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"Dieser Konflikt wird das Bild des Judentums verändern"

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34 min
Deborah Feldman
©Bild: Alexa Vachon
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Mit 23 Jahren gelang Deborah Feldman die Flucht aus der ultra-orthodoxen Gemeinde der Satmarer Chassiden in New York. Netflix verfilmte ihr Leben. Von ihren Büchern werden Millionen verkauft. Das Interview über Nahostkonflikt, jüdische Identität, religiösen und politisch korrekten Fundamentalismus.

Der Holocaust wird als Strafe für die Assimilation der Juden angesehen. Um Gott nicht zu verärgern, wird nach strikten Regeln gelebt. Frauen müssen Kinder gebären und für den Haushalt sorgen. Die Gemeinde der Satmarer Juden in New York verbietet jeden Kontakt zu einer anderen Welt. Deborah Feldman gelang die Flucht. Ihr Leben beschrieb die heute 37-jährige Schriftstellerin, Mutter eines Sohns, im autobiografischen Roman "Unorthodox", der binnen Kurzem ein Weltbestseller mit mehreren Millionen Verkäufen wurde. Netflix fertigte daraus eine nicht minder spektakuläre Serie.

In ihrem jüngsten Buch "Judenfetisch" erkundet Deborah Feldman nun die jüdische Identität. News traf die Autorin in Frankfurt.

Frau Feldman, die Angst, sich zu spät nach Israel aufzumachen, begleite jeden Juden, liest man in ihrem Buch "Judenfetisch". Sie nutzten die erste Gelegenheit für eine Israelreise nach der Pandemie. Jetzt wäre es zu spät. Wie ging es Ihnen, als Sie vom Anschlag der Hamas hörten?
Sehr schlecht. Das waren sehr schwierige Tage für mich. Ich habe in meinem Buch versucht, meine Angst auszudrücken, dass der Konflikt auf neue, ganz unvorhergesehene Art ausarten werde. Aber als ich das geschrieben habe, dachte ich, das werde erst in zehn Jahren sein, ich dachte nicht, dass das so schnell passiert. Es ist entsetzlich. Ich habe das Gefühl, wir stecken in einem Fastforward, ich kann das alles nicht so schnell verarbeiten. Ich sehe, wie sich diese Konfliktlinien in Berlin und in New York widerspiegeln und sich überallhin ausbreiten. Es trifft jetzt genau das zu, wovor ich so gefürchtet habe. Dieser Konflikt wird das Bild des Judentums in der Welt verändern, das Verhältnis zwischen Juden und der Mehrheitsgesellschaft wird sich ändern und das zwischen Muslimen und Juden. Dieser Konflikt wird uns alle spalten. Wir werden daran zugrunde gehen. Ich fühle mich total machtlos. Es gibt nichts Schlimmeres.

Bereits vor dem Anschlag sprachen viele von der Spaltung Israels. Damit waren aber die Massenproteste gegen Netanjahu gemeint.
Ich habe das Gefühl, die meisten Leute, die über Israel reden, haben keine Ahnung. Wer noch nicht dort war, soll auch nichts sagen. Ich war in Israel. Ich weiß, wie sie mit der Situation umgehen. Aber gerade viele der Friedliebenden sagen, Schluss jetzt.

Haben Sie Freunde, die in die Armee eingezogen wurden?
Ja, das zwingt einen auch, sich zu positionieren. Ich kenne Israelis, die waren früher sehr liberal, sehr offen, hoffnungsvoll und progressiv. Aber wenn die Geschwister eingezogen werden, können sie nicht anders, als sich zu positionieren. Vor einem Jahr haben dieselben noch über eine Friedenslösung gesprochen. Das ist jetzt erstmal vom Tisch. Das wollte die Hamas auch erreichen. Sie haben nicht die Radikalen in Israel angegriffen, ihre Zielscheibe waren die Friedliebenden.

Wie erklären Sie, dass die israelische Militärbasis in der Nähe des Festivalgeländes, eines Ziels der Terroristen, nicht besetzt war?
Die Militäreinheiten waren an die Westbank beordert worden, weil dort die Orthodoxen in ihren neuen Siedlungen unter den Palästinensern in Ruhe ihre Feiertage verbringen wollten. Das Problem ist aber, dass die Orthodoxen selber sehr aggressiv auftreten. Sie provozieren die Gewalt, deshalb braucht man die Armee dort 24 Stunden am Tag, damit die Ausschreitungen nicht komplett ausarten. Ich habe auf einem Podcast der "New York Times" von einem Mann gehört, der sein Training in der Armee dazu genutzt hat, seine Familie auf dem südlichen Kibbutz selbst zu verteidigen. Er hat es geschafft. Seine Frau und seine Kinder haben den Angriff überlebt, viele seiner Nachbarn dagegen nicht. Vor dem Terrorangriff hätte die Frau dieses Mannes regelmäßig palästinensische Kinder aus Gaza in ein israelisches Krankenhaus zur Behandlung gebracht. Aber nach solchen Ereignissen erzählte er, wäre so etwas nicht mehr denkbar. Wenn man so etwas hört, weiß man, dass die Hamas erreicht haben, was sie wollten.

Passend dazu:
Nahostkonflikt: Was hinter den Auseinandersetzungen zwischen Israel und Palästinensern steckt

Die palästinensische Autorin Adaina Shibli hätte auf der Buchmesse für ihren Roman "Eine Nebensache" ausgezeichnet werden sollen. Seit dem Angriff der Hamas gilt der Roman als antisemitisch. Erinnert das nicht an den Umgang mit russischen Künstlern? Sie wurden gefeiert, egal, wie nahe sie Putin standen, seit seinem Angriff auf die Ukraine wird gegen sie protestiert, bestes Beispiel Anna Netrebko. Warum nahmen Sie jetzt an einer Lesung aus Shiblis Roman teil?
Ich finde, dass die Literatur einen der letzten Schauplätze bietet, wo noch empathisch und respektvoll miteinander umgegangen und ausgetauscht werden kann, wo die Geister, die sich sonst in so unterschiedlichen Lagern aufhalten, sich begegnen und verstehen können. Von daher fand ich es enorm wichtig, das Buch selbst hervorzuheben, abgesehen von dem Zusammenhang, weil dadurch diese wichtige literarische Kraft sich auch entfalten kann. Ich habe das Buch jedenfalls so erlebt. Es hat in mir Verständnis und Empathie geweckt, und das gibt mir Hoffnung, dass wir noch in der Lage sind, mit Büchern was zu erreichen, was sich mit hässlichen Debatten und Unterstellungen sicherlich nicht erreichen lässt.

Die ahnungslosen Linken, die sich mit den Palästinensern solidarisieren, sind vor allem auf sich selber fokussiert

In Deutschland und auch in Österreich wird ständig von der Solidarität mit Israel gesprochen, gleichzeitig dürfen Palästinenser demonstrieren und die Zerstörung Israels fordern. Was ist da los?
Wenn man sich ansieht, wie sich die Linke mit den Palästinensern solidarisiert, merkt man, dass die wirklich wenig Ahnung haben, was eigentlich passiert. Sie sind vor allem auf sich selbst fokussiert, auf ihre eigenen gesellschaftlichen Zusammenhänge, ihre eigenen Konflikte, wofür der Nahostkonflikt als übergreifender Platzhalter steht, weil ihnen alles andere anscheinend zu anstrengend oder kompliziert ist. Das ist narzisstisch und ignorant. Jeder, der sich aufrichtig für diese Themen interessiert, kann nicht anders, als großes Mitleid für alle unschuldigen Menschen aufbringen. Wer sich da so radikal positionieren kann, dem geht es um etwas ganz anderes als um diesen Konflikt. Dem geht es um sich selbst. Das habe ich auch in meinem Buch versucht zu verarbeiten. Deutschland kann keine ordentliche Berichterstattung über diesen Konflikt leisten. Hier wird auch kein wahrhaftiger Diskurs geführt, weil es hier gar nicht um den Konflikt zwischen Israel und Palästina geht, sondern wie immer, um die deutsche Psyche.

Sie schreiben in "Judenfetisch", dass Hitler die Juden erst zu Juden gemacht hat. Meinen Sie damit, dass diese Solidarität mit Israel gar nicht ehrlich gemeint ist, sondern vor allem auf dem schlechtem Gewissen des Landes der Täter basiert?
Ich beschreibe hiermit, wie sehr viele säkulare, assimilierte Juden ihr Jüdischsein für sich nur so definieren können; sie finden also keinen anderen Anschluss und geben oft zu, wenn es Hitler nicht gegeben hätte, würden sie wahrscheinlich heute nichts mehr von ihrem Judentum wissen. Da diese Art von Bezug zum Judentum eine Verunsicherung hervorruft, fühlen sich viele Juden instinktiv dazu verpflichtet, sich zu Israel zu bekennen, vor allem aus diesen identitätsstiftenden Gründen, obwohl sie vielleicht nie in dem Land gewesen wären und auch wenig Interesse an einem Besuch hegen. Aber diese abstrakte Loyalität bieten ihnen die positive Alternative zu dem negativ gezeichneten Verhältnis der verfolgungsbedingten Schicksalsgemeinschaft; sie können sich als etwas anderes vorstellen als nur Nachfahren der Naziopfer. An der Seite der Nichtjuden kann man einen ähnlichen Prozess beobachten: Sie sehen Juden vor allem als Opfer antisemitischer Verfolgung, von daher versuchen sie, durch Assoziationen mit Israel das Bild in ein anderes, aber nicht immer unbedingt positives zu verwandeln.

Sie schreiben in "Judenfetisch", dass Hitler die Juden erst zu Juden gemacht hat. Meinen Sie damit, dass diese Solidarität mit Israel gar nicht ehrlich gemeint ist, sondern vor allem auf dem schlechtem Gewissen des Landes der Täter basiert?
Ich beschreibe hiermit, wie sehr viele säkulare, assimilierte Juden ihr Jüdischsein für sich nur so definieren können; sie finden also keinen anderen Anschluss und geben oft zu, wenn es Hitler nicht gegeben hätte, würden sie wahrscheinlich heute nichts mehr von ihrem Judentum wissen. Da diese Art von Bezug zum Judentum eine Verunsicherung hervorruft, fühlen sich viele Juden instinktiv dazu verpflichtet, sich zu Israel zu bekennen, vor allem aus diesen identitätsstiftenden Gründen, obwohl sie vielleicht nie in dem Land gewesen wären und auch wenig Interesse an einem Besuch hegen. Aber diese abstrakte Loyalität bieten ihnen die positive Alternative zu dem negativ gezeichneten Verhältnis der verfolgungsbedingten Schicksalsgemeinschaft; sie können sich als etwas anderes vorstellen als nur Nachfahren der Naziopfer. An der Seite der Nichtjuden kann man einen ähnlichen Prozess beobachten: Sie sehen Juden vor allem als Opfer antisemitischer Verfolgung, von daher versuchen sie, durch Assoziationen mit Israel das Bild in ein anderes, aber nicht immer unbedingt positives zu verwandeln.

Hatte Karl Lagerfeld recht, als er sagte, wir haben uns die Feinde ins Land geholt?
Es gibt Parallelgesellschaften überall in Europa, manche dieser sind von radikalen islamistischen Weltanschauungen geprägt. Die Menschen in diesen Milieus haben es nie geschafft, sich in Europa zu integrieren. Niemand hat sich um ihre Integration gekümmert, stattdessen haben wir lange weggesehen und jetzt baden wir das aus. Es sind traurige, harte Zeiten, und es kommen noch schwierigere auf uns zu. Und es gibt immer noch keinen Plan, wie wir die Attraktivität der demokratischen Werte diesen Menschen vermitteln können, weil wir es inzwischen nicht mal hinkriegen, diese an die Mehrheitsgesellschaft zu übertragen.

Kommen wir auf Ihr Buch. Was war der Auslöser dafür?
Ich fing an, es zu schreiben, als ich von einer Israelreise zurückkam, kurz vor den letzten Wahlen, als man schon ahnte, was kommen würde, aber manche Illusionen noch genießen konnte. Gleichzeit flog in Deutschland die Geschichte über den mächtigsten Rabbiner des Landes auf, über seinen systematischen Machtmissbrauch, über die Vertuschung der sexuellen Belästigung von Studierenden, über die zweifelhaften Ansprüche an das Rabbinertum und auch das Judentum selbst. Bald war die Rede von Kostümjuden, dieser inzwischen alte Trend der als Juden verkleideten Deutschen, die den Juden das Judentum erklären. Ich wollte meine Erfahrungen in Deutschland mit meinen Eindrücken aus Israel zusammenbringen, um meinen Lesern zu zeigen, inwiefern unser Bild vom Judentum durch so viel Desinformation geprägt ist. Aber ich wollte auch die liberalen Juden mit diesem Buch erreichen. Ich versuche schon sehr lange, ihnen zu zeigen, wie die Orthodoxie sich zu einer Gefahr für uns alle entfaltet. Denn ich habe vom Anfang an sehr darunter gelitten, dass mir gerade die liberalen Juden es zum Vorwurf machten, dass ich meine Geschichte erzählt habe. Sie meinten, das hätte ich nicht tun dürfen, weil es antisemitisch ist. Sie waren also damit einverstanden, dass es diese Welt, aus der ich komme, so gab, und dass Menschen wie ich diese Erfahrungen, wie ich sie aufschrieb, auch machen, nur das Sprechen darüber empfanden sie als antisemitisch. Dabei stellen sie für diese Welt die schlimmsten Feinde dar, und sehr bald werden sie im Verhältnis zu ihr eine Minderheit sein, die nicht mal die Macht des Erzählens wird innehaben. Dagegen zu kämpfen, ist alles andere als antisemitisch. Es ist ein Kampf um Freiheit, Frieden, und Fortschritt.

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REBELLIN UND INTELLEKTUELLE. Deborah Feldman, 37, wurde der Welt durch ihren Lebensbericht "Unorthodox" bekannt

 © Alexa Vachon

Sie zählen heute zu den gefragtesten jüdischen Intellektuellen. Hat man versucht, auch Sie als Kostüm- oder "Bühnenjuden", wie sie im Buch schreiben, einzusetzen?
Das ist auch einer der Gründe, warum ich dieses Buch geschrieben habe. Es zeichnet für mich die öffentliche Vertretung jüdischen Lebens in Deutschland aus. Ich habe verstanden, dass es die einzige Möglichkeit für mich als öffentliche Person mit jüdischem Hintergrund dagegen zu wehren ist, dieses Buch zu schreiben. Ich glaube, es hat auch weitgehend funktioniert. Ich habe es geschafft, mich als Individuum zu meiner Identität zu positionieren und kann nicht mehr leicht in kollektiven Begriffen und Projektionen aufgelöst werden.

Das erklärt den Titel "Judenfetisch", nicht?
Genau. Ich biete mich nicht für diesen Fetisch an. Es war eine große Erleichterung, dies klar machen zu können. Als ich mein erstes Buch geschrieben hatte, kamen mir die öffentlichen Reaktionen surreal, manchmal absurd vor. Aber mir sind diese Themen zu ernst. Deshalb habe ich auch damals in Wien diesen "Woman of the Year Award" nicht angenommen. Ich wusste, dass man mit so einem Preis nichts bewirken kann. Man kann die Welt nicht verändern. Ich war ja nur dafür da, um den Ladys eine Party zu rechtfertigen, einen Grund, wofür sie ihre teuren Ballkleider anziehen durften und sich darin fotografieren lassen könnten. Da sah ich mich gleich wieder vereinnahmt. Dann wurde berichtet, ich hätte diesen Preis aus emotionalen Gründen nicht annehmen können, ich sei einfach zu überwältigt. Aber ich wollte mich nicht instrumentalisieren lassen von Frauen, die glauben, sie seien frei und können etwas bewirken, wenn sie sich aufhübschen und botoxen. Das glauben wohl nur sie. Aber niemand sagt was dazu. Wir sind es gewöhnt, solche Widersprüche, solche Absurditäten, einfach hinzunehmen. Warum?

Wie kann es dann sein, dass man Ihnen Antisemitismus unterstellt?
Ich bin eine Aussteigerin. Die größte Diskriminierung, die ich erlebt habe, kam immer von Juden, denn die haben so viele Vorurteile gegen orthodoxe Aussteiger. Ich versuchte, denen immer zu erklären: Wenn ihr diese Aussteiger ein bisschen besser unterstützt, dann gäbe es vielleicht mehr als nur ein paar, dann würden sich eventuell noch mehr Orthodoxe überlegen, ob sie vielleicht doch nicht lieber ein freies Leben führen würden. Aber die Liberalen waren lange nicht einmal bereit, diese wenigen Aussteiger überhaupt aufzunehmen. Jetzt wird in Israel langsam darüber nachgedacht, wie man jenen helfen kann, die aus der orthodoxen Welt aussteigen wollen. Aber erst jetzt. Es ist wahrscheinlich zu spät. Und all diese Juden in Deutschland, die ihre Religion kaum oder gar nicht praktizieren, aber zweifellos zu Israel stehen, werden einmal ihre orthodoxen Konversionen nachholen müssen, wenn sie nach Israel wollen. Denn man wird sie nicht ins Land lassen, weil sie den neuen regierenden Kräften nicht jüdisch genug sein werden. Sie werden sich einem System unterwerfen müssen, das sie kaum begreifen können. Das ist so absurd, und niemand kapiert's. Als ich in Wien war, habe ich gesehen, dass es auch da keinen Support und kein Verständnis für Aussteiger aus dem orthodoxen Judentum gibt. Wir müssen Menschen aus solchen abgeschotteten Minderheitskulturen einen Ausweg ermöglichen.

Für die Islamisten bin ich eine Jüdin unter Millionen, für die Orthodoxen bin ich aber die Feindin Nr. 1

Wie ist es zu verstehen, dass orthodoxe Juden für Sie eine größere Gefahr als Islamisten sind?
Die radikalen Orthodoxen begegnen mir persönlich mit einer größeren Feindseligkeit, weil sie mich als die weltberühmte Aussteigerin erkennen. Ich bin für sie die schlimmste Abtrünnige, und da haben sie eigentlich ganz klare Vorstellungen, was mit mir passieren soll. Für die Islamisten bin ich eine Jüdin unter Millionen, für die Orthodoxen bin ich aber die Feindin Nr. 1.

Halten Sie den jüdischen Regisseur Barrie Kosky tatsächlich für einen Antisemiten, weil er in Bernsteins "Candide" orthodoxe Juden auftreten lässt?
Nicht jede antisemitische Äußerung kommt gleich von einem Antisemiten. Aber können Sie mir erklären warum er Männer mit solchen Hakennasen und Schläfenlocken auf die Bühne bringt? Alle andere Figuren wurden geschichtstreu dargestellt, der Jude im ursprünglichen Stück stammte aus einem völlig anderen historischen Kontext, sowohl ethnisch als kulturell, da fiel die äußerliche Erscheinung eigentlich ganz anders aus. Ich war mit zwei jüdischen Freundinnen im Publikum. Wir waren zutiefst verletzt von dieser klischeebehafteten Inszenierung. Warum vermochte Kosky nicht, der jüdischen Figur die gleiche Würde aufzulegen, die er den anderen, nicht-jüdischen Figuren verlieh?

Ihre Großeltern haben den Holocaust überlebt. Was haben sie Ihnen erzählt?
Wir haben in der Tat nie darüber gesprochen. Darüber herrschte ein großes Schweigen, und das war so mächtig, es hat alles geschluckt. In der Schule bekamen wir zwar alles über den Holocaust vermittelt, aber eben nicht als individuelle Erfahrungsberichte, sondern als kollektives Erzählungsmuster.

Wie kann man unter diesen Umständen das "Niemals vergessen" bewahren?
Meine Gemeinde hat strikte Regeln, die durch den Holocaust gerechtfertigt werden. Denn der wird als eine Strafe für die Assimilation gesehen und mit diesen Regeln besänftigen wir Gott, damit er nicht wieder so einen Wutausbruch kriegt. Mit diesen Regeln wird auch die Erinnerung an den Holocaust aufrechterhalten. Ich wusste ja, die blickdichten Strümpfe ziehe ich mir an wegen des Holocausts, ich soll viele Kinder bekommen, wegen des Holocausts. Individuelle Erfahrungen mit dem Holocaust durfte es aber nicht geben, nur eine kollektive, denn der Holocaust ist uns als Kollektiv passiert. Deshalb sprachen meine Großeltern nur selten über ihre eigenen Erfahrungen. Von daher habe ich verstanden, wie wichtig es ist, dass wir unsere Individualität niemals im Sinne eines Kollektivs opfern.

Stimmt mein Eindruck, dass Ihre Gemeinde ähnlich strikte Regeln hat wie die Taliban?
Alle fundamentalistischen Gesellschaften funktionieren mehr oder weniger ähnlich, auch wenn ihre Auslegung auf Anhieb anders aussehen oder wirken kann. Es gibt auch eine jüdische Sekte, die wurde von uns "Jüdischer Taliban" genannt, weil ihre Frauen sich genauso verhüllen müssen wie die radikalen Islamistischen. Fundamentalismus versucht, die Menschen in kollektivem Herdenverhalten zu kontrollieren. Je mehr Kontrolle die Machthaber auf kollektiver Ebene ausüben können, desto mehr Macht haben sie über das Denken und Handeln der Individuen. Aber auch in unserer Gesellschaft gibt es viel sektenhaftes Denken, viel Fundamentalismus, was nicht auf eine Religion zurückzuführen ist. Die gesamte Stimmung heutzutage ist fundamentalistisch geprägt, die Gesellschaft ist in kleine, sektenartige Blasen und Echokammern gespalten.

Sind Wokeness und das Attestieren von kultureller Aneignung nicht auch fundamentalistisch?
Was ich grundsätzlich falsch finde, ist diese Atmosphäre des ständigen Misstrauens. Das ist extrem destruktiv. Das führt zu dem grundsätzlichen Problem, das ich in meinem Buch anspreche. Wir behaupten, wir wollen eine bessere Welt schaffen, glauben aber nicht, dass diese Welt überhaupt möglich ist. Ständig sind wir dabei, irgendjemand wegen irgendetwas anzuschwärzen. Das ist verlogen. Denn worüber wir uns beklagen, befeuern wir doch selbst. Ich gebe ein Beispiel dafür auch im Buch: Ein Schriftsteller behauptet, er wolle eine Welt, in der es keinen Antisemitismus gibt und im selben Moment sagt er, dass es diese gar nicht geben könne, denn alle Menschen seien Antisemiten. Was will man also wirklich? Die Lösungen an sich, oder eher nur die Berechtigung, sie ständig einzufordern?

Viele meinen, Juden dürfen nur von Juden gespielt werden. Hätten Sie nichtjüdische Schauspieler für "Unorthodox" engagiert?
Ich schon. Die Regisseurin war übrigens auch keine Jüdin. Aber ich konnte die Besetzung nicht selbst bestimmen. Was ich aber dann dabei interessant fand, war die Verwechslung zwischen Juden und Israelis. Die Leute beim Casting hatten für diese Unterschiede aber wenig Gespür. Säkulare Israelis sollten orthodoxe spielen, aber die waren so fremd in dieser Welt und in dieser Sprache wie Nicht-Juden. Manchmal habe ich das Gefühl, dass Juden selber nicht verstehen, was der Unterschied zwischen Juden und Israelis ist.

Bradley Cooper warf man Antisemitismus vor, weil er sich eine Art Hakennase applizierte, um Leonard Bernstein zu spielen.
Diese Kritik ist falsch, weil Bernstein war ein Individuum und hat so ausgesehen, wie ihn Bradley Cooper spielt. Bei Barry Kosky ist das etwas anderes. Er zeigt auf der Bühne keine Individuen, sondern Karikaturen. Mein Problem ist, dass diese Debatten eher Ablenkungen sind, weil wir es nicht schaffen, Menschen, die anders sind als wir, als Menschen wahrzunehmen. Wir klammern uns an äußere Merkmale, denn dadurch können wir sagen, diese Menschen seien anders, fremd, ungreifbar. Die Wahrheit ist, wenn jemand einen Schwarzen oder einen Juden spielen soll, dann braucht man ihn nicht zu schminken oder was anzukleben. Alles, was man dafür braucht, ist ein sehr gutes, einfühlsames Drehbuch.

Sie erzählen im Buch, dass man mit der Bescheinigung, Jude zu sein, die deutsche Staatsbürgerschaft erhält. In der Nazi-Zeit brauchte man zum Überleben einen "Arier-Nachweis". Wiederholt sich Geschichte in irgendeiner Form?
Primo Levi sagte, jedes Zeitalter hat seinen eigenen Faschismus. Geschichte wiederholt sich, aber nie auf die gleiche Art. Das Problem, wann immer wir über die Gegenwart reden, reden wir eigentlich nur über die Vergangenheit, wir schaffen es nicht, im Jetzt anzukommen, bevor es zu spät ist, und wir die Lehren für die nächste Generationen liefern.

In Wien erinnert ein Denkmal an den antisemitischen Bürgermeister Lueger. Soll man das stehen lassen?
Ich tu mir sehr schwer mit solchen Themen, denn diese Figuren aus der Vergangenheit sind ganz anders als die aus der Gegenwart. Man redet heute darüber, ob man Celine lesen soll, aber er ist tot und manche seiner Bücher waren doch gut. Wenn der Antisemitismus einer aus der Vergangenheit ist, kann man etwas kontextualisieren. Aber mein Problem ist eher der lebende Antisemitismus. Und ich habe den Eindruck, dass wir ihn mit solchen Debatten eigentlich ausblenden, wenn nicht sogar verstärken. Ich glaube, bei diesem Skandal um dieses Denkmal kann es auch darum gehen, dass die Österreicher nie den Antisemitismus in ihrer Gesellschaft verarbeitet haben. Deshalb mag man sich auch in solchen Gesprächen verlieren.

Soll man zwischen Rassismus und Antisemitismus unterscheiden?
Es gibt Leute, wie den englischen Comedian David Badiell, die behaupten, dass Rassismus gegen Juden etwas anderes ist als der gegen andere. Aber das ist so befremdend, das ist wieder antisemitisch, weil damit signalisiert wird, die Juden seien etwas Besonderes. Für mich ist das verletzend. Wenn ich das Ziel von Vorurteilen bin, will ich das nicht alleine sein. Natürlich will ich mich mit anderen solidarisieren, die ebenfalls Erfahrung mit Rassismus haben, aber wenn wir Juden ständig unter den anderen Betroffenen hervorgehoben werden, werden diese Betroffenen gegeneinander ausgespielt. Das zeigt, wie Antisemitismus funktioniert, dass der uns von Minderheiten wie von Mehrheiten abtrennen soll.

Als Sie die Gemeinde verließen, setzten Sie Ihre Existenz aufs Spiel. Waren Sie sich des Risikos bewusst?
Ich ging mit Vertrauen, dass ich es schaffen werde. Das war keine schöne Zeit, das waren drei harte Jahre. Aber Menschen überstehen viel Schlimmeres. Wenn man heute sieht, was Leute aushalten müssen, da will ich mich gar nicht beschweren.

Das Aussteigen hat in ihrer Familie Tradition. Bereits ihre Mutter verließ die Gemeinde.
Das steckt in mir drin. Aber meine Mutter hat eine größere Leidensgeschichte hinter sich. Auch meine Urgroßmutter hatte sehr großen Mut gezeigt, als sie mit ihrem katholischen Liebhaber am Ende des 19. Jahrhunderts nach München durchgebrannt ist.

Dass man von Migranten verlangt, zu gendern, ist eine überhebliche Frechheit

Waren Ihre Urgroßeltern nicht Österreicher? Hätten Sie nach ihrem Ausstieg aus der Gemeinde Österreicherin werden können?
Mein Urgroßvater war zwar deutschstämmiger Katholik aus der K.k.-Monarchie. Aber wenn man in Österreich sagt, man will die Staatsbürgerschaft aufgrund seiner jüdischen Vorfahren, dann wird man von den Behörden eher schräg angeschaut.

Sie gendern nicht. Ist das Ihre Antwort auf aktuelle Tendenzen?
Es gibt dafür einen einzigen Grund, weil Deutsch nicht meine Muttersprache ist und als ich Deutsch gelernt habe, hat man nicht gegendert. Wenn man als Erwachsener eine Sprache lernt, ist es sehr schwierig, da später umzulernen. Das ist bei mir keine politische Entscheidung, das ist ein technisches Problem. Das könnte natürlich das Lektorat für mich lösen, aber die finden, der Text sollte authentisch sein. Ein Kollege hat mir neulich erzählt, dass man von seiner Mutter verlangt hätte, zu gendern. Sie ist aber afrikanischen Ursprungs und hat genug Probleme mit der deutschen Sprache. Dass man von Migranten dann auch noch das verlangt, ist eine überhebliche Frechheit.

Kommt da nicht die Heuchelei der woken Gesellschaft durch?
Die Menschen denken immer, wenn sie die Oberflächen verändern, werden sie, was darunter steckt, verändern. Aber das einzige, was sie machen können, ist übertünchen. Sie verdecken alles mit schönen Sprüchen, damit sie sich nicht ansehen müssen, was darunter steckt. Das ist eigentlich ein Versteckspiel. Und solche Spiele sind eher für Feiglinge. Ich bevorzuge es, unbequeme Wahrheiten lieber bloßzustellen, als sie unter den Teppich zu kehren.

Das Buch

Für die Orthodoxen ist Deborah Feldman eine Abtrünnige, die Feindin Nummer eins. Wie es dazu kam erklärt sie erhellend in "Judenfetisch" *, Luchterhand, € 25,50

Judenfetisch

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Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 43/2023 erschienen.

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