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Zahlen, die unser Land prägen

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Inflation
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Das zu Ende gehende Jahr war geprägt von Sorgen um die steigende Inflation und die Entwicklung des BIP. Doch warum werden genau diese beiden gemessen und taugen sie als Maßstab für unser Wohlergehen? Ein Besuch in jener Institution, die unser Land vermisst.

"Wir sind hier im Fort Knox der Daten", sagt Tobias Thomas. Der Volkswirtschaftsprofessor ist seit zweieinhalb Jahren Generaldirektor der Statistik Austria. Das Statistikamt residiert allerdings nicht hinter meterdicken Mauern, sondern in einem gläsern-transparenten Zweckbau in Wien-Simmering. Hier wird das Land vermessen: von den beliebtesten Vornamen (2021: Marie und Paul, 1984 – zu Beginn der Liste: Daniela und Michael) über die ebenfalls sehr nachgefragte Jagdstatistik (im Jagdjahr 20/21 gab es 739.500 Abschüsse, am öftesten traf es mit 285.600 das Rehwild) bis hin zur Bevölkerungsstatistik (am 1. 10. 2022 lebten 9.090.868 Menschen in Österreich). Und hier werden jene Zahlen erhoben, die dieses Krisenjahr geprägt haben: die Inflationsrate, das BIP, das Wirtschaftswachstum. Die jüngsten Daten könnten Licht am Horizont signalisieren. Die Inflation ging im November mit 10,6 Prozent erstmals heuer zurück (Oktober: elf Prozent), das BIP ist im dritten Quartal um 1,7 Prozent gegenüber 2021 gewachsen.

Doch wie und warum misst man diese Zahlen eigentlich? Vor allem um das BIP entspinnt sich immer wieder die Sinnfrage. Es fasst die Wirtschaftskraft eines Landes in einer Zahl zusammen. Der erste Versuch solcher Berechnungen geht auf den Engländer William Petty zurück, der im 17. Jahrhundert den "Wert der Ländereien, der Menschen, der Gebäude" in seinem Heimatland sowie in Frankreich und Holland zu erfassen versuchte. Interessiert hat das damals kaum jemanden. Erst in der Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre machte man sich wieder daran, die Wirtschaftsleistung zu erfassen. Der Brite Colin Clark und der Amerikaner Simon Kuznets gelten als die Urheber der modernen volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung.

10,6 % Inflation. Die Teuerung im Vergleich zum November 2021. Kleiner Lichtblick: Erstmals heuer ist die Inflation leicht gesunken.

+17 % BIP. Trotz der vielen Krisen – Corona, Krieg und Teuerung – wächst Österreichs Wirtschaft. Hier der Anstieg im dritten Quartal gegenüber dem Vorjahresquartal.

11. Glück. Im World Happiness Report des Sustainable Development Solutions Network der UNO liegt Österreich auf Platz elf. Auf Platz eins liegt Finnland.

Warum das BIP?

Die Zweifel, die am Sinn dieser Zahl geäußert werden, beruhen darauf, dass das BIP zwar viel über Wirtschaft, aber nicht so viel über das Wohlergehen der Menschen in den jeweiligen Staaten aussagt. Volkswirt Johannes Chalupa, der in der Statistik Austria unter anderem für die Berechnung des BIP zuständig ist, hat einen dicken Wälzer vor sich liegen. In diesem "System of National Accounts", das von den Vereinten Nationen, der Weltbank, der OECD, dem Internationalen Währungsfonds und der EU-Kommission gemeinsam herausgegeben wird, ist festgeschrieben, nach welchen Kriterien das BIP errechnet werden soll – und zwar weltweit. Nur wenn sich alle Staaten an diese Regeln halten, erklärt er, sei der Vergleich der jeweiligen Wirtschaftsleistungen möglich. Und das wiederum ist ein Grund dafür, warum Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Medien an dieser "single magic number" festhalten, sagt Chalupa. "Am Ende eines langen Rechenverfahrens kommt genau eine Zahl raus. Ich glaube, das ist es, was das BIP so sexy macht." 406,1 Milliarden Euro betrug das BIP Österreichs im Jahr 2021 oder, anders gesagt: 45.370 Euro pro Kopf. Klar sei, dass diese eine Zahl nichts über z. B. die Nachhaltigkeit der wirtschaftlichen Aktivitäten oder Wohlstand und Wohlergehen einzelner Individuen aussagt. "Aber", sagt Generaldirektor Thomas, "ein hohes BIP korreliert mit vielen anderen Faktoren wie Bildungsstand oder Volksgesundheit."

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Messen, was nicht messbar ist

Wie allerdings preist man beim BIP jene Dinge ein, die nie Eingang in eine reguläre Buchhaltung finden – Schattenwirtschaft in all ihren Facetten? "Da müssen wir andere Datenquellen nützen", erklärt Chalupa. Zum Thema Zigarettenschmuggel greift man etwa auf Erhebungen zur Gesundheit und zum Raucherverhalten zurück, bei der Erfassung illegaler Prostitution nutze man Zahlen von NGOs und der Ermittlungsbehörden. "Ich kenne ja auch die Kollegen anderer Länder: Da wird die Schattenwirtschaft durchaus in unterschiedlichen Höhen eingerechnet", sagt der Experte.

Es wäre falsch, zur Wohlstandsmessung ausschließlich auf das BIP zu schauen

Tobias Thomas. Der Statistik-Austria-Chef über das BIP und seine Grenzen

Auch andere Geldflüsse kann man nur annäherungsweise erfassen: das Trinkgeld in der Gastronomie etwa. Oder ein anderes Problem bei der Erhebung: Wie geht man mit Digitalisierung und internationalen Versandriesen um oder mit Globalisierung und Wertschöpfungsketten, die um die Welt reichen? "Wir messen das Bruttoinlandsprodukt, aber die Unternehmen sind extrem global geworden." Zudem laufe das Geschehen in einem immer schnelleren Takt. "Wir müssen daher das SNA ständig überarbeiten und dabei immer transparent machen, was in die Berechnungen einfließt“, so Chalupa. Umfasste das erste SNA aus dem Jahr 1953 knapp 60 Seiten, hat die aktuelle Fassung aus dem Jahr 2008 rund 700. Am nächsten SNA wird schon gearbeitet.

"Die vielen Versuche in Wissenschaft und Politik, dass man statt des BIP ausschließlich andere Indikatoren anschauen könnte, haben sich nicht durchgesetzt", sagt Statistik-Chef Thomas. "Es wäre allerdings falsch, zur Wohlstandsmessung ausschließlich auf das BIP zu schauen." Es gab die Beyond-GDP-Bewegung, in der es darum ging, Messmethoden zu entwickeln, die ein breiteres Konzept von Wohlergehen verfolgen. Die Vereinten Nationen propagieren mittlerweile "Ziele für eine nachhaltige Entwicklung". 17 solcher Ziele gibt es, die vom Kampf gegen die Armut über Nachhaltigkeit und saubere Umwelt bis zur Gleichstellung der Geschlechter reichen. Dafür wiederum wurden 169 Zielvorgaben formuliert, die nach einem umfangreichen Katalog von Indikatoren gemessen werden. Im World Happiness Report der UNO liegt Österreich auf Platz elf.

Was spricht gegen den Glücksindex?

In Bhutan misst man das Bruttonationalglück. Warum ist dieses kein internationaler Maßstab? Tobias Thomas hat sich mit der Happiness-Forschung beschäftigt und sagt: "Natürlich kann man die subjektive Lebenszufriedenheit in einzelnen Ländern abfragen. Allerdings ist dabei die Vergleichbarkeit zwischen den Ländern nicht gegeben." In Deutschland – sagt der gebürtige Deutsche, der neben seiner Tätigkeit in Wien an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf lehrt – "ist man immer nur so mittel happy, in anderen Ländern hingegen, die viel ärmer sind, fallen die Antworten viel positiver aus." In Zeitreihen könne man aber sehen, wenn sich die Lebenszufriedenheit in einem Land stark verändert. So führe die Einsetzung eines diktatorischen Regimes oft zu einer sinkenden Lebenszufriedenheit, während sie bei mehr Demokratie im Land steige.

Was kostet was?

Die zweite prägende Zahl dieses zu Ende gehenden Jahres: die Inflation. Die Statistik Austria macht keine Prognosen wie die Wirtschaftsforschungsinstitute, sie liefert quasi den Blick in den Rückspiegel auf das, was wir beim Einkaufen am Kassazettel sehen bzw. in der Geldbörse nicht mehr sehen. Anfang des Monats wagten Thomas und Chalupa dennoch den Ausblick, dass der Gipfel der Inflationskurve überschritten sein könnte. Nicht nur, weil die Statistiker erstmals seit Monaten ein Sinken der Inflationsrate von elf auf 10,6 Prozent melden können, sondern auch, weil der Erzeugerpreisindex und der Großhandelspreisindex – beide sollten sich auf die Verbraucherpreise der nächsten Monate niederschlagen – gesunken sind. "Das spricht eher für weiter sinkende Inflationsraten", sagt Thomas, schränkt aber ein: "Die Teuerung in der jetzigen Krise war anfangs getrieben durch die durch die Corona-Pandemie immer noch unterbrochenen Lieferketten, dann kamen der Krieg in der Ukraine und die damit verbundenen Kapriolen auf den Energiemärkten. Das zeigt, auch wenn es jetzt positive Signale gibt, können die Preise sofort wieder durch die Decke gehen, wenn geopolitisch etwas passiert." So war etwa der höchste Inflationswert der letzten 70 Jahre – mehr als 40 Prozent Anfang der 1950er-Jahre – auf den Koreakrieg zurückzuführen. "Bei solchen Unwägbarkeiten kommen Prognostiker an ihre Grenzen", erklärt Thomas.

Die Inflation hat jeden getroffen, dennoch unterscheidet sich die subjektive Wahrnehmung oft von den harten Daten

Regina Fuchs über die Wahrnehmung von Inflation und Kaufkraft

Was die Wahrnehmung beeinflusst

Mit den aktuellen Zahlen zu Inflation und Wirtschaftswachstum hat die Statistik Austria Anfang des Monats auch Ausschnitte aus der laufenden "So geht’s uns heute"-Befragung veröffentlicht. Für diese werden in Österreich rund 3.000 Personen zwischen 16 und 69 Jahren in regelmäßigen Abständen online befragt. Ein überraschendes Ergebnis: Trotz steigender Inflation gaben zuletzt (nur) 36 Prozent der Befragten an, innerhalb der letzten zwölf Monate Einkommensverluste erlitten zu haben. Davon wiederum führten 32 Prozent diese Verluste auf die Inflation zurück, andere angegebene Gründe reichten von der Verringerung der Arbeitszeit bis zur Scheidung. 43 Prozent meinten hingegen, ihr Haushaltseinkommen sei gleich geblieben, 21 Prozent gaben an, dass ihr Einkommen im letzten Jahr gestiegen sei. "In der Breite hat die Inflation natürlich jeden getroffen und die Kaufkraft reduziert", sagt dazu Regina Fuchs, die bei Statistik Austria für Bevölkerungszahlen und diese Erhebung zuständig ist, "dennoch unterscheidet sich die subjektive Wahrnehmung von Einkommen und anderen Lebensbedingungen oft deutlich von den erhobenen harten Wirtschaftsdaten." Um die tatsächliche finanzielle Belastung der Menschen im Land ermitteln zu können, brauche man eine lange Liste von Fragen, meint die Expertin, und dazu noch Registerdaten, also pseudonymisierte Daten von verschiedenen Behörden wie Finanzverwaltung oder Sozialämtern.

Wahrnehmung und Wirklichkeit

Wie wirken sich immer neue Meldungen über steigende Inflationswerte auf die Stimmung im Land aus? Wirtschaftsminister Martin Kocher meinte im Herbst in einem News-Interview bei besseren Wirtschaftsprognosen als heute: "Die Stimmung ist schlechter als die Lage." Dieser Effekt ist messbar, sagt Thomas. Er selbst habe darüber geforscht, wie etwa Migration und die Stimmung der Bevölkerung mit entsprechenden Medienberichten zusammenhängen. "Die Frage ist dabei: Berichten die Medien viel, weil die Menschen Sorgen haben, oder haben die Menschen Sorgen, weil die Medien so viel berichten? Oder hören beide einem rechten Politiker zu, der gegen Ausländer hetzt?" In seiner Untersuchung habe sich gezeigt, dass die Sorge der Menschen in Deutschland auch gewachsen sei, wenn es in deutschen Medien viele Berichte über Migrationsreferenden in der Schweiz gegeben habe – obwohl sich in Deutschland zu diesem Zeitpunkt gar nichts getan habe. Ähnlich verhalte es sich beim Thema Inflation: "Es ist ein empirischer Fact, dass Medien mehr über negative Dinge als über positive berichten. So wird auch über die steigende Inflation mehr berichtet als über eine sinkende. Die Inflationsrate ist natürlich hoch und das belastet die Menschen hierzulande, aber wir richten im Moment noch zusätzlich ein Brennglas darauf. Es ist naheliegend, dass bei ein und derselben Inflationsrate die Menschen bei intensiver Berichterstattung besorgter sind."

Warum wird das Land vermessen?

Nationale Statistikämter vermessen ihr Land. Das ist nicht nur in Österreich so. Die Mittel dabei ändern sich – um die Verbraucherpreise zu erheben, müssen heute nicht mehr Erhebungspersonen in Geschäften Preise abschreiben, sondern man ist bei den Supermärkten an das Kassensystem angeschlossen. Es ändert sich, was gemessen wird: Der "Warenkorb" zur Inflationsberechnung wird alle fünf Jahre angepasst – oder zwischendurch, wenn das E-Bike boomt, das bis dahin nicht im Warenkorb war. Manche Daten kommen über Behörden oder Unternehmen zur Statistik Austria, andere müssen in Befragungen erhoben werden. In jedem Fall gilt: Was an Informationen ins Haus "hineinkommt", ist hier sicher verwahrt und kann und darf nicht in falsche Hände kommen. Daten über Personen werden pseudonymisiert, bevor sie zur Statistik kommen, damit sie nicht zur Ausgangsperson zurückführen können. Dafür gibt es strenge Regelungen und Kontrollen. Darum spricht Thomas vom "Fort Knox" der Daten. Gäbe es diese Sicherheit nicht, würde kaum jemand Auskunft geben wollen.

Am Ende eines langen Verfahrens kommt genau eine Zahl raus. Ich glaube, das ist es, was das BIP so sexy macht

Johannes Chalupa erklärt, warum Medien, Wissenschaft und Politik gern aufs BIP schauen

Dennoch muss mit den Daten gearbeitet werden können. Wissenschaftler brauchen sie zur Forschung, die Politik für Entscheidungen. "Ich bin der festen Überzeugung, dass, wenn Entscheidungen in der Politik auf Basis von Evidenz, von harten Zahlen und Fakten getroffen werden und nicht auf Basis von groben Gefühlen und Daumenpeilungen, wichtige gesellschaftliche Ziele besser erreicht werden können. Das reicht von Wachstum und Wohlstand über ökonomische, ökologische und soziale Nachhaltigkeit bis hin zur Bewältigung der diversen Krisen, in denen wir uns befinden. Nationale Statistikinstitute schaffen dafür die Grundlage: Evidenz und das Land in allen relevanten Dimensionen vermessen", sagt Thomas.

Allerdings, so der Statistik-Chef, gibt es im Zeitalter der digitalen Revolution immer mehr Stellen – von Ämtern bis zu Unternehmen –, die Daten sammeln. "Mehr Daten bedeuten nicht immer mehr Informationen." Die Herausforderung heute ist es, all diese Daten unter strikter Einhaltung des Datenschutzes besser nützen und verknüpfen zu können. Eine nationale Datenstrategie, wie das gelingen könne, fehle in Österreich bisher, bedauert Thomas. "Das Land bleibt hinter den Möglichkeiten zurück." Auch der Data Governance Act der EU, der bis September 2023 umgesetzt werden muss, werde in Österreich bislang noch nicht ausreichend beachtet. Aber immerhin: Seit dem Sommer gibt es unter dem Dach der Statistik Austria das Austrian Micro Data Center, das der Wissenschaft datenschutzkonform pseudonymisierte Daten für genau definierte Forschungsprojekte bietet.

Fortschrittlicher als etwa Deutschland sei Österreich, wenn es die Volkszählung per Registerdaten macht, während im Nachbarland noch Erhebungspersonen von Haus zu Haus ziehen. Der Generaldirektor: "Um das zu verdeutlichen: Während in biblischen Zeiten Maria und Josef für die Volkszählung von Kaiser Augustus nach Bethlehem mussten, können wir hier heute quasi auf den Knopf drücken. Hätte es das damals schon gegeben, wäre Jesus nicht in einem Stall in Bethlehem geboren worden."

Der Beitrag erschien ursprünglich im News 50/2022.

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