Die Grazer Bürgermeisterin Elke Kahr verehrt Karl Marx, studierte in einem Institut der KPdSU - doch vor ihrer Politkarriere wählte sie Kreisky.
Steckbrief Elke Kahr
Geboren: 2. November 1961
Wohnort: Graz
Partei: KPÖ
Funktion: Bürgermeisterin
Familienstand: liiert mit dem KPÖ-Landesparteivorsitzenden Franz-Stephan Parteder
Kinder: 1 Sohn (*1990)
Elke Kahrs Arbeitsumfeld erinnert an ein Ostalgiemuseum, nicht an das Headquarter einer Partei: Auf dem Schreibtisch in der Volkshaus-Bibliothek, dem Sitz der Grazer KPÖ, prangen neben Lenins Werken eine Che-Guevara-Figur und eine bronzefarbene Karl-Marx-Büste aus Kunststoff.
Den alten Che hält die künftige Grazer Bürgermeisterin zwar für "überbewertet", Marx hingegen gehört ihr ganzes Herz: "Ja, ich bin Marxistin", sagt sie und ballt proletarisch die Faust. "Denn der Marxismus hat mich zu verstehen gelehrt, warum es in unserer Welt überhaupt ein Oben und Unten, ein Arm und Reich gibt." Was sie der Mann mit dem wallenden Bart noch lehrte: Politik als stetigen "Klassenkampf" zu begreifen. "Ich will", sagt Kahr, "dass Handwerker und Arbeiter wieder stolz auf das sein können, was sie machen. Und nicht, dass ein kleiner Abteilungsleiter beim Spar zur Erhaltung seines Selbstwerts das Etikett 'Manager' vor sich hertragen muss."
Elke Kahr und die rote Zeitkapsel
Die Frau aus der roten Zeitkapsel richtete ihre Botschaft aber nicht unverbindlich an die Proletarier aller Länder, sondern an die Protestwähler von Graz: 28,8 Prozent schenkten ihr bei den Gemeinderatswahlen 2021 ihre Stimme und machten Dunkelrot zu stärksten Kraft im Rathaus. Aber warum dieser Drift nach links außen? Nicht etwa aus Sentimentalität für Hammer und Sichel, sondern weil sich Kahr in den vergangenen Jahren monothematisch, aber nachhaltig als Interessenvertretung der Mieterinnen und Mieter etablierte. Leerstandserhebung und Leerstandsabgabe für den Wohnungsmarkt, Mietobergrenzen, leistbarer Wohnbau statt prestigeträchtiger Spekulationsobjekte, Forderungen wie diese funktionierten im Wahlkampf. Zumal sich Kandidatin Kahr selbst trotz fetter Politbezüge seit Jahr und Tag in Bescheidenheit übt.
Sie spendet gut zwei Drittel ihres monatlichen Nettogehalts als Stadträtin, nämlich 4.000 Euro, für wohltätige Zwecke. "Die restlichen 1.950 Euro reichen mir absolut zum Leben, zumal der Franz, mein Lebenspartner, ja eine Pension von knapp 2.000 Euro bezieht", sagt sie. Als Bürgermeisterin bekommt sie 14.303 Euro brutto pro Monat, an ihrem Realbezug, sagt sie, solle das aber nichts ändern.
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Kahr als selbst ernannte Antipolitikerin
Wem das nicht reicht, der kann sich der Spenderin ganz direkt mitteilen: Kahrs Nummer steht im öffentlichen Telefonverzeichnis, und ihr Uralt-Nokia hebt sie auch immer selbst ab. "Sogar ungehaltene Anrufer beruhigen sich rasch, wenn sie merken, dass ich tatsächlich selbst dran bin." Das sei man von der "enthobenen Kaste der Politiker" einfach nicht mehr gewohnt. Im Gegenteil: Bereits unter Kreisky, den sie als gesellschaftspolitischen Reformator durchaus anerkennt und dem sie als Erstwählerin ihre Stimme gab, sei es so weit gekommen, dass es gewerkschaftlichen Arbeitnehmervertretern nur noch um Posten, Einfluss und Macht gegangen sei.
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Und sie selbst? Ob sie denn eine Art politisch agierende Antipolitikerin sei? "So könnte man das sagen", sagt Kahr, Lebenspartnerin des ehemaligen steirischen KPÖ-Chefs Franz Stephan Parteder, Mutter eines erwachsenen Sohnes, Großmutter eines Enkerls. Von "denen da oben", wolle sie sich ganz bewusst unterscheiden, sagt sie.
Früher Start der politischen Karriere
Denn deswegen sei sie als kleine Sekretärin mit Anfang 20 überhaupt in die Politik gegangen. Erst als Angestellte der KPÖ-Bezirksleitung Graz, seit 1993 als Gemeinderätin, seit 2005 als Stadträtin, erst für den Wohnbau, zuletzt für Verkehr. Und offensichtlich gelingt ihr die Anti-Establishment-Performance ähnlich gut, wie sie am anderen Ende des Spektrums vor ein paar Jahrzehnten Jörg Haider gelang. Und wenn sie als langjähriges Mitglied einer Stadtregierung gegen die "herrschende Klasse" polemisierte, so fiel es den Mitbewerbern sämtlicher Couleurs bis zu ihrer Wahl als Bürgermeisterin stets leicht, ihre Agenda im Namen der Arbeiterinnen und Arbeiter als Linkspopulismus abzutun. "Manche behaupten sogar, dass meine Gehaltsspenden nichts anderes als Stimmenkauf sind."
Denn, so ehrlich muss man sich trotz Marx-Büste sein, der Marxismus dient Kahr eher als Erklärungsmodell für herrschende Verhältnisse denn als Weg zur klassenlosen Gesellschaft, die er ja als eigentliches Ziel vorsieht. Bei Beispielen für das Funktionieren einer Welt ohne soziale Unterschiede und Privateigentum tut sich auch eine "gemäßigte Revolutionärin" wie Kahr schwer. Was beachtlich ist, denn immerhin studierte sie im Moskau des Jahres 1989 am Institut für Bildungswissenschaften der KPdSU für acht Monate Leninismus und Marxismus. "Den Moskauer Boden habe ich bei der Landung nicht geküsst, ich bin ja nicht der Gusenbauer", versichert sie. Aber die Zeit, in der sie sich der reinen Lehre widmete, habe sie trotz Glasnost in Hochblüte einfach genossen.
Aber wo auf der Welt fand sie denn nun tatsächlich statt, die Weltrevolution als Wegbereiterin für ein funktionierendes Staatswesen? "In Kuba", sagt Kahr ohne Anflug von Ironie, "auch wenn ich selbst noch nie drüben war." Wäre sie drüben gewesen, sie hätte all die Schuhputzer gesehen, die den devisenstarken Damen und Herren Imperialisten gebückt die Treter polieren. "Mag schon sein, aber vor Castro war Kuba nicht mehr als der Hinterhof für die amerikanische Mafia, so gesehen hat sich sehr wohl was verbessert", sagt Kahr.
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Elke Kahrs Kindheit
Der reale Kommunismus hatte im Grazer Wahlkampf wenig Platz - aber der Klassenfeind, der schien dennoch ziemlich nahe. "Ich schätze ja Nagls Humor", sagt Kahr über den ehemaligen VP-Langzeitbürgermeister Siegfried Nagl, "aber sonst halte ich ihn mit all seinen groß angekündigten Prestigeprojekten wie etwa einer Metro für Graz nur sehr schwer aus." Kahr wuchs im Gegensatz zum großbürgerlichen Nagl in bescheidensten Verhältnissen am Rande der Triestersiedlung, einem übel beleumundeten Stadtteil, auf. Vorraum, Küche, ein kleines Zimmer, statt fließenden Wassers ein Brunnen im Hof. So habe sie gelebt, bis sie 18 war. Ihre Eltern, eigentlich ihre Zieheltern, die sie als Dreijährige adoptiert hatten, hätten ihr aber trotz der im Grunde tristen Verhältnisse eine "sehr glückliche Kindheit" beschert. "Daheim wurde ich geliebt, doch draußen ließen mich die sogenannten besseren Leute stets spüren, wo ich herkomme und deswegen auch hingehöre", sagt Kahr.
Doch die Teenagerin Kahr war wissbegierig, las, was ihr zwischen die Finger kam, von "Onkel Toms Hütte" über "Tom Sawyer" bis zur "Roten Zora". Unterdrückte und ihr Kampf, das habe sie von klein auf interessiert. Später, als sie politisch sozialisiert wurde, kam das "Kommunistische Manifest" dazu. Und "Das Kapital". Tja, und mit einem Mal war Kahr Kommunistin. Und blieb es. Und auch Marx blieb. Auch wenn die Büste bloß aus Kunststoff ist.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 39/2021 erschienen.