Werke mit Wirkung – und das nicht bloß im übertragenen Sinne: Seit 2016 setzt Monika Kus-Picco auf medizinische Substanzen als Material, bedient sich deren Pigments und schafft damit einen informellen Zugang zur Kunst, den es in derartiger Ausschließlichkeit noch nicht gegeben hat.
"Gegen Husten, gegen Fieber und zur Stärkung des Immunsystems", deutet Monika Kus-Picco aufklärend auf die unterschiedlichen Arzneipräparate. Doch die vermeintliche Standardrezeptur gegen grippale Infekte findet sich diesmal – wider Erwarten – nicht auf dem Verkaufstresen einer Apotheke wieder. Und obwohl Kus-Picco ihre Hände bei der Arbeit stets in blaue Einweghandschuhe hüllt und zumeist Mundschutz trägt, ist ihr Wirkungsfeld auch nicht, wie es der Anschein vermuten ließe, die Medizin. Zumindest nicht direkt. Indirekt begleitet sie diese aber schon immer. "Die Generation meiner Großeltern musste noch ohne professionelle 24-Stunden-Pflege auskommen – sie wurde in den eigenen vier Wänden von Angehörigen gepflegt. So kommt es, dass ich, wie viele andere auch, zwischen Krankenbetten, Verbandsmaterialien und Medikamenten aufgewachsen bin." Eine frühkindliche Sensibilisierung, die wohl ihr immerwährendes Interesse für die Medizin und auch den heutigen Fokus ihrer Arbeit begründet.
Selbst Ärztin zu werden, kam für sie jedoch nie infrage: "Meine Heimat war immer schon die Kunst", erzählt sie. In ihr fand sie als "ziemlich introvertiertes Kind, das immer gerne gemalt hat", einen sicheren Zufluchtsort. Während sie das Adjektiv introvertiert über die Jahre scheinbar gänzlich ablegte, blieb die Kunst Ausdrucksmittel der Wahl und wurde vom einstigen Zufluchtsort zu Kus-Piccos Universum. Dass ihre Arbeit heute gefragter Fixpunkt am Markt ist, verdankt die Kunstwelt ihrem Zeichenlehrer der siebten Klasse. Von seinem erfrischenden Zugang zur Kunst getrieben, entschied sie, ebendort auch beruflich Fuß fassen zu wollen. "Das Bedürfnis, mich in Bildern auszudrücken, war größer, als in irgendeinem OP zu stehen oder in einer Ordination zu sitzen. Aber immerhin scheint es, als hätte mein Interesse für die Medizin auf zwei meiner Kinder abgefärbt – die Tochter wird Ärztin, der Sohn Biomedical Engineer", so die vierfache Mutter. "Die Kunst scheint glücklicherweise für keines infrage zu kommen", scherzt sie. "Das 24/7 schreckt sie ab."
Konservierung des Vergänglichen
Für Kus-Picco selbst gibt es kaum Schöneres, als stundenlang an ihrem Werk zu arbeiten. Der Schauplatz: ihr Atelier – gelegen am Maurer Berg, befindet sich ihre Wirkungsstätte im Dachgeschoß eines Gründerzeithauses, erbaut vom Großvater. Wo einst das Krankenbett der Großmutter stand, lehnen heute zahlreiche Leinwände. Sie alle erinnern im entfernteren Sinne an die großmütterliche Krankengeschichte, sind gewissermaßen von ihr geprägt. Denn im Jahr 2014 machte Kus-Picco, die sowohl an der Angewandten in Wien als auch an der Kunstakademie Düsseldorf studierte, schließlich ihr Interesse für die Medizin zum Protagonisten ihres Schaffens – ausgelöst durch die frühe Alzheimerdiagnose ihrer Mutter. Für die Künstlerin ist dieser Zugang zunächst eine Art Reflexion, ihre Art, Erlebtes aufzuarbeiten. Zwei Jahre setzt sie sich in ihren damaligen Hauptmedien – der Acrylmalerei und der Fotografie – intensiv mit der Erkrankung auseinander. Ohne aber ihren seit jeher bestehenden künstlerischen Fokus auf das Vergehende aus den Augen zu verlieren: "In meiner Kunst ging es mir immer schon um die Konservierung des Vergänglichen – ganz gleich, ob in der Landschaftsmalerei, der Fotografie von beispielsweise Wolkenformationen oder meinen Skulpturen aus Fundmaterialien wie Schwemmholz oder Textil." Immer schon setzte sie so ihre Zeichen gegen das Vergessen. "In der Auseinandersetzung mit Demenz gewinnt dieser Fokus einmal mehr an Intensität."
Die Materialität der Medizin
Zwei Jahre bleibt das Thema unverändert. Doch der Zugang wandelt sich: "Ich dachte mir: Warum nur über Medizin und nicht auch mit ihr arbeiten? Seither ist die Medizin mein Material." Bei Betrachtung ihrer Werke stechen sofort medikamentöse Rückstände ins Auge – mal deutlicher in Form von Tabletten oder ganzen Spritzen, mal weit subtiler als reines Pigment. So entwickelt Kus-Picco schließlich einen Zugang, den es in derartiger Ausschließlichkeit zuvor noch nicht gegeben hat, und begründet eine neue Richtung des Informel. Abgesehen vom Maluntergrund sind ihre Werke ausnahmslos medizinischen Ursprungs. "Abhängig vom Thema beziehungsweise von der jeweiligen Serie, arbeite ich mit medizinischen Lösungen, Tabletten jeglicher Art, Laborutensilien, medizinischen Produkten und Farbstoffen wie etwa Methylenblau oder Kongorot." Das Spannende daran: "Selbst nach acht Jahren ist der Überraschungseffekt – obwohl man die Reaktionen einzelner Substanzen bereits kennt und für sich nutzt – im Entstehungsprozess ein steter Begleiter. Man weiß einfach nicht, welche chemischen Reaktionen einen erwarten – ob sie gefallen oder nicht." Das eingangs beschriebene Werk, das Standardrezept bei grippalen Infekten, markiert übrigens den Anfang dieser Arbeit. Entsprungen ist es der eigenen Hausapotheke. "Ein erster Versuch, ein Wagnis", erinnert sich die Künstlerin. Denn im näheren Umfeld hielt sich der Enthusiasmus gegenüber ihrem neuen Zugang anfangs bedeckt.
Kunsthistoriker, Kurator und Autor Robert Fleck war schließlich der Erste, der sich damals "drübergetraut" hat. "Wir haben eine Art Feldversuch gestartet", erinnert sich Kus-Picco schmunzelnd. "Dabei haben wir meine Unbekanntheit in Paris genutzt, um zu schauen, wie Szene und Markt auf den Zugang reagieren würden." Und siehe da, die Reaktion des Pariser Testfelds: Begeisterung und Wohlwollen.
Sammelstelle für Medizinprodukte
Seither reicht selbst Kus-Piccos gut sortierter Hausapothekenvorrat längst nicht mehr aus, um der Nachfrage nach ihren Werken gerecht zu werden. Doch woher bezieht sie ihre "Malfarben“? Als sie von ihrer Arbeit und der neuen Herangehensweise berichtete, wurde die Materialbeschaffung zum Selbstläufer: "Verwandte und Bekannte beliefern mich seit Anbeginn mit Medikamenten aus aller Welt. Heute habe ich auch einige Apotheken sowie Ärzte und Ärztinnen, die mir abgelaufene Substanzen zur Verfügung stellen", so die Künstlerin, die fast ausschließlich mit abgelaufenen Produkten aus der pharmazeutischen Industrie arbeitet. Ein weiterer Schlag gegen die Vergänglichkeit: "Spannenderweise müssen Präparate, deren Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten wurde, deren Wirkung aber dennoch gegeben wäre, vernichtet werden – ich bewahre sie davor und recycle sie in meinen Bildern."
Mittlerweile sind es aber auch Privatpersonen, die in Monika Kus-PiccosAtelier mit mitgebrachten Arzneimitteln vorstellig werden. "Viele von ihnen haben eine bewegte Krankengeschichte hinter sich und kommen mit der Bitte zu mir, ein Bild aus ihren Medikamenten zu malen, um mit der überstandenen Krankheit abschließen zu können", ein therapeutischer Effekt, der auch die Künstlerin sehr berührt. Distanz zu wahren, gelingt nicht immer. Eine ihrer berührendsten Arbeiten? "For Amin" – gewidmet einem Schulfreund ihrer Tochter, der im Dezember 2020 zwölfjährig an Leukämie starb. "Auf der Beerdigung meinte seine Mutter, man solle Armin nicht vergessen – so kam mir damals die Idee: ein Bild gegen das Vergessen." Und das ist es geworden: Die großformatige Arbeit ist heute Teil der Sammlung der Albertina. Und wird es immer bleiben.
Kunst als kritisches Sprachrohr
Von Auftragsarbeiten abgesehen, nutzt Kus-Picco ihre serielle Kunst vor allem dazu, um Kritik zu üben. Kritik an einem der mächtigsten Märkte der Welt – der Pharmaindustrie. "Im Zuge der Recherche, warum meine Mutter in so jungen Jahren an Demenz erkrankte, bin ich auf eine Studie des "British Medical Journal" getroffen die zeigt, dass die längerfristige Einnahme von beruhigenden Benzodiazepinen über drei Monate hinaus das Demenzrisiko um 48 Prozent erhöht – ein derartiges Präparat hatte auch meine Mutter während der 80er-Jahre eingenommen", so die Künstlerin. Expertinnen und Experten bestätigten ihr diese Kausalität, sich dazu bekennen und es öffentlich thematisieren wollte jedoch niemand. Zu groß ist die Angst vor der Industrie.
Die weitreichende Recherche war Beginn einer nicht endenden Studienreise, die Kus-Picco immer tiefer in die Medizin eintauchen lässt. Ihre akribische Herangehensweise ist beinahe mit Forschung zu vergleichen. Ihre Ziele: "Durch interdisziplinäres Forschen anschauliche Erfahrungen mit den Produkten der Pharmaindustrie zu schaffen und die Zusammenhänge zwischen sozialen Systemen, Geschlechtern und regional-kulturellen Unterschieden zu ergründen – so geht es mir beispielsweise darum, auf den Massenverkauf bunter Medikamente in den USA aufmerksam zu machen oder das Thema Gendermedizin vermehrt in den Fokus zu rücken", so die Künstlerin mit brasilianischen Wurzeln, die sich in ihrer jüngsten Werkgruppe der Gegenüberstellung traditioneller Heilmethoden indigener Völker des Amazonas und der westlichen Schulmedizin widmet.
Ganz gleich, an welcher Serie sie jedoch gerade arbeitet – ihre Kunst ist längst Sprachrohr. Gehör verschafft man ihr unter anderem an der Akademie der Wissenschaften, an der sie ihre Arbeit bereits erfolgreich präsentierte: "Als Künstlerin habe ich die nahezu einmalige Möglichkeit, derartige Missstände ohne Konsequenzen aufzeigen zu können – und diese nutze ich", so Kus-Picco. "Wenn es mir gelingt, nur eine einzige Person vor deren Folgen zu bewahren, habe ich mein Ziel bereits erreicht." Künstlerisch liegt dieses glücklicherweise noch in weiter Ferne. An Ideen scheint es ihr nämlich nicht zu mangeln. In der Garage wartet bereits ein Sack voll ausrangierter Hüftgelenke darauf, neuer Bedeutung zugeführt zu werden. "Mal sehen, was ich daraus mache ..."
Kulturtipp
Mit dem großformatigen Werk "For Beauty only" verweist die Künstlerin auf die absurde Vielfalt Schönheit versprechender Medikamente. Zu sehen ist es bis 3. November in der Ausstellung "Die lädierte Welt" in der Albertina Klosterneuburg.
Vertreten wird Monika Kus-Picco in Wien durch die Galerien Lukas Feichtner und Kovacek & Zetter sowie durch Galerien in Salzburg, Baden und Graz.
Dieser Beitrag erschien ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 20/2024.