In der Musik von Johann Strauß liegt die Wiener Seele, sagt Riccardo Muti, der soeben ein wunderbares Neujahrskonzert dirigierte. Zum 200. Geburtstag des Identitätsstifters, der mit seinen Welttourneen die Massen in Bewegung setzte, mischen sich wieder Unsinn und Wahrheit. Zehn Antworten zum Phänomen
Ein größerer Bringer wurde der Stadt Wien nie geboren: Der große Sohn geht zumindest Eingesessenen reiferen Alters verlässlich ans goldene Herz, auch in der Gestalt des Neujahrskonzerts (50 Millionen Seher in 92 Ländern) nährt er den Fremdenverkehr und das kommunale Ego. Klar, dass sich die Stadt zum 200. Geburtstag von Johann Strauß Sohn nicht lumpen lässt (s. Seite 63). Wir beantworten mit Expertenhilfe zehn Fragen.
1. Strauß oder Strauss?
Über die Schreibung des Namens gab es über viele Jahrzehnte keine Debatte: Man wählte das scharfe ß, weil es sich durchgesetzt hatte und wegen der besseren Unterscheidbarkeit zu Richard Strauss. Die Philharmoniker bleiben bis heute bei dieser Version, andere verweisen darauf, der identitätsstiftende Walzerkönig selbst habe stets das Doppel-s gewählt. Die Debatte ist obsolet: Das Doppel-s setzt sich in der Kurrentschrift aus zwei Zeichen zusammen – einem langen und einem kurzen, die mitsammen das Schriftbild „ß“ ergeben. Wir bleiben bei „Strauß“!
2. War Johann Strauß Jude?
Strauß’ Urgroßvater, Johann Michael Strauß, ließ sich vor seiner Heirat mit Rosalia Buschin am 11. Februar 1762 taufen. Die Trauung fand im Stephansdom statt, im Trauungsbuch der Dompfarre liest man: „Der ehrbare Johann Michael Strauß, ein getaufter Jud.“ Den Nazis blieb es vorbehalten, das Heiratsbuch zu fälschen. In der Domkanzlei lag das Falsifikat auf, aber das Original überlebte im Haus-, Hof- und Staatsarchiv.
3. War Johann Strauß Deutscher?
Er nahm die Staatsbürgerschaft von Sachsen-Coburg und Gotha an, um Adele, seine dritte Frau, heiraten zu können, daheim war Geschiedenen die Wiederverehelichung untersagt. Aus demselben Grund musste er auch die Konfession wechseln und wurde Protestant.
Sein Leben
Johann Strauß Sohn wurde am 25. Oktober 1825 in Wien geboren, sollte Beamter werden, wurde aber von seiner Mutter, einer Wirtstochter, gegen den erfolgreichen Vater als Musiker aufgebaut. Mit seiner Kapelle wuchs er zur Weltadresse mit Tourneen in Europa und Nordamerika. Er war dreimal verheiratet, hatte aber keine Kinder, weshalb es keine direkten Nachkommen gibt. Seine Brüder Josef und Eduard wurden ebenfalls Musiker. Er starb am 3. Juni 1899 mit 73 Jahren in Wien
4. Waren Vater und Sohn Rivalen?
Der erfolgreiche Unterhaltungsmusiker Johann Strauß Vater (1804–1849), Komponist des „Radetzkymarschs“, wurde lang vor dem Sohn „Walzerkönig“ genannt, gründete das erste Reiseorchester und ging auf umfangreiche Tourneen. Er verließ seine Familie, als seine Frau Anna das sechste Kind erwartete, und zeugte mit der Modistin Emilie Trampusch acht Kinder. Die Söhne aus erster Ehe, Johann, Josef und Eduard, wurden über Umwege ebenfalls Musiker. Johanns Karriere bekämpfte der Vater aus offenem Konkurrenzneid. Von ihm sind Wutanfälle überliefert, als er den Sohn beim Geigenspiel überraschte.
Anna Strauß aber setzte nach der Scheidung 1844 auf den Sohn und förderte ihn offensiv, als er mit behördlicher Genehmigung seine eigene Kapelle gründete. In einem Inserat gab er das bevorstehende Debüt bekannt: am 15. Oktober 1844 im Casino Dommayer, dem heutigen Parkhotel Schönbrunn. Das Lokal mit seinen 600 Plätzen war überfüllt. Vater Strauß hatte zuvor versucht, die Veranstaltung behördlich verhindern zu lassen.
5. War Strauß ein Lokalphänomen?
Johann Strauß Sohn war einer der erfolgreichsten Unterhaltungsmusiker aller Zeiten. Er gastierte elf Jahre lang in St. Petersburg, seine Tourneen führten durch ganz Europa. Im Sommer 1872 reiste er nach New York und zum Weltfriedensfest nach Boston, wo er
vor mindestens 30.000 Zuhörern mit 100 Subdirigenten ein 1.000 Mann starkes Orchester leitete. Gemessen an den Möglichkeiten des Reisens und der medialen Verbreitung waren das Dimensionen, die später die Beatles oder Taylor Swift erreichten.
6. Welcher Strauß war der genialste?
Johann Strauß selbst gab die Antwort: „Mein Bruder Josef ist der Begabtere, ich bin der Berühmtere.“ Der Diagnose schließen sich Roland Geyer, Intendant des Wiener Strauß-Jahres, und der Musikwissenschafter, Sachbuchautor und Philharmoniker-Alt-Vorstand Clemens Hellsberg an.
Josef Strauß (1827–1870) war zunächst Techniker – er erfand u. a. zwei Kehrmaschinen – und übernahm 1852 die Leitung der Strauß-Kapelle, als sein Bruder mit Burn-out-Symptomen von einer Konzertreise zurückkehrte. Über seinen besten Werken liegt ein melancholisches Dunkel, Hellsberg rühmt an ihm die Wagner’sche „unendliche Melodie“. Josef Strauß war zeit seines Lebens kränklich. 1870 fiel er während einer Konzertreise in Warschau bewusstlos vom Pult und starb wenig später. Hellsberg rühmt die späten Walzer „Friedenspalmen“ und „Hesperusbahnen“: „Da klingt schon das Jenseits herüber.“
Unbestritten ungenial hingegen war der jüngste Bruder Eduard (1835–1916), der es als Trittbrettunsterblicher anhaltend in die Konzerte der beiden Begabteren schafft. Sein Beitrag zur Kulturgeschichte ist ein verhängnisvoller: 1907 ließ er, angeblich dem letzten Wunsch des 37 Jahre zuvor verstorbenen Josef folgend, das riesige Notenarchiv der Strauß-Kapelle verbrennen. Der Grund liegt auf der Hand: Die Brüder waren de facto Fließbandproduzenten (Johann schrieb etwa 500 Instrumentalwerke und 15 Operetten). Sie überließen wohl mehr, als man heute weiß, ihren Assistenten und Kopisten.
7. War das Café Dommayer Strauß’ wichtigster Aufführungsort?
Nein, das 1925 gegründete Café kannte Johann II naturgemäß gar nicht. Aber
im Casino Dommayer, dem heutigen Parkhotel Schönbrunn, hat er debütiert und oft gespielt. Er war aber auch anderweitig viel unterwegs, etwa im Volksgarten und im Prater – in den Ballnächten wechselte die Kapelle bis zu fünfmal die Lokalität –, und bezahlte seine Umtriebigkeit mit Depressionen und Erschöpfungszuständen.
Der wichtigste Aufführungsort war allerdings der 1870 eröffnete Musikverein. Schon im Oktober spielten die 47 Orchestermitglieder dort das erste Promenadenkonzert. Damit kam man sogar den Philharmonikern zuvor. Zwischen 1870 und Johann Strauß’ Todesjahr 1899 spielte die Kapelle jährlich mehr als 30 Konzerte – fast 1.000 in 30 Jahren.
8. Was hielten die Zeitgenossen von ihm?
Viel. Richard Wagner war schon über die entfesselte Musikalität eines Walzerkonzerts von Strauß senior in Begeisterung geraten. Er nannte den Vater den „Dämon des Wiener musikalischen Volksgeistes“, den Junior pries er als „musikalischsten Schädel des Jahrhunderts“. Er hatte allen Anlass zur Begeisterung: Während in Dresden nach ihm wegen revolutionärer Umtriebe gefahndet wurde, brachte ihn Strauß II 1854 in den Sophiensälen mit der „Tannhäuser“-Ouvertüre ins Wiener Konzertleben ein. Josef folgte im Volksgarten mit Fragmenten aus „Tristan und Isolde“!
Während eines Gastspiels in Pawlowsk dirigierte Strauß ein Werk des unbekannten Studenten Tschaikowski, der sich später als Bewunderer offenbarte. Er sah sich eines Sinnes mit Verdi („ich verehre ihn als einen meiner genialsten Kollegen“), Brahms, Bruckner, Berlioz, Mahler, Ravel, Schönberg, Berg, Webern, Strawinski und Boulez.
9. War das Neujahrskonzert eine Erfindung der Nazis? Und welche Dirigenten haben es geprägt?
Nein, beantwortet Hellsberg Frage Nummer eins. Zwar dirigierte Clemens Krauss am 31. Dezember 1939 im Musikverein das erste um den Jahreswechsel terminisierte Strauß-Konzert der Wiener Philharmoniker (die, übrigens anders als die Berliner Kollegen, nicht automatisch vom Kriegsdienst freigestellt waren). Begünstigter war das Kriegswinterhilfswerk. Aber eine von Goebbels ersonnene Kraft-durch-Freude-Veranstaltung war das Konzert nicht, es wurde bloß, wie vieles, vereinnahmt: Denn der Österreicher Krauss hatte schon 1929 bei den Salzburger Festspielen ein jährliches Strauß-Konzert durchgesetzt, das er bis 1933 dirigierte.
1941 war der Termin schon auf den Neujahrsmorgen verlegt, Krauss leitete das Konzert bis 1945 und dann von 1948 bis zu seinem Tod anno 1954. Die beiden Jahre dazwischen hatte er wegen seiner Tätigkeit im Nazi-Reich Berufsverbot und musste das Pult dem rassisch verfolgten Josef Krips überlassen.
Nach dem Tod von Clemens Krauss (13 Neujahrskonzerte insgesamt) anno 1954 fragte die Orchesterführung beim großen Kollegen Erich Kleiber an. Als der nicht wollte, schlug die Stunde des 45-jährigen Konzertmeisters Willi Boskovsky, der sich, die Geige in der Hand wie einst die Strauß-Familie, in die Unsterblichkeit dirigierte. Er leitete das Konzert 24 Jahre, im 25. verantwortete er noch die Ballettzuspielung, ehe er sich überraschend zurückzog.
Er wäre angeblich gern zurückgebeten worden, doch war für 1980 schon der designierte Staatsoperndirektor Lorin Maazel verpflichtet. Als er ans Pult trat, warfen Nazis Flugblätter von der Galerie, die sich gegen die jüdische Verunglimpfung der (jüdischen!) Strauß-Familie wandten.
Als Maazels Auftritte sachte redundant zu werden drohten, manövrierte ihn das Orchester mit einer strategischen Meisterleistung vom Pult: Herbert von Karajan dirigierte 1987, zwei Jahre vor seinem Tod, sein erstes und letztes Neujahrskonzert. Maazel kam dann für mehrere Jahre als eines der drei großen M zurück. Er verantwortete insgesamt elf Neujahrskonzerte. Riccardo Muti, zuletzt am 1. Jänner 2025 brillierend, brachte es auf sieben, Zubin Mehta auf fünf. Je drei wurden später Daniel Barenboim, Mariss Jansons und Franz Welser-Möst anvertraut. Als epochal werden aber Karajans Solitär und die jeweils zwei Auftritte von Carlos Kleiber und Nikolaus Harnoncourt verbucht.
10. Welche Werke von Johann Strauß sollte man kennen?
Instrumental: „An der schönen blauen Donau“, „Kaiserwalzer“, „Wiener Blut“, „Wein, Weib und Gesang“, „Geschichten aus dem Wienerwald“, „Krapfenwald’l-Polka“, „Frühlingsstimmenwalzer“, „Nordseebilder“, „Tritsch-Tratsch-Polka“, „Morgenblätter“, „Rosen aus dem Süden“, „Künstlerleben“.Operetten: „Die Fledermaus“, „Der Zigeunerbaron“, „Eine Nacht in Venedig“.
Das Programm
Nach 16 Jahren Intendanz im Theater an der Wien schuf Roland Geyer das riesige Programm für das Wiener Strauß-Jahr: 65 Produktionen ergründen an 250 Tagen das Phänomen. Was Sie in den ersten drei Monaten nicht versäumen sollten.
Musiktheater
„Das Spitzentuch der Königin“ Operette mit Michael Laurenz, Diana Haller u. a. Martynas Stakionis dirigiert das Wiener KammerOrchester. Regie: Christian Thausing. Theater an der Wien, ab 18. 1.
„Blitz und Donner“ von Jacqueline Kornmüller. Milena Michiko Flašar über Strauß’ russische Liebe Olga. Mit Musik von Strauß und Johanna Doderer. Odeon, ab 25. 1.
„Das Lied vom Rande der Welt oder Der ,Zigeunerbaron“. Neufassung der Operette von Roland Schimmelpfennig und Franui. MuseumsQuartier, ab 25. 3.
Konzert
Erinnerungskonzert mit Anna Prohaska, Miriam Kutrowatz, Anna Lucia Richter und Johannes Bamberger, Oksana Lyniv dirigiert das RSO. Musikverein, 19. 1.
Operetten-Pasticcio mit Christiane Karg und Piotr Beczala. Franz Welser-Möst dirigiert die Wiener Philharmoniker. Musikverein, 29. 3.
„Der Karneval in Rom“. Konzertante Aufführung der Operette. Mit Vera Lotte Boecker, Daniela Fally, Adrian Eröd u. a. Patrick Hahn dirigiert die Wiener Symphoniker. Theater an der Wien, 22. 2.
Schauspiel
„Opernball. Walzer, Wein und Wohlstandsbauch“ von Stefanie Sargnagel. Regie: Christina Tscharyiski. Mit Miriam Draxl u. a.
Rabenhof Theater, ab 25. 2.
Ausstellung
„Schatten des Zweifels. Im Kopf des Genies“. Die Künstlerin Deborah Sengl fordert in einem Escape-Room zur Auseinandersetzung mit Strauß’ Gedanken auf. MuseumsQuartier, bis 31. 12.
www.johannstrauss2025.at