Sein Roman "Der Vorleser" brachte dem deutschen Juristen Bernhard Schlink Weltruhm und einen Oscar-Film mit Kate Winslet. Im Interview zum neuen Buch stellt er beunruhigende Diagnosen zum Zustand des Westens, zu den Wahlchancen des Delinquenten Trump, zum Narzissmus der Klimakleber und zu akademischen Irrwegen.
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Martin Brehm blickt mit seinen 76 Jahren auf eine erfolgreiche Zeit als Universitätsprofessor zurück. Seine juristischen Publikationen sind ungebrochen gefragt. Zum Glück fehlt ihm seit seiner Hochzeit mit der jungen, aufstrebenden Künstlerin Ulla nichts. Mit 70 war er Vater eines Sohnes geworden und emeritiert. Seine größte Sorge, gilt einem Aufsatz über Gerechtigkeit, als ihn die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs erreicht.
Brehm ist die zentrale Gestalt in Bernhard Schlinks Roman "Das späte Leben" (Diogenes).
Schlink, 79, studierter Jurist, ist seit dem Erscheinen seines Romans "Der Vorleser"(1995) eine der maßgeblichen Stimmen der Gegenwartsliteratur. Die Geschichte über einen Schüler, der einer Analphabetin während des Zweiten Weltkriegs aus Romanen vorliest und sie nach dem Krieg als Angeklagte in einem Kriegsverbrecher-Prozess wieder trifft, verschaffte Schlink den Durchbruch als Schriftsteller.
Zur Person
Bernhard Schlink wurde am 6. Juli 1944 bei Bielefeld in Nordrhein-Westfalen als Sohn eines Deutschen und einer Schweizerin geboren. Beide Eltern waren studierte Theologen. Schlink absolvierte ein Jusstudium, habilitierte sich 1981, lehrte an den Universitäten Bonn und Frankfurt am Main und an der Humboldt-Universität zu Berlin und war Berater für eine neue Verfassung nach der deutschen Wiedervereinigung. 1995 erschien sein Roman "Der Vorleser" bei Diogenes. Schlink lebt in Deutschland (Berlin) und in den USA.
Ein Gespräch mit dem studierten Juristen über Gerechtigkeit und Moral in Zeiten von Krieg und Klimaklebern und die Sehnsucht nach Autoriät.
Herr Schlink, Gerechtigkeit ist eines der zentralen Themen Ihres Romans "Das späte Leben". Wie ein roter Faden führt die Frage nach Gerechtigkeit durch die Geschichte. Führt in diesem Roman der Jurist Schlink den Schriftsteller Schlink?
Ich hatte nur einen roten Faden: den der Geschichte. In der Geschichte spielt Gerechtigkeit eine Rolle. Aber ihr roter Faden - nein. In der Geschichte geht es um das Hinterlassen, das Lieben, das Loslassen. Die Gedanken des Protagonisten Martin Brehm zur Gerechtigkeit gehören zu dem, was er seinem Sohn hinterlassen will, aber ob er, ob man überhaupt etwas hinterlassen kann, wird ihm immer fraglicher.
Sie hinterlassen doch Wesentliches, als Schriftsteller und als Jurist.
Ich denke, man kann nur machen, was man macht, und die, die nach einem kommen, fangen etwas damit an oder nicht. Wir können nichts so hinterlassen, dass es denen nach uns verlässlich bleibt.
Wie geht es Ihnen, wenn Sie auf Ihre Bücher zurückblicken? Denken Sie da nicht, das wird von mir bleiben?
Als ich aufgewachsen bin, wurden Werner Bergengruen, Edzard Schaper, Ernst Wiechert gelesen. Es waren gute Bücher, wichtige Bücher, über sie wurde gesprochen, sie trafen den Nerv der Zeit. Nach ein paar Jahrzehnte sind sie vergessen, und es ist völlig in Ordnung, wenn auch meine Bücher in ein paar Jahrzehnten vergessen sind.
Aber Ihr "Vorleser" ist heute Schullektüre, der Roman gehört zum Kanon ...
Auch über Werner Bergengruens Roman "Der Großtyrann und das Gericht" lohnt es, mit Studenten zu sprechen; ich habe das einmal in einem Seminar zu Recht und Literatur getan. In Amerika ist das ein Fach, auch bei uns gibt es manchmal Seminare dazu, in denen die Studenten in der Literatur den philosophischen Problemen von Recht und Staat begegnen.
Sie schildern in "Das späte Leben", wie Martin Brehm den Schreibtisch übernimmt, den sein Großvater hinterlassen hat. Stimmt es, dass Ihr Großvater Ihnen seinen Schreibtisch hinterlassen hat?
Mein Großvater hat mir seinen Schreibtisch nicht hinterlassen. Er starb, ich brauchte einen Schreibtisch, nahm ihn mit und arbeite seitdem an ihm. Hätte ich ihn nicht gebraucht, wäre er entsorgt worden. So ist das mit dem Hinterlassen. Bergengruen, Schaper, Wiechert mochten noch so gut schreiben, die Zeit war eine andere geworden, und sie wurden nicht mehr gebraucht.
Das ist doch ungerecht?
Beim Hinterlassen gibt es keine Gerechtigkeit. Man kann nur in seiner Zeit und für seine Zeit machen, was einem wichtig ist. Was die, die danach kommen, damit machen, that's not ours to see.
Wie kamen Sie auf die Geschichte des Mannes, der eine junge Frau hat, ein kleines Kind, dann trifft ihn diese Krankheit?
Wie ich auf meine Geschichten komme, kann ich nicht sagen. Ich mache sie nicht, ich suche und finde sie nicht, sie kommen zu mir. In den Geschichten steckt zwar, was mich, wenn sie zu mir kommen, beschäftigt. Aber ich suche die Geschichten nicht zu Themen oder zu Befindlichkeiten. Was in diese Geschichte eingeflossen ist, ist mein Alter, in dem ich dem Tod näher bin. Meine Schwester, die ich sehr liebgehabt habe, ist gestorben, mein Bruder, Freunde, Weggefährten - wie man so sagt, kommen die Einschläge näher. Das beschäftigt mich natürlich.
Wie?
Ich setze mich mit dem Tod ins Benehmen. Martin Brehm hat den Wunsch, versöhnt zu sterben, auch wenn keineswegs alles aufgegangen, geklärt, geregelt, erledigt ist. Es ist ein guter Wunsch.
Martin Brehm würde gern wissen, wie es in der Welt weitergeht, mit dem Klima, zwischen Amerika und China. Beschäftigt Sie das auch?
Wenn ich auf die Welt sehe, das Wiedererstarken der Rechten, des Nationalismus, des Autoritären, des Antisemitismus, denke ich manchmal traurig, dass ich gar nicht wissen will, wie das Verhängnis weitergeht. Aber dann bin ich doch neugierig und würde gerne auf die nächsten paar hundert Jahre so schauen können, wie ich auf die zurückliegenden schauen kann.
Die erste Generation der Grünen verhinderte, in Österreich zumindestens, den Bau von Kraftwerken. Damals wurde auch bei niedrigen Temperaturen im Wald campiert, um diesen zu retten. Heute sind Schüler erst freitags spazieren gegangen, jetzt blockieren die Klima-Proteste nur noch den Berufsverkehr. Haben Sie Verständnis dafür?
Die großen Fridays-for-Future-Demonstrationen gibt es bei uns schon lange nicht mehr. Dafür gibt es die Aktionen der Letzten Generation, der Klima-Kleber, kein ziviler Ungehorsam im eigentlichen Sinn, mehr ein ziviles Ärgernis. Sie verärgern die Menschen, sie bringen politisch nicht nur nichts, sondern diskreditieren das Klima-Anliegen geradezu; ich habe schon sagen hören, dass Idioten, die derart idiotische Aktionen machen, nur für etwas Idiotisches stehen können. Aber die Klima-Kleber haben das Gefühl, sie täten etwas Gutes, sie fühlen sich gut bei ihren Aktionen, und das Fühlen spielt in unserer Gesellschaft eine immer größere Rolle. Die Identitätssegmentierungen leben nicht von wirklichen, sondern von gefühlten Unterschieden, das Geschlecht wird als Sache des Gefühls reklamiert, gewählt wird oft nicht nach Einsicht oder auch nur eigenem Interesse, sondern aus Gefühlen der Frustration, des Ärgers, der Wut. Und alles Fühlen will respektiert werden. Da kann nicht wunder nehmen, dass auch die Klima-Kleber nur fühlen und nicht politisch denken.
Sind diese Klima-Kleber nicht feig? Anstatt die Verursacher wie die Großkonzerne ärgern sie höchstens ungestraft ein paar Autofahrer. Oder sie schütten in Museen Suppe aus, auch ungestraft.
Bei uns in Deutschland werden sie festgenommen und verurteilt. Feigheit werfe ich ihnen nicht vor. Ich werfe ihnen vor, dass sie narzisstisch sind, sich nur an ihrem Gefühl orientieren und nicht sehen, wie die Welt auf sie reagiert, was sie in der Welt anrichten.
Werden zu viele Gefühle toleriert?
Wir respektieren nicht jedes Gefühl. Der Mann, der sich als Frau fühlt, wird respektiert, aber nicht die Weiße, die sich als indigener Abkömmling oder der Nichtjude, der sich als Jude fühlt. Es kommt darauf an, wie stark und wie positiv die Identität besetzt ist, die man sich im Fühlen anmaßt, und ich verstehe die Frauen, die sich gegen die Ansprüche von Transfrauen wehren.
Es wird erlaubt, dass bei Palästinenser-Demonstrationen, die Auslöschung von Israel mit Parolen wie "From the river to the Sea" skandiert werden.
Die Parole "From the river to the sea", die Israel das Existenzrecht abspricht, darf bei Demonstrationen nicht geäußert werden und kann zu deren Auflösung führen. Für die Freiheit der Palästinenser darf demonstriert werden, aber nicht so.
Aber der Antisemitismus wird immer schlimmer, wie kommt das?
Er war immer da. Solange wir verhindern konnten, dass die Rechten wieder stark wurden, hat er sich nicht hervorgetraut. Seit die Rechten wieder stark sind, zu deren Erbteil der Antisemitismus gehört, traut er sich wieder auf die Straße. Dazu kommen die Migranten, die ihren eigenen Antisemitismus mitbringen.
Warum sind die Rechten so stark? Weil die Linken so schwach sind?
Weil die Welt so kompliziert und das Bedürfnis nach naheliegenden und einfachen Lösungen so groß ist. Die Nation liegt einem nahe, und das autoritäre Versprechen, bei dem ein Führer weiß und sagt, wohin es geht, und einem die Sorgen um die heillose Welt und die schwierige eigene Lage abnimmt, ist trügerisch einfach. Bei den Rechten kommen der Nationalismus und das Autoritäre zusammen - und der Antisemitismus, der einen Schuldigen ausmacht, an dem das eigene Versagen ausgelassen werden kann.
Stimmt mein Eindruck, dass die Moralisierer auch etwas von einer rechten Radikalität an sich haben?
Auch das Moralisieren macht die Welt trügerisch einfach. Besonders deutlich wird das, wenn über die Vergangenheit moralisiert wird. Die Vergangenheit ist kompliziert, und unter komplizierten Herausforderungen standen die, die sich in der Vergangenheit verhalten haben. Sie waren in der Partei oder sonst in einer führenden Position - aus Überzeugung, Opportunismus oder um zu retten, was zu retten war? Wie schlimm war, was sie gemacht haben, und war, dass sie Schlimmeres verhüten wollten, nur eine billige Ausrede oder tatsächlich die Maxime ihres Handelns? Nur solche Fragen erschließen uns die Vergangenheit und erlauben uns, aus ihr zu lernen. Aber für sie die Antworten zu finden ist mühsam, das moralisierende Urteil ist einfach, und das einfache Urteil ist beliebt.
Geht man nicht jetzt auch so ähnlich mit russischen Künstlern um? Wie sehen Sie die Proteste gegen den Dirigenten Teodor Currentzis oder Anna Netrebko?
Es ist richtig, dass wir mit der Ukraine solidarisch sind. Es ist auch richtig, das zu zeigen. Aber das Abverlangen von Bekenntnissen hat mir noch nie gefallen und gefällt mir auch heute nicht. Es erinnert mich an die McCarthy-Ära. Wir können unsere Solidarität mit der Ukraine zeigen, ohne Bekenntnisse abzuverlangen, und wir haben sie gezeigt. Es gab die Demonstrationen, die Solidarität mit der Ukraine bekundet haben, die Behandlung der Flüchtlinge aus der Ukraine ist besser als die aller anderen Flüchtlinge, in der Bevölkerung gab und gibt es eine große Bereitwilligkeit, ukrainische Flüchtlinge aufzunehmen und ihnen zu helfen.
Verstehen Sie, dass ausgerechnet die Grünen zu den ärgsten Kriegstreibern geworden sind?
Auch den Grünen ist der Friede lieber als Krieg. Aber hier haben sie, die so oft unrecht haben, Recht: Wenn die Ukraine sich gegen Russland behaupten und nicht einfach erobert und als eigenes Land vernichtet werden soll, müssen wir sie mit Waffen unterstützen. Womit denn sonst?
Stimmt es, dass Sie aktiv im amerikanischen Wahlkampf für die Demokraten waren?
Meine Partnerin war sehr aktiv, und ich habe ihr ein bisschen geholfen; ich habe sie beim Registrieren begleitet und bin am Wahltag von Tür zu Tür gegangen.
Wie sehen Sie die Situation in den USA heute?
Wir müssen gewärtigen, dass Trump wiedergewählt wird. Es ist nicht sicher, aber durchaus möglich. In der New York Times gab es kürzlich eine Umfrage, nach der Trump in fünf von sechs Swing States vor Biden lag. Es ist noch ein Jahr bis zur Wahl, und in einem Jahr kann sich viel ändern. Aber die Umfrage ist alarmierend.
Obwohl er jetzt ständig vor Gericht steht?
Das interessiert seine Wähler nicht.
Kann er trotz seiner Gerichtsverfahren gewählt werden?
Er kann im Gefängnis sitzen und zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt werden. Nur wenn er wegen Rebellion oder Aufruhr verurteilt wird und Teil des Urteils ist, dass er kein Amt mehr ausüben darf, kann er nicht gewählt werden. Es gibt ein Verfahren, das dazu führen könnte.
Das wird wahrscheinlich so lange hinausgezögert, dass vor der Wahl kein Urteil fällt?
Ich kann nicht abschätzen, wie lange dieses und die anderen Verfahren, Zivil- und Strafverfahren, dauern werden.
Sollte Biden noch einmal kandidieren?
Ich finde, er ist ein guter Präsident. Er ist alt, und wenn es einen starken jungen Kandidaten gäbe, könnte ich mir vorstellen, dass Biden selbst sagen würde, der andere soll's machen. Aber es ist keiner zu sehen. Ein großes Problem ist Kamala Harris. Wenn Biden stirbt, wird sie Präsidentin, und das traut ihr niemand zu, und das schwächt Biden, mit dem sie kandidieren wird.
Ist es überhaupt möglich, die Vizepräsidentin zu kritisieren, eine Frau mit dunkler Hautfarbe im Amt?
Es gibt viele gute schwarze Frauen. Da darf man schon sagen, dass Kamala Harris versagt hat.
Wie wird das, wenn wieder Trump und Putin im Amt sind?
Dann wird die Unterstützung für die Ukraine aufhören, und Russland wird die Ukraine vielleicht nicht ganz, aber in weiten Teilen erobern. Trump wird in seiner zweiten Amtszeit noch weniger nach den Spielregeln spielen als in seiner ersten. Er wird die Bundesverwaltung demolieren und bei dem, was von ihr bleibt, und beim Militär die, die nicht nach seiner Pfeife tanzen, wegräumen.
Kommen wir auf Ihr Buch zurück. Ein Mann, des Missbrauchs an der Tochter beschuldigt, wird von seiner Frau und seiner Schwiegermutter aus dem Haus gejagt. Die Tochter aber leidet darunter, dass der Vater sie verlassen hat. Derlei Anschuldigungen werden immer häufiger. Immer öfter liest man, wie Unschuldige des Missbrauchs angeklagt werden und Jahre später, wenn deren Existenz ruiniert ist, freigesprochen werden, weil sie unschuldig sind. Wohin führen diese Anschuldigungen?
Sind wir damit zurück bei meinem Buch? Nun, gegen ungerechte Anschuldigungen muss man sich wehren. Immer wieder hat man damit auch Erfolg. Wenn man in der Welt der Medien arbeitet und von der Wahrnehmung durch das Publikum lebt, kann einen auch die Wahrnehmung zerstören, ob gerecht oder ungerecht. Ich hoffe, dass das Publikum gegenüber Skandalisierungen und Anschuldigungen kritischer wird.
Kann man das Denunzieren in unserer Gesellschaft heute mit jenem in der DDR vergleichen?
Nein. Der Betroffene kann sich wehren, er kann damit Erfolg haben, und er kommt nicht ins Gefängnis. Und die Institutionen unserer Gesellschaft können sich der Kultur des Denunziatorischen verweigern. Die Universitäten etwa können gewährleisten, dass jemand eingeladen wird, auch wenn er den Studenten unangenehm und unbequem ist.
Am Reinhardt-Seminar wurde die Direktorin abgesetzt, weil ihre Assistentin angeblich Studenten zum Weinen gebracht hat.
Dass sich Studenten aufregen, finde ich nicht schlimm. Schlimm ist, wenn die Universitäten einknicken. Wenn sie Lehrende fallen lassen, nur weil sie Studenten nicht passen. Wir sprachen über den Anspruch, mit dem Gefühle sich heute geltend machen - ihm darf nicht einfach nachgegeben werden. Es gibt zum Glück auch immer wieder die Aufforderung, es nicht zu tun, und das Einknicken von Universitäten und Institutionen wird kritisiert. Um alles das findet gegenwärtig ein gesellschaftlicher Kampf statt.
Sie schreiben, wenn Gott die Juden als das auserwählte Volk ansieht, dann müsste es ihnen doch besser gehen. Sie nehmen in Ihrem Roman vorweg, was jetzt geschieht. Antisemitismus. Nimmt Kunst vorweg, was passiert? Warum ist Kunst so visionär?
Martin Brehm denkt über Gottes Gerechtigkeit nach und hält von ihr angesichts des Schicksals der Juden nichts. Um eine Zunahme des Antisemitismus zu beobachten, bedurfte es keiner visionären Kunst. Und dass es zum 7. Oktober kommen würde, dass die Hamas zu einem solchen Massaker fähig und dass Israel so hilflos wäre, hätte ich mir nicht vorstellen können.
Warum ersetzt man Gerechtigkeit nicht mit Barmherzigkeit? Anstatt Gerechtigkeit für die ultima ratio zu halten?
Ich denke auch nicht, dass sie die ultima ratio ist. Gerechtigkeit ist ein Wert, wir müssen uns um sie bemühen, wenn es ums Austeilen und Ausgleichen geht. Aber es gibt Situationen, in denen anderes wichtiger ist. Als ich in der Schule war, unterrichtete ein Lehrer Englisch und Turnen und gab mir in beiden Fächern eine Drei, obwohl ich in Englisch eine Zwei verdient hätte. Ich stellte ihn zur Rede und erfuhr, solange ich mir im Turnen nicht mehr Mühe gäbe, bekäme ich auch in Englisch nur eine Drei. Das war natürlich ungerecht. Aber der Lehrer war ein erfahrener Pädagoge, der mich, der sich als kleinen Intellektuellen sah, der Turnen nicht brauchte, aus meiner Ecke holen wollte.
Was haben Sie gemacht?
Ich habe mich im Turnen angestrengt, es hat mir gutgetan, und es hat mich gelehrt, dass Gerechtigkeit nicht alles ist. Anderes kann wichtiger sein, hier war es der pädagogische Anstoß, mal ist es der Kompromiss, damit man miteinander weitermachen kann, das Nachgeben, damit niemand zu Schaden kommt. Und was würden wir ohne Barmherzigkeit und ohne Liebe machen, die nicht nach Gerechtigkeit fragen.
Kann Bildung verhindern, dass die Rechten noch stärker werden?
In den Einsatzgruppen, die gegen die Juden gewütet haben, war der Akademiker-Anteil höher als in der Bevölkerung. Bildung eröffnet die Chance, den anderen als gleichen zu sehen, nur die Chance. Nicht sie macht uns zu besseren Menschen, sondern Mitgefühl, Barmherzigkeit, Liebe, Behutsamkeit, Bescheidenheit.
Kommen wir noch einmal auf Ihren Roman zurück. Martin Brehm versucht sich damit zu trösten, dass ihn sein Tod davor bewahrt, das Ende der Demokratien zu erleben. Halten Sie das tatsächlich für möglich?
Ich halte nicht für ausgeschlossen, dass die Sehnsucht nach dem Autoritären und der Geborgenheit in der Nation wieder so stark werden, dass wir auch in anderen Ländern bekommen, was wir in Ungarn haben und bis vor Kurzem in Polen hatten. Wer weiß, wohin die geschickt agierende Meloni Italien führt, kulturell geht es deutlich nach rechts, wer weiß, ob Le Pen nicht die nächste Präsidentin Frankreichs wird. Über Amerika und Trump sprachen wir schon. Es könnte so weit kommen, dass wir nicht mehr von einem demokratischen Westen reden können.
Wie kann man das verhindern?
Zum einen ist wichtig, im Gespräch zu bleiben - mit denen, die nach rechts driften und auch die schon rechts sind, es sei denn, mit ihnen ist schlechterdings nicht mehr zu reden. Sich dafür zu gut, zu moralisch zu sein, ist falsch. Zum anderen müssen wir uns für die Institutionen einsetzen, die unsere Gesellschaft zusammenhalten und dank derer unsere Demokratie funktioniert. Manchmal werde ich an Schulen eingeladen, und mein Mantra ist: Informiert euch, setzt euch kontroversen Positionen aus, arbeitet in Parteien, gesellschaftlichen Organisationen, Kirchen mit, geht wählen. Freitags für die Zukunft zu demonstrieren ist gut und überdies ein schönes Gemeinschaftserlebnis. Aber mehr noch als Demonstrationen braucht Demokratie das Engagement der Demokraten in den Institutionen.
Das Buch
Dem 76-jährigen Juristen und Familienvater fehlt nichts zum Glück, bis ihn die Diagnose Krebs trifft. Ein verstörend starkes literarisches Protokoll über das Endliche: "Das späte Leben", Bernhard Schlink bei Diogenes, € 27,50
Das späte Leben: Roman
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 49/2023 erschienen.
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