Die zweite Republik war die Fortsetzung des Ständestaates mit den Mitteln der Sozialpartnerschaft. Mit der Sozialdemokratie, ohne Gewalt: ein Fortschritt. Aber jetzt ist die zweite Republik ein bisschen am Ende, und sonst hat auch keiner eine Idee. Dafür sind wir innovativ: „Kleine Koalitionen“ gibt es nur noch in der Opposition
Keiner weiß, wie lange die Sondierungsgespräche zwischen ÖVP und SPÖ, die dieser Tage mit von den Herbstferien ausgeruhten und entspannten Teilnehmern beginnen sollen, dauern werden, ob und wie am Ende Neos oder Grüne in tatsächliche Regierungsverhandlungen eingebunden werden, was das für den Zeitpunkt der Regierungsbildung bedeutet und ob das alles überhaupt einen Sinn hat. Die Sinnfrage kann man gut nachvollziehen. Es stimmt zwar, was die präsumptiven Twittergroßintellektuellen aus der Babler-Sekte sagen, dass nämlich die knapp 30 Prozent Stimmenanteil des Wahlsiegers Herbert Kickl unabweisbar und vor allem bedeuten, dass 70 Prozent der Wähler, die ihre Stimme abgegeben haben, Kickl nicht wollten.
Es stellt sich dann aber eine Frage, die die Twittergroßintellektuellen bisher nicht sehr ausführlich behandelt wollten: Warum sollte unter Führung einer Partei, die von 75 Prozent nicht gewählt wurde, eine Regierung unter Einbeziehung einer Partei, die von 80 Prozent, und einer zweiten, die von 90 Prozent nicht gewählt wurde, gebildet werden? Anders ausgedrückt: Jede Regierung unter Einbeziehung des Wahlsiegers würde durchschnittlich von weniger Wählerinnen nicht gewollt als jede, die jetzt herauskommen kann. Aber das ist Mathematik mit mehr als einer Zahl, und Mathematik finden die meisten Twittergroßintellektuellen überbewertet.
Gelernt ist gelernt
Das ist Österreich, und der gelernte Österreicher weiß, dass hinter Wahlen nicht die Idee einer Maximierung möglicher politischer Konstellationen steckt, sondern das genaue Gegenteil. Je weniger Möglichkeiten es hinterher gibt, desto demokratischer läuft es. Über Jahrzehnte ging das so: Egal, was du wählst, heraus kommt eine große Koalition, und wenn keine große Koalition herauskommt, gibt es Probleme, weil uns entweder die Europäische Union boykottiert oder Cornelius Obonya, und man weiß wirklich nicht, was schlimmer ist.
Vermutlich hätten es ÖVP und SPÖ bevorzugt, wenn sie auch diesmal einfach wieder ihre gute alte „große Koalition“ hätten bilden können. „Groß“ ist eine Koalition inzwischen bekanntlich dann, wenn sie im Nationalrat über die Hälfte der Stimmen plus eine verfügt, was automatisch bedeutet, dass der Begriff „kleine Koalition“ in Zukunft Oppositionskoalitionen vorbehalten bleibt. Man könnte dann also einen Stimmenverbund zwischen Grünen und Neos als „kleine Koalition“ bezeichnen, was bisher unüblich war. Da soll noch einer sagen, dass das österreichische politische System innovationsfeindlich ist.
ÖVP und SPÖ hätten es also sicher gern gesehen, wenn sie gerade heuer, zum 90-Jahre-Jubiläum des Ständestaates, noch einmal so hätten agieren können wie die Jahrzehnte davor: Die Gewerkschaft stellt den Sozialminister, der Wirtschaftsbund den Wirtschaftsminister, die Gewerkschaft Bau-Holz den Bautenminister, die Industriellenvereinigung den Finanzminister, die SPÖ-Frauenorganisation die Frauenministerin, die Polizeigewerkschaft den Innenminister und das k. u. k. Traditionsregiment „Hoch- und Deutschmeister“ den Verteidigungsminister. Heute würde man sagen: „Das Beste aus allen Welten“, und bedeuten würde das wie auch früher schon: „Das Teuerste aus allen Welten“. Wer da nirgendwo reinpasst, kann naturgemäß kein Demokrat sein und hat in einer Regierung nichts verloren. Die Zweite Republik war die Fortsetzung des Ständestaates mit den Mitteln der Sozialpartnerschaft unter Einbeziehung der Sozialdemokratie und unter Verzicht auf politische Gewalt. Ein großer Fortschritt, keine Frage.
Am Ende
Aber jetzt ist die zweite Republik ein bisschen am Ende, und die alte „große Koalition“ ist zu riskant geworden, weil man ja nie weiß, ob nicht einer einen Schnupfen hat, und dann kann man kein Budget beschließen. „Große Koalition“ bedeutet ab jetzt drei Parteien, das Beste aus allen Welten wird noch größer, also noch teurer. Die Optimisten unter den politischen Beobachtern meinen, man sollte sich, um aus den alten Mustern auszubrechen, nicht auf einen Minimalkonsens einigen, sondern einen Maximalkonsens, also nicht den kleinsten gemeinsamen Nenner, sondern das größte gemeinsame Vielfache. Die Sicherheitspolitik von der ÖVP, die Sozialpolitik von der SPÖ, die Bildungspolitik von den Neos, und den Rest wie immer von den Sozialpartnern. Ein wesentlicher Teil des Maximalkonsenses, der dafür notwendig wäre, nämlich eine Einigung darüber, wo die vielen Milliarden, die das Beste aus drei Welten kosten würde, herkommen sollen, ist jedem, der den Betrieb kennt, extrem schleierhaft.
Wer glaubt, man könnte sich all das ersparen, hätte man nur nicht den Wahlsieger ungerechterweise von der Macht ferngehalten, glaubt auch an Wotans Wiederkehr in der Gestalt der heiligen Jungfrau. Herbert Kickls Idee, man könnte das riesige Budgetloch stopfen, indem man weniger Sozialhilfe an Asylwerber und Schutzberechtigte zahlt, ist ungefähr so realistisch wie die Behauptung des noch amtierenden Bundeskanzlers, dass alle Zusatzausgaben durch den Wirtschaftsaufschwung finanziert würden, den wir – im zweiten Rezessionsjahr in Folge – angeblich unmittelbar vor uns haben. Wotan gegen Voodoo, das ist österreichische Brutalität.
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Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 45/2024 erschienen.