Man kann es so sehen wie Karl Wratschko. Als Bürgermeister der Gemeinde Gamlitz war Wratschko 2018 zu einer der aufsehenerregendsten Hochzeiten der jüngeren österreichischen Geschichte geladen. Die damalige Außenministerin Karin Kneissl ehelichte in der Südsteiermark ihren mittlerweile Ex-Ehemann Wolfgang Meilinger. In Anwesenheit eines der mächtigsten Männer der Welt. Wladimir Putin persönlich gab dem Brautpaar die Ehre.
Wratschko, der während der Feierlichkeiten zwei Tische von Putin entfernt saß, erinnert sich: "Putin hat einen guten Eindruck auf mich gemacht. Er war sehr nett und sehr freundlich. Ich habe ihn willkommen geheißen, und er hat mich auf Deutsch begrüßt." Im selben Jahr wurde ORF-Moderator Armin Wolf die seltene Ehre zuteil, Putin im Kreml kritisch zu interviewen. Er habe ihn dabei als extrem kontrolliert erlebt, erzählte Wolf dem Magazin "Politico" anschließend. Und abseits der Kamera? "Er spricht sehr leise. Das fand ich am interessantesten."
Das ist der eine Putin. Der Putin auf den ersten Blick. Freundlich, entgegenkommend. Ein bisschen undurchschaubar vielleicht. Der Putin, der sich auch in Österreich viele Freunde gemacht hat. Wegbegleiter sprechen von einem "Geheimdiensttrick": Er begreife rasch, was sein Gegenüber von ihm erwarte, und erfülle diese Erwartungen.
Hakenschlagen
Der andere Putin versetzt Europa seit Monaten in Angst und Schrecken. Es ist ein atemberaubendes Hakenschlagen, das Putin vor den Augen einer hilf-und fassungslosen Weltöffentlichkeit hinlegt. Ein Tricksen und Täuschen. An einem Tag scheint ein Krieg in der Ukraine unausweichlich, am nächsten gibt es zarte Entspannungssignale, die gleich wieder markigen Drohungen weichen. Ein meisterhaftes Psychospiel, unberechenbar und sinister, erdacht und orchestriert von dem Alleinherrscher im Kreml.
Seitdem grübelt die Welt - wieder einmal - über das Rätsel Putin. Was will der Mann? Wie denkt er? Und was hat er vor?
Nicht einmal die US-Geheimdienste wissen eine einfache Antwort auf diese Fragen. Obwohl es CIA-Agenten gibt, die nichts anderes tun, als darüber nachzudenken. "Keiner von uns versteht so richtig, was in seinem Kopf vorgeht", sagte Julianne Smith, US-Botschafterin bei der Nato, jüngst. "Wir können nicht wissen, wohin das alles führen soll." Bluff oder blutiger Ernst? Die Hoffnung auf Ersteres ist seit dem Einmarsch jedoch gestorben.
Zurückgezogen ohne Internet
Der KGB-Agent im Präsidentenamt war immer schon schwer zu durchschauen. Seit Beginn der Corona-Pandemie womöglich noch schwerer. Putin zog sich zurück. Nur wer mehrfach getestet ist und in Quarantäne war, darf bei ihm vorsprechen. Die russisch-amerikanische Autorin Masha Gessen, Autorin der kritischen Putin-Biografie "Der Mann ohne Gesicht" (2012), sagte jüngst dem "Spiegel": "Ich glaube, Putin verbringt sehr viel Zeit allein. Das Internet benutzt er nicht. Das heißt, wer immer gerade mit ihm redet, hat übergroßen Einfluss auf ihn. Das ist ein sehr, sehr altmodisches System; und das Ohr des Zaren zu haben, ist darin von unschätzbarem Wert. Wir wissen, dass Putin sich früher manchmal bei einzelnen Menschen schlau gemacht und sich ihnen geradezu als Schüler aufgedrängt hat. Aber ich wüsste nicht, dass das in den vergangenen Jahren noch passiert wäre."
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Hermetisch abgeriegeltes System Putin
Überall Konjunktive. Das System Putin ist hermetisch abgeriegelt. Nicht einmal über seine 1985 und 1986 geborenen Töchter aus erster Ehe darf in russischen Medien berichtet werden. Es gibt nur die Bilder, die es geben soll.
Putin: Vieles bleibt im Dunkeln
Im Jahr 2000 erschien ein Buch, in dem der damals auch in Russland völlig unbekannte Wladimir Putin der Öffentlichkeit vorgestellt werden sollte und das im Wesentlichen aus sechs Interviews mit ihm besteht. Es zeichnet ein widersprüchliches Bild und ist doch bis heute die Hauptquelle für Putins frühe Jahre. Da der ungestüme Bub, der Kampfsport betrieb, sich nicht unterordnen wollte und im Innenhof seines Leningrader Elternhaus das Gesetz des Stärkeren lernte. Dort der KGB-Agent, der in den 80er-Jahren völlig brav und bieder einem unverfänglichen Bürokratenjob in der DDR nachgegangen sein will. Sein anschließender Aufstieg in der russischen Bürokratie verschwindet in "Aus erster Hand" hinter vielen leeren Worten und privaten Dramen. Autounfall der Frau, Saunabrand in der Datscha. Das Leben eines Mannes, der aus dem Nichts kam. Und in Wahrheit auch dort bleiben will.
Putins Idylle
Fast komisch, zumindest bemüht wirken spätere Versuche, sich der westlichen Öffentlichkeit zu präsentieren. Die deutsche Journalistin und Russland-Kennerin Katja Gloger besuchte Putin 2002 gemeinsam mit dem Fotografen Konrad Rufus Müller auf seinem Landsitz Nowo Ogarjowo außerhalb von Moskau. Sie schreibt: "Es ist ein strahlender Samstagmorgen, Wladimir Putin begrüßt uns draußen, freundlich, unkompliziert, um Normalität bemüht. Er kommt auf uns zu in seinem eigenwilligen Gang, der ein wenig ungelenk aussieht. Der Mann geht, als ob er ständig sein Gleichgewicht ausbalancieren müsste. Es ist der vorsichtige Schritt des Judo-Kämpfers, der den richtigen Angriffspunkt sucht." Es folgen Beschreibungen eines blitzsauberen Pferdestalls und eines makellosen Parks, die 18-jährige Tochter, "schmal, schüchtern", spielt Klavier, ein weißer Pudel saust herum. Idylle eines Emporkömmlings.
Putins Posen für den Westen
Zehn Jahre später ließ sich Putin für die ARD-Doku "Ich Putin" von dem deutschen Journalisten Hubert Seipel begleiten, dem der Vorwurf gemacht wird, zu Putin freundlich zu sein. Er durfte Putin beim Schwimmen und bei der Jagd filmen. Berühmt geworden ist jene Szene, in der sich Putin mit dem russischen Nationalsport Eishockey abmüht. Er fährt langsam, schießt schlecht und wischt sich viel Schweiß von der Stirn. Eine Aufnahme zeigt, wie er versucht, sich den Eishockey Helm verkehrt herum aufzusetzen. Erst der dritte Versuch gelingt. Man kann Putins Posen für unbeholfen halten, Seipels Zugang für unkritisch. Aber der Film ist eindeutig ein Gesprächsangebot. Putin, damals im Wahlkampf, wollte auch in Deutschland gekannt, gemocht, gefürchtet werden. Davon ist heute nicht mehr viel übrig. Was wurde aus dem Putin, der Sympathien für Deutschland empfand und Lust hatte, für den Westen zu posieren?
Putins tiefes Misstrauen gegenüber dem Westen
"Der Putin der letzten Jahre ist sicher nicht zu vergleichen mit dem Putin von 2000", sagt Gerhard Mangott, Politikwissenschaftler an der Universität Innsbruck und Österreichs vorderster Kenner russischer Politik. "Damals war er interessiert an einer engen Kooperation nicht nur mit den USA, sondern auch mit der europäischen Union. Er war der Überzeugung, dass Russlands Wirtschaft nur in Zusammenarbeit mit diesen Staaten modernisiert werden kann. Aber es sind einige Dinge passiert, Entscheidungen und Entwicklungen, die vor allem von den USA eingeleitet wurden, die in Putin ein tiefes Misstrauen gegenüber dem Westen entstehen haben lassen. Er glaubt nicht mehr, dass der Westen überhaupt Zugeständnisse macht, wenn er nicht mit militärischer Stärke dazu gezwungen wird, und er ist überzeugt, dass westlichen mündlichen Zusagen jedenfalls nicht zu vertrauen ist."
Putin sei misstrauisch geworden, analysiert Mangott, und "er befindet sich in einer Art Bunkermentalität. Er glaubt, dass das gesamte Ausland gegen Russland verschworen sei und ihn von der Macht verdrängen möchte. Und er ist beseelt von dem Gedanken, Russland als Großmacht diesen westlichen Gefährdungen entgegenzusetzen." Zugang zu Putin habe vor allem der Militär und Sicherheitsapparat. "Der ist seit 2014 sehr stark geworden, und Putin ist bei seiner repressiven Politik gegenüber der russischen Opposition und Zivilgesellschaft auch auf ihn angewiesen. Diese Kräfte sind daran interessiert, in der Ukraine radikal und hart vorzugehen." Viele Putin Beobachter vertreten die These, dass der bald 70-Jährige sich jetzt endlich nachhaltig in die Geschichte einschreiben wolle.
Putins Einstellung zur Ukraine
Am besten mit einer Großtat wie der teilweisen Wiederherstellung der alten sowjetischen Grenzen. Im Juli 2021 veröffentlichte der Kreml einen mit dem Namen Putins gezeichneten Aufsatz über das Verhältnis Russlands zur Ukraine. Titel: "Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern." Er habe, heißt es da einleitend, kürzlich gesagt, dass er Russen und Ukrainer für ein Volk halte. "Diese Worte waren nicht kurzfristigen Überlegungen oder der aktuellen politischen Situation geschuldet. Ich habe das schon öfter gesagt, und ich glaube fest daran."
Der Wiener Historiker Andreas Kappeler analysierte den Text kurz nach dessen Erscheinen in einem Beitrag für die Zeitschrift "Osteuropa". "Er hat sich radikalisiert und postuliert nun die Einheit beider Völker ohne Einschränkungen", schrieb er schon damals über Putins Haltung.
Der erste Teil des Textes sei vermutlich von Historikern verfasst worden. Über den zweiten Teil, den er Wladimir Putin persönlich zuordnet, urteilt Kappeler: "Er wiederholt bekannte Thesen, spitzt sie zu und schreckt vor Drohungen an die Adresse der Ukraine und des Westens nicht zurück. Seine Argumentation ist hier sprunghaft, zum Teil widersprüchlich und emotional."
Alternder Messias
Wladimir Putin als alternder Mann, der sich, abgeschottet von der Welt und unter dem Einfluss von Militär-und Geheimdienstleuten, endlich einen ruhmreichen Eintrag in den Geschichtsbüchern sichern will? Der nicht mehr zugänglich ist für Argumente aus dem Westen, der die Demokratie hasst und fürchtet und lustvoll sein höhnisches, trickreiches Spiel mit den Lenkern der freien Welt spielt?
Klingt nicht gut für die Zukunft der Ukraine und Europas.
Noch ein bisschen schlechter klingt, was der ehemalige (und mittlerweile im Exil lebende) russische Vize-Finanzminister Sergej Alexaschenko jüngst gegenüber der "Süddeutschen Zeitung" sagte: "Er hält sich für einen Messias. Er glaubt, er sei Russland von Gott gegeben worden, und je länger er an der Macht bleibt, desto besser wird es für das Land."
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 8/2022 erschienen.