Während Europas Sicherheitsarchitektur neu verhandelt wird, verspricht die Regierung in Wien, jetzt „das Richtige“ zu tun. Und hält dabei an einem Prinzip fest, das – schon immer und jetzt besonders – Fragen aufwirft: Neutralität als Identität, als Schutzschild, als Ausrede?
Es ist, wie es ist. Und es muss gut sein. Nicht weil es tatsächlich gut ist, sondern weil es gut sein muss. Die Rede ist vom Regierungsprogramm „Jetzt das Richtige tun. Für Österreich“, das nach monatelangen Verhandlungen, Abbrüchen, Umwegen und Neuverhandlungen auf dem Tisch liegt. „Was lange währt, wird endlich gut“, fasste der Bundespräsident bei der Angelobung der neuen Regierung die Stimmungslage recht treffend zusammen. Doch die Tragweite des Programms, sein Tiefgang, seine Wirkung lassen sich nur auf dieses eine Wort reduzieren: jetzt. Das Hier und das Jetzt. Nicht mehr. Nicht weniger. Und das ist am Ende des Tages – und den Umständen geschuldet– nicht viel.
Jetzt also, da das Land endlich eine Regierung hat. Jetzt, da der Kelch eines blauen Kanzlers – samt drohendem Umbau zu einem Staat, der bestenfalls ohne europäische Einbindung, schlimmstenfalls am Ende autoritär gewesen wäre – gerade noch an uns vorübergezogen ist. Jetzt, da 211 Seiten mit vielversprechenden Überschriften skizzieren, wohin die Reise gehen soll – nicht zwingend, wohin sie gehen wird. Jetzt, da Kompromisse auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner als das Nonplusultra gelten. Jetzt, da wir in vorauseilendem Gehorsam annehmen sollen, dass dieses Programm funktionieren könnte – einfach, weil man es sich wünscht. Schließlich will niemand Öl ins knisternde Harmoniefeuer gießen. Jetzt, da wir längst wissen: Viele dieser Vorhaben bleiben Papiertiger, es sei denn, die wirtschaftliche Lage gibt den nötigen finanziellen Spielraum her.
Schon jetzt scheint sicher: Auf lange Sicht wird dieses Regierungsprogramm nicht auf das Harmonie- und Konsenskonto dieser Dreierkoalition einzahlen. Und doch bleibt zu hoffen, dass ihr ein anderes Schicksal blüht als jener deutschen Dreierkoalition, die gerade krachend abgewählt wurde.
Neuvermessung Europas
„Jetzt das Richtige tun“– dieser Anspruch müsste sich freilich nicht nur auf Wirtschaft, Bildung und Pensionen, sondern auch auf das Ende einer Weltordnung beziehen, die gerade in Echtzeit vor unseren Augen neu geschrieben wird. Eine Ordnung, die mit einer zunehmend bedrohlichen internationalen Sicherheitslage einhergeht. Eine Ordnung, die – zumindest in weiten Teilen Europas – Fragen von existenzieller Tragweite aufwirft. Mit Blick auf Trump, Putin und die Ukraine. Mit Blick auf -Europas gemeinsame Handlungsfähigkeit. Mit Blick auf den Neuaufbau einer europäischen Sicherheitsarchitektur.
Die erste und bislang einzige Antwort auf die geopolitische Zäsur ist ein unmissverständliches Bekenntnis zur Neutralität
Neutral, aber wehrlos?
Viele Länder bringen sich aktiv in diese Debatte ein. Österreich? Hält sich (noch) bedeckt. Die erste – und bislang einzige – Antwort auf diese geopolitische Zäsur findet sich auf mehreren Seiten des Regierungsprogramms: ein unmissverständliches Bekenntnis zur Neutralität. Definiert als strategische Unabhängigkeit. Einbetoniert. „Neutralität ist kein Schutz“, hatte am Sonntag erst die ehemalige Neos-Abgeordnete Irmgard Griss im „ZIB 2“-Interview betont. Noch im Wahlkampf galt die Neutralität für die Neos als überholt. Jetzt ist sie auch für sie im Kompromiss-Regierungsprogramm als klares Bekenntnis festgeschrieben. Immerhin: Österreich beteiligt sich an Sky Shield, dem europäischen Luftraumschutz. Das Bundesheer soll finanziell aufgerüstet werden – mit bis zu 9,5 Milliarden Euro, also zwei Prozent des BIP. Geld, das es vorerst nicht gibt.
Ansonsten? Schweigen. Debatten über Sicherheitspolitik? Unerwünscht. Schon immer. Schließlich sehen die EU-Verträge eine Beistandspflicht vor, wenn ein Mitgliedsstaat angegriffen wird, betonte gerade erst Bundeskanzler Christian Stocker. Eine Haltung, die irritieren darf. Spätestens jetzt. Jetzt, wo sich die Welt an einem historischen Scheideweg befindet, wie der britische Premier Keir Starmer es formulierte. Jetzt, wo ein EU-Sondergipfel den nächsten jagt. Jetzt, wo Handlungsfähigkeit über die Zukunft Europas entscheidet. Jetzt, wo das Weiße Haus verkündet, die US-Militärhilfen für die Ukraine auszusetzen und die EU-Kommissionspräsidentin eilig einen Plan in Höhe von 800 Milliarden Euro für die Aufrüstung Europas vorstellt.
Idylle als Ideologie
Es ist noch nicht lange her, dass der „Economist“ Österreich in einem Atemzug mit Ungarn als „Putins nützliche Idioten“ abstempelte. Dass „Politico“ Wiens Neutralität als nichts weiter als ein „schlicht gutes Geschäft“ bezeichnete. Und es sind gerade einmal ein paar Tage vergangen, seit der scheidende Kanzler Alexander Schallenberg – gerührt von Glanz, Glorie und goldenem Pomp – von seiner Loge auf dem Wiener Opernball hinabblickte und meinte: „Wir haben vielleicht keine Atomwaffen, aber wir haben Wolfgang Amadeus Mozart.“ Ein Satz, der nachhallt. Und nachwirkt. Und viel sagt über ein Land, das partout nicht Farbe bekennen will.
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Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr.10/2025 erschienen.