Das Strauß-Jahr hat seinen zumindest als solchen konzipierten Höhepunkt erreicht. Tobias Moretti als Schurke Zsupán und Andreas Schett als Gründer der Musicbanda Franui tragen den von Roland Schimmelpfennig überarbeiteten, von falschen Worten gereinigten „Zigeunerbaron“.
Was tun mit der Operette? Sie im Uferschlamm des Neusiedler Sees verbaggern, weil zum Ersäufen der Wasserstand nicht reicht? So wie in Mörbisch, wo sie ihre Haupt- und Residenzstadt hatte, ehe dort auf Geheiß des Ehepaars Doskozil das Gendarmenohr-kompatiblere Musical loszubrüllen begann? Oder sie in Schwärze versenken wie die „Csárdásfürstin“, die in der Volksoper wegen ihres Uraufführungsjahres 1915 von jeder Anwandlung des Frohsinns gesäubert wurde?
Und das sind noch Nebenschauplätze, verglichen mit dem Himalaya des Anstoßes: Der „Zigeunerbaron“ ist generalverdächtig, wegen des Titels und des Personals. Leider zählt er aber auch zum Genialsten und Beliebtesten der Genre-Geschichte. Deshalb hat die Intendanz des Strauß-Jahres Gegenmaßnahmen auf reputativem Höchstniveau angeordnet: Der gefeierte deutsche Dramatiker Roland Schimmelpfennig hat das Libretto mit den vielen Prosapassagen neu geschrieben, der Titel lautet jetzt „Das Lied vom Rand der Welt oder der ,Zigeunerbaron‘“ mit demonstrativen Binnen-Anführungszeichen.
Die titelgebenden Zigeuner gibt es nicht mehr, wir befinden uns in einer weltentlegenen Sumpflandschaft, in der sogenannte „Stahlnomaden“, ausgestoßene Wanderarbeiter, nach ihrer Heimkehr ihr Recht auf Glück behaupten.
Im Ensemble treffen einander Sänger und Schauspieler verschiedener Güteklassen. Tobias Moretti steht unbestritten an der Spitze des Ganzen.
Und die brillante Musicbanda Franui unter ihrem Leiter Andreas Schett hat, nach bewährtem und meist akklamiertem Verfahren, die Partitur raffiniert umorchestriert. Zu Holz- und Blechbläsern, Hackbrett und Zither kommen diesmal Streicher des RSO, dessen Erhaltung die Teilnehmer des News-Gesprächs fünf Tage vor der Premiere mit Nachdruck fordern. Weder Moretti noch Schett wollen da auch nur den Schatten eines Zweifels aufkommen lassen.
Apropos Zweifel: Warum sich den Drohungen der Ahnungslosen beugen und das Stück verändern? Tatsächlich haben Schimmelpfennigs Dialoge Poesie, obwohl sie das auf der Bühne (mit Auto) Gezeigte ständig repetierend nochmals erzählen.
Aber die Musik? Er habe sich die Aufnahme Nikolaus Harnoncourts vorgenommen, und da kam „das Gefühl, man hat zu viel gegessen“, sagt Schett. Solch ein Übermaß toller Melodien, Wendungen und Themen in solch einem Libretto! Musikalische und textliche Reduktion täte dem Gesamten gut. „Der musikalische Untergrund ist renoviert, Instrumentierung, Harmonie, Rhythmik. Der Welt, in der das jetzt spielt, tut ein neuer Blick gut. Der Staub ist weg, der Brokat ist weg, und trotzdem bleibt es in all seiner musikalischen Größe.“


Tobias Moretti
Geboren am 11. Juli 1959 in Gries am Brenner, Kompositionsstudium in Wien, Schauspielausbildung in München, begann dort eine steile Theater- und Filmkarriere. Sein Bruder, Gregor Bloéb (Tobias nahm den Namen der Mutter an), ist Schauspieler und Intendant in Telfs. Moretti ist mit der Musikerin Julia Moretti verheiratet, die beiden haben zwei Töchter und einen Sohn. Die Älteste, Antonia, ist ebenfalls Schauspielerin.
Ein Hoch den Zigeunern!
An den Texten der Arien und Ensembles sei kaum gerührt worden, man habe nur wenige Worte mit Bezug auf das obsolete Titelwort geändert.
Aber warum eigentlich? Die Zigeuner sind hier, so wie in Jahrhunderten Kulturgeschichte, die freie, stolze, sich gegen die Auslöschungsfantasien der Mehrheit stemmende Minderheit, all das in einer Atmosphäre der Kriegstreiberei. Der üble, schmierige, eigentumskriminelle Schweinezüchter Zsupán repräsentiert hier den Kapitalismus in seiner niedrigsten Ausformung.
Diese Paraderolle verkörpert Moretti, der einbekennt, das Genre Operette unterschätzt zu haben. Jetzt begreife er Brechts Bekenntnis, ihm sei die Operette wegen ihrer politischen Konnotationen lieber als die Oper. Schnörkellos und von epischer Klarheit sei Schimmelpfennigs Text.
Das lästige Canceln
Man wolle nicht die gesamte Wahrnehmung auf ein einziges Wort lenken, sagt Schett. Und Moretti: Klar verbiete sich heute vor dem historischen Hintergrund die Verwendung des Begriffs „Zigeuner“. Aber er habe bei der Arbeit am Film „Gipsy Queen“ (2019) auch Vertreter des Zentralrats der Sinti und Roma getroffen, die „Gipsys“ genannt werden wollten. „Viele empfanden es als diffamierend, aber manche haben es auch mit Stolz gesehen, gerade in der Musikkultur. Aber“, kommt er auf das Wesentliche, „nur, wenn sie sich selbst so nennen, nicht, wenn andere es tun.“
Aber das unsägliche „Canceln“ an sich? Moretti scheint dem realen Fünfundsechziger ins immerwährende Knabenalter entkommen zu sein. „Die Problematik heute ist, dass sich der historische Blick, die Analyse, der geschichtliche Kontext dem momentanen Einfluss sozialer Medienvorgaben unterordnen. Da werden komplexe Auseinandersetzungen schnell verflacht. Wenn jemand ein Stereotyp zitiert, um es anzuprangern, wird das stattdessen als Affirmation des Stereotyps interpretiert. Man verwechselt das, was Figuren auf der Bühne sagen, mit der Haltung des Werks.“
Das Bubengesicht hat sich in Rage geredet, es folgt ein Manifest für Bildung, historischen Blick und Freiheit der Kunst, das man besser nicht unterbricht.
„Man muss in erster Linie zwischen einer historischen Betrachtung und einem Hier und Jetzt unterscheiden. Vieles wird erst aus der Rückschau verständlich. Den Nahostkonflikt einzuordnen, ist derzeit unmöglich. Aber historische Zusammenhänge kann man einordnen, und wir machen in unserer übertriebenen Beflissenheit Fehler. Menschen, die den Kontext des Stücks nicht zur Kenntnis nehmen, haben zuletzt gefordert, Rainer Werner Fassbinders ,Katzlmacher‘ nicht zu spielen, und gegen Koltés ,Der Kampf des Negers und der Hunde‘ hat es Demonstrationen gegeben, dabei richten sich beide Stücke gegen genau das, wogegen sich auch die Demonstrationen gerichtet haben. Das ist absurd. Wenn das provokative Zitat nicht mehr verwendet werden darf, wird auch die politische Dimension leicht verwaschen. Das ist dann Verdrängung und kein politisches Bekenntnis. Und das wäre das Gegenteil unserer Aufgabe und das Gegenteil von Kunst.“
Wenn das provokative Zitat nicht mehr verwendet werden darf, ist das Verdrängung, kein Bekenntnis


Andreas Schett
Geboren 1971 in Lienz, Osttirol, aufgewachsen im Dorf Innervillgraten. Trompeter, Komponist, Gründer und Leiter der Musicbanda Franui, Eigentümer des Musiklabels col legno, Kurator des Musikfestivals „Gemischter Satz“ im Wr. Konzerthaus. Mit dem Ensemble arbeitet er sprachraumweit an den besten Adressen.
Brennpunkt Burg
Beide, Schett wie Moretti, sind derzeit durchaus zentral im Burgtheater beschäftigt. Schetts Franui begleitet Nicholas Ofczarek auf einem s0listischen Fulminanzritt von drei Stunden durch Thomas Bernhards „Holzfällen“. Zwei, maximal drei Reprisen hatte die Direktion aus Vorsichtsgründen angesetzt, jetzt bekommt man Minuten nach Kasseneröffnung für den Monat keine Karte mehr und hält, zwischen Gastspielen in Berlin, Bochum und Stuttgart, in Wien bei bald 20 Vorstellungen.
Moretti nutzt den Wien-Aufenthalt für einige sehr gut besuchte Reprisen von Sartres „Geschlossene Gesellschaft“, eine Hinterlassenschaft des mittlerweile in Schanghai wirkenden Alt-Direktors Martin Kusej. Moretti, der das Ganze trägt, ist sogar für ein Gastspiel ins Reich der Mitte mitgefahren! Jetzt vibriert das Haus von schauspielerischer Qualität, die Heimkehrer Joachim Meyerhoff, Stefanie Reinsperger und Caroline Peters werden in ausverkauften Vorstellungen gefeiert.
Zurück zu den Schauspielern!
Das Burgtheater, sagt Moretti, sei ein richtiges Schauspielertheater. „Das ist die eigentliche Kraft von Theater, auch die politische Kraft. Wenn Theater die Essenz von Literatur ist und Literatur die Essenz der philosophischen Betrachtung von Gesellschaftsumständen, muss man sich auch darauf fokussieren und darf das Theater nicht durch künstliche Niederschwelligkeit umbringen.“ Pubertäre Umwertungen, wie sie derzeit im gottlob abschwellenden postdramatischen Belehrungsrausch vorgenommen werden? „Es ist ein riesiges Missverständnis, wenn man das bildungsbürgerliche Publikum abbaut, weil man meint, dann kommt die Generation Social Media. Da sägt die Kultur den eigenen Ast ab, denn RTL2-Schauende bringt man deswegen nicht ins Theater.“
Moretti k0mmt auf den fulminanten hochbesetzten „Zerbrochnen Krug“, den er heuer beim Festival von Telfs für ein paar Reprisen weiterspielt, weil im Vorjahr so viele Besucher abgewiesen werden mussten. Nichts sei an Kleists Text verändert worden! „Ich fände es unfair und arrogant, den Menschen diesen großartigen Text vorzuenthalten. Das ist ja unser Beruf, das zu vermitteln. Wenn man in die Sprache eines Kleist und Schiller eingreift und sie vereinfacht, ist das eine Art kulturelle Aneignung. In der Musik kann ich ja auch keine komplexen Modulationen auslassen und nur C-Dur spielen, damit es die Leute– angeblich – leichter verstehen.“
Die Dreharbeiten werden auch nicht weniger: ein kleinerer Krimi neben den „Zigeunerbaron“-Proben, ein Kinofilm und noch etwas für das Fernsehen. Und dann ein Projekt, das er mit seiner Frau, der Musikerin Julia Moretti, für Arte und ORF umsetzt: Es geht um die Ehrenrettung des gefeierten Komponisten Antonio Salieri, der sich als Lehrer Beethovens, Schuberts und Liszts sowie als Gründer der Gesellschaft der Musikfreunde (vulgo Musikverein) in die Geschichte eingeschrieben hat. Er hat sich auch mit Verve für die sozialen Belange seiner Kollegen verwendet, geblieben ist aber der haltlose Ruf des Mozart-Mörders aus Peter Shaffers „Amadeus“.


Das Lied vom Rand der Welt
oder der „Zigeunerbaron“. Johann Strauß’ Geniewerk mit neuen Dialogen von Roland Schimmelpfennig, arrangiert und gespielt von der Musicbanda Franui (so heißt eine Almwiese in Osttirol) mit Streicherergänzung des RSO, geleitet von Andreas Schett.
Regie und Video: Nuran David Calis. Mit Nadja Mchantaf als Saffi, David Kerber und Miriam Kutrowatz (Bild als Arsena und Bárinkay), Tobias Moretti (links) als Zsupán.
Produktion des Strauß-Jahres, Museumsquartier, Halle E.
Land in Bürgermeisterhand
Nun ist ein neuer, nicht durch überschießende Kunstaffinität auffällig gewordener Fachminister ins Amt getreten. Moretti über Babler: „Nun ja, jemand wie Rudolf Scholten etwa hatte neben seiner Leidenschaft für die Kunst auch das Wissen und die Erfahrung im Kulturbereich. So eine Besetzung wäre ein Signal gewesen, dass die Kunst einen anderen Stellenwert in diesem Ministerienkarussell hat.“
Und Schett zum Amtsinhaber: „Der ist mir weder begegnet noch durch Positives aufgefallen. Es staunen nur viele, dass das Land jetzt vom Vizebürgermeister von Wiener Neustadt und vom Bürgermeister von Traiskirchen regiert wird. Wenn man so wie ich aus der Provinz kommt, weiß man Bürgermeister einzuschätzen. Ob das jetzt die richtige Kragenweite ist, kann man nicht sagen.“
Aber das ist ja das Wesen der Kunst: Unsagbares, wenn nicht gar Unsägliches aussprechbar zu machen.

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