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Robert Harris: „Ein Weltkrieg ist heute vorstellbar“

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Seit mehr als 30 Jahren ist jeder Roman des britischen Schriftstellers Robert Harris ein Bestseller. Die Verkaufszahlen werden in Millionenhöhe verbucht. Der ehemalige Politik-Redakteur der BBC versteht es, die Gegenwart aus dem Blick der Historie zu erklären. Ein Gespräch über den Geschichtsthriller „Abgrund“ und warum die politischen Ereignisse im Jahr 1914 für uns relevant sind

Wäre Boris Johnson vor 100 Jahren Premierminister in Großbritannien gewesen, hätte er ohne Konsequenzen in Zeiten strikten Lockdowns seine Feste feiern können. Denn damals wussten die meisten Londoner Taxifahrer nicht, wer in der Downing Street Nr. 10 residierte. So kam es, dass der Premier der Jahre 1908 bis 1916, Herbert Henry Asquith, seine Schwäche ausleben konnte: seine Zuneigung zu Venetia Stanley, einer um fast vierzig Jahre jüngeren Schulfreundin seiner Tochter. Er führte die junge Dame in den Park oder zum Shoppen in die Londoner City aus, schrieb ihr 560 Briefe und hoffte, ihr Interesse mit geheimen Staatsinformationen wachzuhalten.

Der britische Bestseller-Autor Robert Harris erkannte das Potenzial des Stoffes und ließ die Geschichte des Paares zum Thriller „Abgrund“ werden, der in diesen Tagen bei Heyne erscheint. News erreichte ihn in seinem Domizil in Berkshire im Südosten, Englands.

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Im Interview, das wir vor zwei Jahren führten, sagten Sie, der ehemalige britische Premierminister Boris Johnson würde besser in eine Soap-Opera passen als in die Downing Street. In Ihrem aktuellen Roman „Abgrund“ schreiben Sie über Herbert Henry Asquith und seine jüngere Geliebte Venetia. Hat Sie gar Johnson dazu inspiriert?

Asquiths Geschichte ist doch außergewöhnlich. Man kann kaum glauben, dass sie wahr ist. Die Briefe, die er an Venetia schrieb, sind alle im Roman getreu dem Original wiedergegeben. Für Wissenschaftler sind diese Briefe bereits seit einigen Jahren im Archiv in -Oxford zugänglich. Venetias Briefe aber sind nicht erhalten. Sie muss ihm über 300 geschrieben haben. Er hat sie alle zerstört. Ich bin der erste Romanautor, der versucht hat, Venetias Antworten zu rekonstruieren. So etwas kann nur ein Romancier, kein Historiker. Ich betrachte es als großen Glücksfall, dass ich die Idee dazu hatte.

Wir dachten immer, Atomwaffen würden die Menschen von einem Krieg abhalten, aber die scheinen keine abschreckende Wirkung mehr zu haben.

Robert HarrisJournalist und Autor

Aber Sie kannten Asquiths Briefe doch schon länger. Warum haben Sie den Roman erst jetzt geschrieben?

Oft spricht einen unbewusst etwas an, von dem man nicht einmal genau weiß, was es ist. Ich glaube, da gibt es etwas, wodurch sich 1914 so relevant anfühlt wie seit vielen Jahren nicht mehr. Ich meine das Gefühl, dass wir leicht über den Rand eines Abgrunds in ein Unglück stolpern könnten. Das hat das Schreiben an diesem Roman für mich jetzt noch dringlicher gemacht.

Spricht da der politische Redakteur Harris? Halten Sie einen dritten Weltkrieg für möglich?

Schwer zu sagen. Man kann nur sagen, dass 1914, zwei Wochen vor dem Ersten Weltkrieg, niemand dachte, dass es in Europa Krieg geben würde, und dann kam er ganz plötzlich aus dem Nichts. Es gab ausgeklügelte Verteidigungsbündnisse, die einen Krieg verhindern sollten. Aber diese hatten letztendlich den gegenteiligen Effekt. Sie haben ihn beschleunigt. Jetzt haben wir zwei Krisenherde, einen im Nahen Osten und einen in der Ukraine. Zum ersten Mal in meinem Leben halte ich einen Krieg für vorstellbar. Wir dachten immer, Atomwaffen würden die Menschen von einem Krieg abhalten, aber die scheinen keine abschreckende Wirkung mehr zu haben. Aber es ist heute möglich, einen Krieg auch ohne Atomwaffen zu führen. Und dieser Krieg wird ganz anders sein. Es wird ein Krieg der Drohnen und der künstlichen Intelligenz sein, ein Cyberkrieg.

Welcher Konflikt könnte eher einen weltweiten Krieg auslösen, Russlands Angriff auf die Ukraine oder Israels Kampf gegen die Hamas?

Es ist schwer, das eine gegen das andere abzuwägen. Was, wenn eine westliche verirrte Nato-Rakete den Kreml trifft oder ein russisches Flugzeug von der Nato abgeschossen wird oder umgekehrt? Was, wenn Amerika im Nahen Osten in einen Angriff auf den Iran hineingezogen wird? Ich denke aber, dass der Krieg in der Ukraine potenziell gefährlicher ist. Aber Sie wissen, dass es viele Möglichkeiten gibt, wie eine Situation plötzlich eskalieren könnte.

Ein Premierminister, der brisante Dokumente an seine Geliebte schickt

Lassen Sie uns zu Ihrem Roman zurückkehren. Da geschieht Unglaubliches. Nicht genug damit, dass der Premierminister vertrauliche Dokumente an seine Geliebte verschickt, um diese zu beeindrucken. Er wirft Telegramme mit brisanten Inhalten einfach während der Fahrt aus dem Autofenster …

Das ist so passiert, wie ich es im Roman beschrieben habe. Als diese Telegramme entdeckt wurden, gab es natürlich Untersuchungen darüber, wie diese an die Öffentlichkeit gelangen konnten. Asquith leugnete, dass er damit etwas zu tun haben könnte. Das gab mir die Möglichkeit, eine Art Thriller zu schreiben. Da habe ich einen Polizisten erfunden, der die beiden wie in einer Menage-à-trois beobachtet. 

Heute, in Zeiten, in denen jede E-Mail überwacht wird, könnte Asquith nicht so leichtfertig mit Dokumenten umgehen. Sehe ich das richtig?

Heute wäre das absolut unmöglich. Die Kontrolle ist unerbittlich und sehr schwer zu ertragen. 1914 hatten Sie es als Politiker viel leichter als heute. Aber Asquith war eine Figur aus einer anderen Zeit. Im britischen Empire lebten 1914 450 Milliarden Bürger, aber Asquith konnte den Zug nehmen, ohne Polizeischutz durch die Londoner Straßen gehen oder mit seiner Geliebten bei -Selfridges einkaufen, ohne erkannt zu werden. Niemand hätte da ausgerufen: „Oh, schau, da ist der Premierminister.“ Deshalb konnte er diese Beziehung auch so lange aufrechterhalten. Aber er ist der letzte Politiker in der Geschichte Großbritanniens, bei dem das möglich war. Seine Nachfolger wie Lloyd George und Winston Churchill waren sehr berühmt, weil sie die Leute in den Wochenschauen sahen. Aber Asquith konnte anonym bleiben. Damals wussten die meisten Londoner Taxifahrer nicht, was in der Downing Street Nummer 10 ist. Das war eine offene Straße.

Wie kam es aber, dass die Beziehung zwischen diesem Politiker und dieser jungen Frau in der Londoner Society nicht zum Skandal wurde?

Es war nicht ungewöhnlich, dass Leute in solchen gesellschaftlichen Kreisen Affären hatten. Aber um einen Skandal zu verhindern, sah sich Venetia gezwungen, die Beziehung zu beenden. Als Großbritannien dann ernsthaft am Krieg beteiligt war, wurde Asquith immer abhängiger von ihr. Auch deshalb wollte sie den Kontakt zu ihm abbrechen. Zunächst aber hatte sie das Gefühl, dass sie die Affäre als patriotische Pflicht aufrechterhalten musste, um ihn zu unterstützen und seine Moral hochzuhalten. Die ganze Geschichte ist eine fast Shakespeare’sche Tragödie über einen Politiker und einen in vielerlei Hinsicht großen Mann, der einfach seiner Schwäche erlag. Er dachte sogar daran, mit ihr zu fliehen. Er schrieb ihr, dass er seine Ehefrau verlassen und sein Amt als Premierminister niederlegen würde. Aber das glaube ich nicht so ganz. Andererseits behauptete er einmal sogar, dass er Selbstmord begehen könnte, schon wenn er sich nur vorstellt, dass er Venetia verlieren würde. Für sie wäre es tatsächlich sozialer Selbstmord gewesen, wenn sie diese Beziehung fortgesetzt hätte.

Da erkannte selbst Asquith, dass man den Frauen das Wahlrecht nicht länger verweigern konnte, weil es unmöglich war, den Krieg ohne Frauen zu führen.

Robert HarrisJournalist und Autor

"Wir befinden uns in einer Zeitenwende wie 1914"

Wie konnte es sein, dass ein Politiker, der gegen das Wahlrecht für Frauen auftrat, sich in eine derartige Abhängigkeit von einer jungen Frau begeben hat und sogar ihre Meinung zur Weltpolitik eingeholt hat?

Das ist eine dieser Paradoxien der Geschichte. Seine Partei war liberal, progressiv, und er war gegen das Wahlrecht für Frauen. Aber ich glaube nicht, dass Asquith Frauen für dumm hielt. Vielmehr wollte er sie auf eine ritterliche Art vor dieser schrecklichen Welt der Politik beschützen. Aber das wurde während des Kriegs unmöglich. Die Männer wurden in die Armee eingezogen, und ihre Plätze in den Fabriken mussten von Frauen eingenommen werden, besonders in den Munitionsfabriken. Da erkannte selbst Asquith, dass man den Frauen das Wahlrecht nicht länger verweigern konnte, weil es unmöglich war, den Krieg ohne Frauen zu führen. Zum Ende des Buches hin können Sie sehen, wie damals diese neue Welt entstanden ist. Wir leben heute immer noch im Schatten von 1914, dann kam die Russische Revolution, dann der Faschismus, die technologische Kriegsführung. 1914 war der Zeitpunkt, an dem sich die Welt veränderte.

Erleben wir nicht auch heute eine Zeitenwende? Etwa durch die künstliche Intelligenz?

Da gebe ich Ihnen recht. Wir befinden uns in einem neuen Zeitalter, einer neuen Ära. Man kann spüren, wie sich die Landschaft um uns herum verändert, so wie Asquith und seine Zeitgenossen es 1914 spürten. Es ist sehr schwer, zu erraten, wie die Zukunft aussehen könnte. Denn Institutionen wie die Nato, die Europäische Union oder der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, die Menschenrechtskonvention, alle Arten der westlichen Allianz haben den Frieden geschützt. Es gab bestimmte starke Säulen, die die Welt zusammenhielten. Heute hat man das Gefühl, dass die nicht mehr sehr solide sind. Auch das erinnert an 1914. Man dachte zuerst nicht, dass es einen Krieg geben könnte, und dann, als der Krieg ausbrach, dachte man, dass er in zwei oder drei Monaten vorbei sein würde. Die Leute hatten keine Ahnung, worauf sie sich da eingelassen hatten.

In Wien präsentieren Sie Ihren Roman im Heeresgeschichtlichen Museum. Dass die Ermordung des österreichischen Thronfolgers den Ersten Weltkrieg ausgelöst hat, erwähnen Sie im Roman nur kurz?

Das österreichisch-ungarische Reich war trotz all seiner Fehler besser als das, was an seine Stelle trat, nämlich das Chaos nach dem Ersten Weltkrieg mit all den verschiedenen Krisenherden, die schließlich zum Zweiten Weltkrieg führten. Aber in England drohte zu dieser Zeit ein Bürgerkrieg. Darauf konzentrierten sich alle wichtigen Politiker in Großbritannien. Diese merkwürdige Angelegenheit in Sarajevo (Am 28. Juni 1914 wurden der Thronfolger Österreich-Ungarns und seine Ehefrau Sophie Kotek vom serbischen Nationalisten Gavrilo Princip erschossen.) war tragisch, aber sie schien sehr weit von London entfernt. Es war undenkbar, dass diese zu einem europäischen Krieg führen würde, und dann ist es geschehen. Das ist ein bisschen wie bei Bergsteigern, die an einer Felswand zusammen angeseilt sind. Einer von ihnen rutscht aus, die anderen sollen ihn schützen, aber am Ende reißt einer den anderen mit.

Keir Starmers Labour-Regierung und die EU

Wie sehen Sie die Lage in Großbritannien? Wird Keir Starmer mit seiner Labour-Regierung das Land zurück in die EU führen?

Das kann noch eine Generation dauern, bis England wieder zurückkehrt. Aber was mit Europa geschehen wird, wer weiß das schon? Es kann sein, dass sich ein anderes Europa bildet, aber man kann Großbritannien nicht von Europa trennen. In der Labour-Partei gibt es starke Bestrebungen, mehr mit Europa zusammenzuarbeiten. Das ist für beide Seiten wirtschaftlich sinnvoll. Man wird sich wieder einander annähern, mehr, als es unter den Konservativen der Fall war. Ich glaube, dass die Konservativen lange nicht mehr an die Macht kommen. Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich den Brexit für eine Katastrophe halte. Und ich glaube, dass die meisten Menschen in Großbritannien jetzt auch sehen, dass der ein Fehler war.

Wie erlebten Sie den amerikanischen Wahlkampf. Horchen Sie noch auf, wenn Sie Ihren Namen im Radio hören?

Mir hat jemand einen Sticker mit „Harris for President“ geschenkt. Den stecke ich mir gern an.

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 © Heyne

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 45/2024 erschienen. 

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