Der Alternative Nobelpreis ehrt Menschen, die sich für die Gestaltung einer besseren Welt einsetzen. Menschen wie Yetnebersh Nigussie. Sie kämpft für die Rechte von Menschen mit Behinderungen und zählt zu den einflussreichsten Frauen Afrikas. Im Interview mit News spricht sie über ihr Leben als blinde Frau, über den falschen Umgang mit Menschen mit Behinderung und darüber, was sie in der Welt sehen kann und andere nicht.
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Frau Nigussie, Sie sind 35 Jahre alt und bereits Anwältin, zweifache Mutter, weltweit bekannte Menschenrechtsaktivistin und nun auch Gewinnerin des Alternativen Nobelpreises. Wie kam es dazu?
Begonnen hat alles damit, als ich im Alter von fünf Jahren erblindete. Das war der Wendepunkt in meinem Leben. Damit war klar, dass ich nicht, wie in Äthiopien üblich, mit elf verheiratet werden konnte. Meine Mutter schickte mich stattdessen in die Schule. Zuerst in eine Sonderschule für Blinde und als das Geld ausging, in eine normale Schule. Dort lernte ich schnell, dass ich anders war. Ich wurde nicht akzeptiert. Ich hatte keine Freunde. Niemand wollte neben mir sitzen.
Warum nicht?
Die anderen Kinder wussten nicht, wie sie mit mir umgehen sollten. Woher auch? Schließlich hatten sie noch nie etwas mit Menschen mit Behinderung zu tun gehabt. Alles, was sie wussten, war, dass Menschen wie ich normalerweise auf der Straße betteln. Und wer will schon neben so jemandem sitzen?
Erst als ich dann Klassenbeste wurde, konnten die anderen ihre Vorurteile überwinden. Da wurde mir klar, dass ich für Inklusion kämpfen möchte. In meinen Schul- und Studienjahren engagierte ich mich ehrenamtlich für gesellschaftliche Gerechtigkeit. Mit 24 gründete ich gemeinsam mit anderen das Äthiopische Zentrum für Behinderung und Entwicklung.
Sie wurden nun mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. Was bedeutet das für Sie?
Das ist nicht etwas, das jeden Tag passiert. Diese Auszeichnung hat nicht nur meine Sichtbarkeit in der Welt erhöht, sondern auch die Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderungen allgemein. "Behinderung" war lange Zeit kein Menschenrechts-Thema. Das hat sich nun Gott sei Dank geändert.
Seit 2016 engagieren Sie sich bei der in Österreich gegründeten NGO "Licht für die Welt". Was sind hier Ihre Ziele?
Unser Hauptziel ist eine inklusive Gesellschaft. Dafür setzen wir uns in mehr als 70 Ländern ein. Weltweit gibt es 32 Millionen Kinder mit Behinderung, die nicht zur Schule gehen. Das ist vier Mal die Bevölkerung von Österreich. In Afrika werden Kinder zuhause festgekettet. Wortwörtlich. Ihre Eltern schämen sich für sie. Hier wollen wir helfen. Die Eltern bestärken und uns für eine inklusive Bildung einsetzen. Bildung ist die geheime Waffe mit der jede Form von Ungerechtigkeit bekämpft werden kann.
Was meinen Sie genau mit "inklusiver Gesellschaft"?
Eine Welt für alle. Nach wie vor gibt es große Widerstände, wenn es darum geht, menschliche Vielfalt anzuerkennen. Menschen neigen dazu, andere zu zwingen, so zu leben, wie sie es für richtig halten. Ich war gezwungen in eine normale Schule zu gehen. Ich musste das System einfach akzeptieren. Inklusion betrifft allerdings nicht nur Menschen mit Behinderungen. Inklusion meint einfach, Barrieren im Umgang mit Andersartigkeit abzubauen. Denn diese Barrieren sind nichts Natürliches. Sie sind menschengemacht. Deshalb liegt es auch in der Verantwortung der Menschen, diese zu zerstören.
Wie würden Sie die Situation in Europa für Menschen mit Behinderung beurteilen?
Fast alle Länder der Welt denken, es sei das Beste für Menschen mit Behinderung eigene Institutionen zu schaffen. Aber es ist nicht fair, diese Menschen wegzusperren wie wilde Tiere in einem Zoo. Nur, weil es leicht ist, heißt das nicht, dass es richtig ist. Wir sind auch Menschen. Noch vor unserer Behinderung.
Natürlich ist Europa in vielen Bereichen schon sehr fortgeschritten, da braucht man sich nur den Flughafen in Wien anzusehen oder die Blinden-Ampeln, die es überall gibt. Aber die Welt wächst unaufhörlich und Dinge ändern sich schneller, als man denkt. Situationen können kippen und auf einmal werden wir wieder in die Vergangenheit zurückgeworfen. Amerika ist wohl das beste Beispiel dafür, wie schnell es gehen kann.
Wie schwer ist es, trotz Behinderung ein selbstbestimmtes Leben zu führen?
Es könnte so einfach sein. Alles, was man dafür bräuchte, ist ein bisschen Unterstützung. Vielleicht einen persönlichen Assistenten oder eine persönliche Assistentin. Manchmal reicht auch schon ein Blindenhund oder einfach ein bisschen Technologie.
Welche Rolle spielt Barrierefreiheit dabei?
Eine große. Und zwar nicht nur für Menschen mit Behinderungen. Denken Sie an eine Rampe bei einem Stiegenaufgang. Alte Menschen können diese ebenso nützen wie Schwangere oder Mütter mit Kinderwägen.
Es ist also definitiv möglich, unabhängig zu leben. Das Problem ist, dass die meisten denken, solche Maßnahmen würden nur einer Minderheit zu Gute kommen. Aber wir sind keine Randgruppe. Keine Minderheit. Wir sind eine Milliarde. Eine Milliarde Menschen auf dieser Welt sind auf irgendeine Art und Weise behindert. Das ist jeder Siebte.
Was sehen Sie in der Welt, was andere nicht sehen können?
Andere sehen immer zuerst die Behinderung einer Person. Dabei sind sie oft blind für den Menschen. Sie sehen nicht, dass diese Person neben ihrer Behinderung auch noch hundert andere Fähigkeiten hat.
So wie das bei Ihnen der Fall ist?
Ja! Ich bin blind. Und trotzdem habe ich eine Ausbildung abgeschlossen, ich habe einen Job, einen Ehemann und zwei Töchter. Es wäre so wichtig, sich auf das zu konzentrieren, was ein Mensch kann, und nicht auf das, was er aufgrund seiner Behinderung vielleicht nicht kann. Das Einzige, was wirklich behindert, ist die Einstellung der anderen.
Macht es einen Unterschied, ob man eine blinde Frau oder ein blinder Mann ist?
Blinde Frauen werden doppelt diskriminiert. Einerseits wegen ihres Geschlechts, anderseits eben wegen ihrer Behinderung. Das Behindertenrechtskonventions-Komitee besteht aus 18 Mitgliedern. 17 davon sind Männer. Ich finde, das zeigt ganz gut, wo wir stehen.
Würden Sie sich selbst als Feministin bezeichnen?
Ich bin Feministin.
Was bedeutet Feminismus für Sie?
Es ist ein Kampf. Gegen Normen, die Frauen erklären, was sie tun können und was nicht. Diese Vorurteile, diese Normen, die die Gesellschaft für dich als Frau setzt müssen herausgefordert werden. Denn sie hindern Frauen daran, so zu werden, wie sie sein wollen.
Natürlich hat das Wort "Feminismus" eine negative Konnotation. Manche denken, es wäre eine Agenda nur für Frauen. Aber das stimmt nicht. Ich sehe es wie ein Fahrrad. Und ein Fahrrad hat zwei Räder. Beide müssen funktionieren. Also müssen wir nicht nur am "Frauen-Rad", sondern auch am "Männer-Rad" drehen, damit sich etwas bewegt.
Haben Sie ein Vorbild?
Ich habe so viele. Mutter Theresa zum Beispiel. Aber ich lerne auch viel von anderen Menschen. Von Müttern behinderter Kinder zum Beispiel. Ihre Stärke inspiriert mich.
Woraus schöpfen Sie ihre Kraft?
Ich glaube an das Gute im Menschen. Das gibt mir Kraft. Ich glaube an die Veränderung. Daran, dass das Denken in den Köpfen der Menschen verändert werden kann.
Wie?
Indem wir ihnen zeigen, was Menschen mit Behinderungen alles können. Man muss sie aus ihrer Komfortzone holen. Es gibt allerdings kein Allheilmittel. Je nach Kontext, je nach Land und Gemeinschaft bedarf es anderer Aktionen. Deshalb gilt es, zwar global zu denken, aber lokal zu handeln.
Wie können Leser dieses Interviews helfen?
Ich glaube daran, dass jeder eine Rolle spielt, wenn es um Inklusion geht. Oft reicht es aus, wenn man sich einfach menschlich verhält und anderen hilft. Dafür braucht man nicht viel Geld. So große Veränderungen wurden von "kleinen Menschen" hervorgebracht. Mahatma Gandhi oder Nelson Mandela beispielsweise. Sie alle stammten weder aus reichen Familien noch hatten sie hohe Bildungsabschlüsse. Natürlich helfen uns aber auch Spenden.
Aber das Wichtigste ist wirklich, Behinderte nicht auf ihr "Nicht-Können" zu reduzieren, sondern sich auf ihr "Können" zu konzentrieren. Alle, die diese Botschaft verbreiten, helfen. Zusammen können wir eine Welt für alle schaffen.