Wer war Franz Kafka? Der in Prag geborene Schriftsteller prägt bis heute die Weltliteratur, TikTok verbucht zu ihm Millionen Einträge. Vor 100 Jahren erlag der einflussreichste Schriftsteller der Moderne der Tuberkulose. News befragte führende Kafka-Experten. Unter ihnen David Schalko, der am 26. und 27. März seine Kafka-Serie ins Fernsehen bringt
von
Steckbrief Franz Kafka
Name: Franz Kafka
Geboren am: 3. Juli 1883 in Prag, Österreich-Ungarn
Gestorben am: 3. Juni 1924 in Kierling, Österreich
Beruf: Schriftsteller
Familienstand: drei Mal verlobt, nie verheiratet
Kinder: keine
Am 29. August 1979 notiert Andy Warhol in seinem Tagebuch: "Kafka (photos for research $ 2.20)." Im Auftrag des Kunsthändlers Ronald Feldman soll der New Yorker Künstler eine Porträtserie von zehn jüdischen Persönlichkeiten fertigen. Wer abzubilden sei, hat man ihm nicht gesagt. Warhol zieht zunächst folgende in Betracht: die französische Schauspielerin Sarah Bernhardt, Woody Allen, Charlie Chaplin, den Künstler Modigliani, den Philosophen Martin Buber, die Kunstsammler Guggenheim, die Autorin Gertrud Stein und Franz Kafka. Die Porträtserie polarisiert, einige werfen Warhol gar die Ausbeutung von Juden vor. Heute zählt sie zu den zentralen Arbeiten des Pioniers der Pop-Art. Für den Kunstkritiker der "New York Times" ist allerdings klar, dass es Warhol nicht um die Personen und deren Werke ging. Für ihn zählte ausschließlich deren Berühmtheit. Mit anderen Worten war der zu seinen kurzen Lebzeiten nur sehr wenigen bekannte Prager Schriftsteller Franz Kafka 55 Jahre nach seinem Tod ein Weltstar wie Charlie Chaplin.
Franz Kafka hat Millionen Follower auf TikTok
Heute, zum 100. Todestag, hat sich seine Bekanntheit ins Unermessliche gesteigert. Millionen Einträge auf TikTok, Fangruppen auf Facebook in Indien, Bangladesch, Spanien und auf der ganzen Welt posten ihre Sympathien. Namhafte Institutionen huldigen dem Schöpfer der weltliterarischen Romane "Der Prozess", "Das Schloss" und "Amerika" oder "Der Verschollene", die jedoch alle bloß Fragment geblieben sind.
Das Literaturmuseum in Wien hat im Frühjahr einen Kafka-Schwerpunkt angesetzt. Ab 29. Mai wird "Franz Kafka -Die Gegenwart ist gespenstisch" eröffnet, so der Titel einer Ausstellung mit Illustrationen des Comiczeichners Nicolas Mahler. Das Deutsche Literaturarchiv Marbach zeigt in Kooperation mit der britischen Bodleian Library Oxford und der National Library of Israel die Ausstellung "Kafkas Echo" mit Originaldokumenten. Das Museum Villa Stuck in München zeigt Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts - mit Kafka-Bezug.
Wie ihn die Kafka-Forscher sehen
Der österreichische Filmemacher und Schriftsteller David Schalko widmet Kafka eine Fernsehserie, die am 26. und 27. März vom ORF und von der ARD ausgestrahlt wird. Für Schalko besteht kein Zweifel: Die Huldigungen wären dem Gefeierten zutiefst unangenehm gewesen.
Das klingt einleuchtend, zumal die meisten Kafka-Follower in sozialen Medien die Person in den Fokus rücken und nicht das literarische Werk. Wer von diesen Leuten tatsächlich die Romane und Erzählungen kennt, ist nicht zu eruieren. Was fasziniert die meisten an Franz Kafka? Seine literarischen Arbeiten? Sein kurzes Leben? Seine Selbststilisierung, sein eindringlicher Blick auf seinen Fotografien?
David Schalko: "Er beschreibt die Welt in unserem Inneren"
Von frühester Jugend an war Franz Kafka für mich (ähnlich wie Samuel Beckett) ein Synonym für Kompromisslosigkeit und Bescheidenheit. Hier stand nicht das Ego im Vordergrund. Beide schrieben aus anderen Gründen. Sie hielten ihre Literatur rein und frei. Sie unterwarfen sich keinem Literaturbetrieb. Und ähnlich wie für Beckett hätte für Kafka ein Nobelpreis eine Katastrophe bedeutet. Was bei den meisten Literaten eine eitle Geste der Bescheidenheitskoketterie darstellt, war hier echt.
Die Literatur von Franz Kafka hat mythologischen Charakter. Es ist seine Privatmythologie. Seine Literatur ist zeitlos. Weil sie die Welt in unserem Innersten beschreibt. Die Welt hinter dem Vorhang, auf dem menschliche Psychologie steht. Vielleicht wird er deshalb wie ein Jesus Christus der Literatur verehrt. Es wäre ihm jedenfalls sehr unangenehm gewesen. So wie die Huldigungen zu seinem 100-jährigen Todestag.
News bat Roland Reuß, Herausgeber der historisch-kritischen Gesamtausgabe, den Biografen Reiner Stach sowie die Kafka- Kenner Andreas Kilcher und Rüdiger Safranski um ihre Einschätzung.
Die Marke Kafka
Kafka sei heute eine Art Marke geworden, wozu auch Warhols Fotos beigetragen hätten, erklärt Reuß. "Die Faszination, die von diesen Fotos ausgeht, darf man nicht unterschätzen. Die regt auch die Fantasie im Netz an."
Safranski ergründet im Hörbuch "Kafka. Um sein Leben schreiben" Autor und Werk. In der E-Mail-Korrespondenz mit News charakterisiert er: "Kafka war der Autor, der den Absolutismus der Literatur gelebt hat. Für ihn war Literatur schlicht wichtiger als das übrige Leben, was es auch sei. Dieser andere Zustand, diese Ekstase, die beim Schreiben erlebt wird, das war für Kafka ein und alles", fährt Safranski fort und verweist auf eine Selbstbeschreibung des Autors in einem Brief an seine Verlobte Felice Bauer, in dem ein Satz die ganze Person erfasst: "Ich habe kein litterarisches Interesse, sondern bestehe aus Litteratur."
"Man kann Kafkas Texte zweifellos auch ohne seine Biografie verstehen, sie funktionieren für sich als Erzählung hervorragend", sagt Andreas Kilcher. Diese Selbstbeschreibung aber sei ein Indiz, dass es für Kafka selbst diese Trennung zwischen Person und künstlerischem Schaffen nicht gab. "Der Satz trifft auch insofern zu, als Kafka sich in vielen Aspekten in seine Texte hineingeschrieben hat. Er ist in seinen Protagonisten erkennbar und spielt in ihnen eigene Situationen, Fragen und Themen durch. Dieser Umstand legt nahe, Leben und Werk bei Kafka nicht zu trennen."
Eben darauf führt Safranski "die sagenhafte Wirkung des Jubilars" zurück. Kafka sei der am meisten kommentierte Autor des 20. Jahrhunderts, noch vor Joyce, Proust und Thomas Mann.
Sind die Figuren, die im Roman "Das Schloss" als Landvermesser K. oder im Roman "Der Prozess" als Josef K. auftreten, tatsächlich gleichzusetzen mit deren Schöpfer? Roland Reuß, Herausgeber der historisch-kritischen Ausgabe, schränkt ein: "Die Figuren namens K. sind eine Art Platzhalter, die man auf Kafka beziehen kann." Man müsse jedoch beachten, dass Kafka in der ersten Fassung des Romans zunächst einen Ich-Erzähler eingesetzt habe. "Erst ab Seite 80 erzählt er in der dritten Person. Das heißt, aus dem Ich wird ein Er. Das sollte einen nicht sofort den Text mit seinem Verfasser identifizieren lassen. Dennoch halte ich es immer für nützlich, wenn man die Umstände, unter denen jemand schreibt, kennt."
Täglicher Bürodienst
Wer also war der Mann, der als Verfasser surrealer Romane und Erzählungen noch Jahrzehnte nach seinem Tod die Weltliteratur prägt?
Franz Kafka wurde als Sohn des jüdischen Kaufmanns Hermann Kafka und seiner Frau Julie am 3. Juli 1883 in Prag geboren. Der Vater, ein bodenständiger Pragmatiker, war als Sohn eines Fleischhauers und Schächters in einem Dorf in Südböhmen aufgewachsen. Mit 14 zog er nach Prag, brachte es mit seiner Frau zu einem Geschäft für Galanteriewaren und einem bürgerlichen Haushalt. Franz begann ein Studium der Germanistik, wechselte jedoch bald auf die juridische Fakultät, da er die nationalen, deutschtümelnden Tendenzen auf der Germanistik nicht ertragen wollte.
Nach dem Studium nahm er einen Posten bei der Generali-Versicherung an. Die Dienstzeiten kamen seinem Schreiben jedoch nicht entgegen. Täglicher Bürodienst, von früh bis 18 Uhr oder länger, gab ihm wenig Zeit für seine literarische Tätigkeit.
Der Vater eines Schulkollegen verschaffte ihm einen Posten bei der Arbeiter-Unfall-Versicherung. Kafkas Alltag verlief nun etwas schaffensfreundlicher. Bürodienst von acht bis 14 Uhr, dann Mittagessen, Schlafen. Und ab 18 Uhr die Bestimmung, das Schreiben. Bis er jedoch mit der schöpferischen Arbeit tatsächlich beginnen konnte, vergingen mehrere Stunden: Kafka lebte auch als Erwachsener bei den Eltern und konnte sich erst konzentrieren, wenn alle längst zu Bett gegangen waren.
Schlafmangel, Burn-out
Biograf Reiner Stach rechnet dieses Doppelleben auf die Entstehungsgeschichte von Kafkas erster Erzählung, "Das Urteil", hoch, die er in einer einzigen Nacht, vom 22. auf den 23. September, schrieb. Gegenstand ist auch ein beklemmendes Vater-Sohn-Verhältnis: Kafka soll unter dem autoritären Regime seines Vater sein Leben lang gelitten haben. "Um sechs Uhr früh war er damit fertig, wie er im Tagebuch notiert hat", erzählt Stach. An diesem besonderen Morgen beschloss Kafka, nicht ins Büro zu gehen. Doch das sollte die Ausnahme bleiben. Auch wenn er die Nächte vermehrt seiner literarischen Arbeit widmete, versah er täglich seinen Dienst.
Stach: "Er hat gedacht, dass er das jede Nacht machen kann. Er hat immer mehr von sich verlangt, als ein Mensch leisten kann. Er legte sich die Latte so hoch, dass er sich immer wieder für einen Versager hielt." Dabei ging Kafka seinen Weg mit Konsequenz. Meist traf er im Büro mit einer Viertelstunde Verspätung ein, doch die wurde ihm nachgesehen, weil er vortreffliche Arbeit als Jurist leistete.
"Lang hält diesen Rhythmus aber kein Mensch aus. Er hat bis an den Rand der Erschöpfung gearbeitet. Kafka litt an einem Burn-out. Das ist auch der Grund, warum er seine Romane nicht fertig geschrieben hat. Er konnte nicht mehr", diagnostiziert Stach.
Heute würde man Kafka einen besessenen Workaholic nennen, der sein Singleleben zelebrierte. Niemand würde daran Anstoß nehmen, dass er es vorzog, allein zu leben, auf ein geregeltes Eheleben zu verzichten und sich seiner literarischen Tätigkeit zu verschreiben. Das Klischee vom weltfremden Melancholiker Kafka stimme allerdings nicht, darin sind sich die Forscher einig. "Durch diesen Starkult versucht man, eigene Probleme auf eine Person zu projizieren. Man nimmt an, da habe jemand ähnliche Neurosen wie man selbst und ist trotzdem imstande, etwas Großes zu leisten. Aber ich glaube, Kafka war im persönlichen Umgang relativ normal", sagt Roland Reuß. Andreas Kilcher zählt es zu den großen Irrtümern rund im Kafka, ihn als "ganz und gar introvertierten, einsamen, genialischen Schriftsteller zu sehen, der für sich in einsamen Nächten traumartige Texte niederschrieb. "In Tat und Wahrheit war Kafka ein sehr wacher, an seiner Umwelt sehr interessierter und teilhabender Zeitgenosse, dessen Texte auch mitten in der Welt stehen und nicht etwa fernab von ihr. Das ist eine der Thesen meines neuen Buches 'Kafkas Werkstatt. Der Schriftsteller bei der Arbeit'", wirbt Kilcher für Lesenswertes.
Wacher Geist
Und Stach ergänzt: Kafka sei ein stets wacher Geist gewesen, der sich auch für das aktuelle Weltgeschehen interessiert habe. "Seine Familie gehörte der deutschsprachigen Minderheit in Prag an, das hat ihn zusätzlich nach der eigenen Identität fragen lassen. Dieses 'Wer bin ich? Wo gehöre ich hin?' hat ihn sehr belastet."
Dass ihm sein Judentum Probleme verschafft habe, wie viele oft annehmen, stimme so nicht, korrigiert Stach. Kafka war fasziniert von Zionismus und wollte sogar nach Palästina fahren.
Im Privatleben habe er einen regelrechten Körperkult betrieben, um fit fürs Schreiben zu sein. Er turnte regelmäßig bei offenem Fenster, ging im Sommer schwimmen und war strikter Vegetarier. Das könne man aber auch als eine Rebellion gegen die Familie seines Vaters sehen, speziell gegen den Großvater, der Schächter war. Das zeuge von einem extremen Lebenswillen. Viele jedoch glaubten, Kafka sei eine relativ willensschwache Person gewesen. "Jemand, der immer nur jammert und vor jeder kleinen Schwierigkeit sofort einknickt. Wer das behauptet, soll einmal genau darauf schauen, was Kafka durchgemacht hat, wenn er geschrieben hat. Er war bereits Ende 20, als er richtig losgelegt hat. Das heißt, er hatte eigentlich nur zwölf, 13 Jahre Zeit, um dieses Werk zu schaffen, daneben hatte er aber noch einen Beruf. Und dann kam noch der Weltkrieg dazu, die Leute froren, es gab keine Lebensmittel. Auch das hat Kafka alles erlebt. Da kann man wirklich nicht von willensschwach sprechen. Er leistete Unglaubliches in kurzer Zeit. Das wurde mir erst klar, als ich die Biografie geschrieben habe", fast Stach zusammen.
Noch etwas ist zu würdigen: Die Verdienste des Schriftstellers Max Brod. Kafkas Gefährte seit Studienzeiten sollte nach dessen Tod alles Geschriebene vernichten und hielt sich nicht daran. "Als die Nazis in die Tschechoslowakei einmarschierten, war Brod vor die Wahl gestellt, eigene Schriften zu bewahren oder den Nachlass seines verstorbenen Freunds. Er hat uns einen unermesslichen Dienst erwiesen, dass er Kafkas Manuskripte bewahrt hat", sagt Reuß, der das Gespräch mit eine Anleitung zum Kafka-Lesen beendet.
Man möge seine Erzählungen nicht naturalistisch interpretieren, forderte Kafka selbst. "Das wäre zu einfach", sagt Reuß und nimmt die Erzählung "Die Verwandlung" als Beispiel. Für die meisten ist klar, dass sich Gregor Samsa im Schlaf in einen Käfer verwandle. "Das stimmt aber nicht, denn Kafka schreibt explizit Ungeziefer. Das heißt, Samsa hält sich selbst für Ungeziefer. Das kann jedem von uns auch passieren. Wenn wir nach einer durchgefeierten Nacht aufwachen, kann es doch vorkommen, dass wir uns wie ein Alien fühlen. Da sind wir wieder bei der Faszination Kafkas. Es gibt für seine Literatur keine Fundamentalinterpretation. Das Einzige, das hilft, ist lesen, lesen, lesen."
Lektüre zum Gedenkjahr - Ihr Weg durch das Kafka-Dickicht
Kafka. Um sein Leben schreiben. Literaturprofessor Rüdiger Safranski ergründet Werk und Leben in einem kurzweiligen Brevier. Hanser, € 27,50, auch als Hörbuch von Frank Arnold eingelesen erhältlich
Kafkas Zeichnungen. Der Literaturwissenschaftler Andreas Kilcher erforscht diesen seltenen Aspekt. "Der Großteil der Zeichnungen ist unabhängig und früher als Kafkas Texte entstanden, während seines Studiums zwischen 1901 und 1906. Es wäre ein Fehler, sie als Illustrationen seiner Texte zu verstehen. Dennoch zeichnete Kafka in Tagebüchern, Briefen und Notizheften sporadisch bis in seine letzten Jahre, und diese Zeichnungen sind in Texte eingebettet und nehmen Bezug darauf", kommentiert Kilcher den Gegenstand seiner Forschung. C.H. Beck, € 31,50
Kafkas Leben in drei Bänden Reiner Stach erforschte Kafkas Leben. Seine dreibändige Biografie ist ein Standardwerk und bei S. Fischer erhältlich. € 51,50
Kafka für Boshafte. Der Comiczeichner Nicolas Mahler zeigt die humoristische Seite des oft für einen bitteren, weltabgewandten Sonderling Gehaltenen. Suhrkamp, € 12,90
Auf der Schwelle zum Glück von Alois Prinz. Kafkas Leben, ansprechend leicht erzählt. Suhrkamp, € 15,95
Kafkas Kosmos. Mit seiner Leica Monochrom erforschte der Fotograf Bernhard Schlaiß Kafkas Geburtsstadt. Manesse, € 52,50
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 04/2024 erschienen.