brennpunktschulen. Es geht darum, die Grundwerte unserer Gesellschaft zu vermitteln, die unverhandelbar sind, darum, Demokratie zu erleben, und nicht darum, irgendetwas über ihre Institutionen auswendig zu lernen. Was macht eine liberale Demokratie aus, in der das Individuum mit Rechten und Freiheiten ausgestattet ist? Offenbar braucht es diese Diskussion. Wir sagen: "Unser Glaube heißt Demokratie", und ich bin überzeugt, dass wir da viel entschlossener und wehrhafter vorgehen müssen. Kann ich deswegen alle abschieben, die nicht meiner Meinung sind? Kann ich selbstverständlich nicht. Das wäre ja auch keine liberale Demokratie mehr. Ich kann Menschen nicht für ihre Gesinnung bestrafen, sehr wohl aber für ihre Taten. Da könnte man angesichts der jüngsten Vorkommnisse schon schärfer vorgehen. Und wenn jemand unsere liberalen Grundwerte in Frage stellt, erlaube ich mir schon die Gegenfrage, warum er oder sie überhaupt hier leben möchte? Dann soll er oder sie bitte woanders hingehen. Eine liberale Demokratie muss wehrhaft sein. Wie Popper gesagt hat: "Keine Toleranz der Intoleranz." Aber die Frage ist: Wo verläuft da der Grat? Im Abwehrkampf gegen Autoritarismus darf Demokratie nicht zur Autokratie werden.

Man muss der FPÖ nicht den Schlüssel zur Macht in die Hand geben, selbst wenn sie bei 30 Prozent steht

Traurig, dass man Demokratie zum Schulfach machen muss, weil sie keine Selbstverständlichkeit mehr ist.
Der letzte Demokratie-Monitor von Sora hat gezeigt, dass es in Österreich keine absolute Mehrheit von Menschen mehr gibt, die sich gegen die Aussage stellen wie "Es braucht wieder einen starken Führer, der sich nicht um Parlament und Wahlen zu kümmern hat". Das macht mir richtig Angst. Und da ist mir egal, von welcher Seite die Bedrohung kommt - ob das Islamisten sind, die vom Kalifat träumen, oder Rechtsextreme, die sich einen autoritären Staat vorstellen.

Sehen Sie diesbezüglich Alarmsignale in Österreich?
Es ist nicht nur ein österreichisches Phänomen. International nimmt die Zahl der liberalen Demokratien ab. Sie geraten durch rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien unter Druck. In Italien hat die Verfassungsreform, die Giorgia Meloni vorschwebt, klar autoritäre Züge. Und man merkt, dass das Feindbild wieder zurück im politischen Diskurs ist. Da meine ich jetzt nicht nur die FPÖ. Da müssen sich alle Parteien an der Nase nehmen, etwa SPÖ und ÖVP, die jeden Tag zeigen, dass sie einander nicht nur als politische Gegner, sondern als Feinde sehen, die vernichtet werden müssen. Wie soll das weitergehen? Der Kern der Demokratie besteht doch in Konsensfähigkeit, auch wenn man über Inhalte streiten können muss. Dieses Feindbilddenken muss ein Ende haben. Wir brauchen ein Abrüsten der Rhetorik.

Glauben Sie, dass das in einem Wahljahr möglich ist?
Ich kann versprechen, dass wir uns bemühen werden. Politik kann nicht so weitermachen. Es geht nur noch um Polarisierung, nicht mehr um Lösungen.

Im Buch "Wie Demokratien sterben" beschreiben Steven Levitsky und Daniel Ziblatt eine Entwicklung: Populisten rufen den Kampf gegen Eliten aus, stellen andere Parteien als undemokratisch hin, versprechen dem Volk die Macht. Wie weit sind wir in dieser Entwicklung?
Der Zug geht in diese Richtung. Man muss ihn aufhalten, und zwar mit den Mitteln der Demokratie, der Debatte und des Diskurses. Das mag naiv klingen. Wenn es hart auf hart kommt, auch mit einer wehrhaften Demokratie. Ich finde sehr wohl, dass man in einer Demokratie erwarten kann, dass alle Parteien ein grundsätzliches Bekenntnis zur Demokratie, zur Pluralität, zu den Menschenrechten etc. abgeben. Alles andere ist demokratiefeindlich. Ich muss auch sagen, ich bin gegen diese Leitartikel, wo nur den anderen Parteien ausgerichtet wird, was sie falsch machen, wenn Populisten und Rechtsextreme gewinnen.

Was würden Sie lieber lesen?
Ernsthafte Debatten darüber, was die wollen, und dass vieles davon ganz klar nicht mit einer liberalen Demokratie vereinbar ist. Es ist keine Lösung, wenn wir nur sagen: alle gegen Kickl. Du brauchst Lösungen in der Politik. Du musst kooperationsfähig sein. Wir wollen nicht mit der FPÖ koalieren, das geht sich nicht aus, auch wegen ihrer Europa-Position. Wir wollen keinen Öxit. Aber zusammenarbeiten sehr wohl. Etwa beim ORF, wo wir verhindern wollen, dass die Regierung nach dem Erkenntnis des VfGH nur einen Minimalkompromiss hinter verschlossenen Türen ausbaldowert.

Im Buch wird dargelegt, dass gemäßigte Parteien Populisten legitimieren, indem sie mit ihnen zusammenarbeiten. Wie sehen Sie das?
In Sachfragen kann man zusammenarbeiten. Warum denn nicht? Grundsätzlich bin ich aber der Meinung, dass man der FPÖ nicht den Schlüssel zur Macht in unserer Republik in die Hand geben muss, selbst wenn sie bei 30 Prozent steht. 30 Prozent ist ja noch keine Mehrheit.

Dann haben immer noch 70 Prozent anders gewählt.
Auch die FPÖ muss sich Kooperationspartner suchen. Ich habe das Gefühl, dass es Herbert Kickl gar nicht darauf anlegt, eine Kooperation einzugehen. Der will ja ausgrenzt werden. Der will gar nicht die Verantwortung übernehmen.

Oder er rechnet damit, dass schon irgendjemand mit ihm in die Regierung gehen wird.
Oder auch nicht. Er wird schreien: "Ich bin schon wieder ausgegrenzt worden" und versuchen, beim nächsten Mal über 50 Prozent zu kommen.

Wenn Leute wie Musk sich nicht an Regeln halten wollen, sollen sie sich bitte schleichen

Neos und SPÖ haben in den U-Ausschüssen mit der FPÖ kooperiert. Ergebnis: Sie wirkt, als hätte sie mit dem Ibiza-Video gar nichts zu tun, und liegt in Umfragen vorne.
Wir haben die FPÖ nie verteidigt, ganz im Gegenteil. Aber man muss fairerweise sagen, Strache ist gegangen, die Regierung ist geplatzt, Kickl musste das Innenministerium verlassen. Es wurden Konsequenzen gesetzt. Die gab es bei der ÖVP lange Zeit nicht. Interessant finde ich aber, wie wenig Augenmerk auf die FPÖ Steiermark gelegt wird, wo es massive Korruptionsverdachtsmomente gibt. Ich wünschte, hier würde die Staatsanwaltschaft schneller weiter tun. Es wäre vor einem Wahltag wichtig, zu wissen, was Sache ist. Denn offenbar vergessen die Wählerinnen und Wähler schnell.

Es wird oft darüber gesprochen, ob die FPÖ als Kanzlerpartei demokratische Institutionen angreifen würde. Was denken Sie?
Ich kann da nur auf das Beispiel Italien verweisen, da will man jetzt die Direktwahl des Ministerpräsidenten einführen, ein starkes präsidentielles System mit direktdemokratischen Elementen, wie es auch Erdogan oder Orban machen. Im Ibiza-Video wird ja sehr offen darüber geredet, was die FPÖ will: die Medien unter Kontrolle bringen. Es gab von ihr auch immer wieder Angriffe auf den Verfassungsgerichtshof. Man kann das im autoritären Playbook nachlesen: die Medien und die Gerichte unter Kontrolle bringen, die Minderheitenrechte einschränken, enorme Hürden für die Opposition bei Wahlen aufbauen. Das ist alles so in Ungarn passiert. Damit würde ich auch hier rechnen.

Wären die Demokratie, die Parteien, die Gesellschaft stark genug, dem entgegenzuhalten?
Die Institutionen sind stark genug. Trotz allen Versuchen, sie beschädigen, steht die Justiz fest da, ist unabhängig und genießt hohes Vertrauen. Die Medien sind zwar durch die falsche Medienpolitik der Regierung unter Druck, aber sie schreiben und nehmen sich kein Blatt vor den Mund. Ein Schwachpunkt sind die sozialen Medien. Es braucht Wettbewerbsgleichheit zwischen etablierten und sozialen Medien. Die sind verantwortlich für das, was auf den Plattformen passiert. Wir brauchen ganz klare Mechanismen, um Wahlmanipulation zu verhindern. Wenn Leute wie Elon Musk sich nicht an Regeln halten wollen, dann sollen sie sich bitte aus Europa schleichen. Ich bin zunehmend der Meinung, dass demokratiegefährdend ist, was in diesen sozialen Medien passiert. Bei der marktbeherrschenden Stellung, die sie haben, muss man sich auch überlegen, sie unter Umständen zu zerschlagen.

Für den Fall, dass die FPÖ die Wahl gewinnt, die anderen Parteien aber eine Koalition gegen sie bilden wollen, werden Neos nicht alle ihre Positionen durchsetzen können. Wären Sie bereit, nachzugeben?
Das ist schon klar, aber mit einem großen Aber: SPÖ und ÖVP haben über Jahrzehnte gezeigt, dass sie es nicht können und dass sie sich mit ihrer Reformverweigerung nur an der Macht festklammern. Ich bin der Überzeugung, dass man liefern muss. Durch eine Reformagenda, die wieder den Aufstieg ermöglicht, den Menschen mehr Netto lässt, die Generationengerechtigkeit schafft und die das Thema Integration besser löst. So eine Agenda braucht einen Reformmotor, das sind weder ÖVP noch SPÖ. Wir können so ein Motor sein. Genau dafür sind wir gegründet worden, und nicht dafür, Steigbügelhalter der Macht zu sein. Wenn SPÖ und ÖVP einfach nur eine Neuauflage früherer größer Koalitionen machen, dann bringt das die FPÖ auf 40 Prozent.

Wenn es keine rot-schwarzpinke Einigung gibt, könnte die ÖVP sagen, sie "muss" mit der FPÖ koalieren.
Da appelliere ich an jene in der ÖVP, die das anders sehen, dass sie sich durchsetzen. Mir ist aber klar, dass es einige in der ÖVP gibt, die das sofort machen würden: in Niederösterreich, Oberösterreich und Salzburg. Dieses Gerede, na ja, mit der FPÖ schon, aber nicht mit Kickl - geh bitte! Das ist eine fadenscheinige Unterscheidung. Wenn ich ein Problem mit Antisemitismus oder mit autoritären Haltungen oder mit Rechtsextremismus in der FPÖ habe, dann habe ich das auch abseits von Kickl. Das ist ja lächerlich. Dass Kickl wie ein Bulldozer durch die Arena fährt, herumschreit und gar nicht versucht, kooperationsfähig zu sein - das steht auf einem anderen Blatt. Es ist interessant, zu beobachten, wie er sich radikalisiert.

Glauben Sie tatsächlich an eine Reformkoalition?
Ich bin eine Grundoptimistin, sonst wäre ich nicht in der Politik. Ich bin überzeugt, dass jede Phase wie ein Pendel einen Ausschlag in die eine Richtung bringt, es dann aber auch eine Gegenbewegung gibt. Angesichts des weltweit steigenden Populismus, der Radikalisierung und Polarisierung ist die Gegenbewegung schon ein bisschen spürbar, die sagt: "Das bringt uns nicht weiter." Die Österreicher wollen Veränderung, und viele wählen daher die FPÖ, sie wollen aber nicht den Zug Richtung Autoritarismus wählen. Davon bin ich überzeugt. Was mir aber Sorge bereitet, ist, dass man vielleicht zu spät erkennt, in welche Richtung es geht. Manchmal würde ich gerne die Leute an den Schultern nehmen, schütteln und sagen: Seht ihr eigentlich, was da gerade los ist? Wie das Fundament unserer Freiheit mit einem Tropfen nach dem anderen ausgehöhlt wird? Aber selbst wenn die FPÖ auf über 30 Prozent kommt: Eine Mehrheit dafür, die Demokratie abzuschaffen, sehe ich darin nicht.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 46/2023 erschienen.

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