Der österreichische Schriftsteller Clemens J. Setz wollte seine Reime nur noch als Tweets posten. Jetzt sind diese bei Suhrkamp erschienen. Ein Gespräch mit dem Büchnerpreisträger über Elon Musk, das Versagen von ChatGPT und Mathematik zur Entspannung
von
Dass der kleine weiße Vogel einmal ins himmelblaue Nichts -entschwinden könne, war für Abertausende von Twitter-Usern unvorstellbar. Auch für den österreichischen Schriftsteller und Büchnerpreisträger des Jahres 2021 Clemens J. Setz. Von 2015 bis 2022 nützte Setz diese Plattform, um einen Tic, der ihn seit seiner Kindheit nicht loslässt, auszuleben. „Reimzwang“ nennt er diesen. Wundersame Vierzeiler, Limericks und andere Gedichte veröffentlichte er in fast täglichen Postings. Damals sei er sich sicher gewesen, er werde keine Gedichte mehr in Büchern veröffentlichen, nur noch in Form von Postings auf Twitter.
Community der Poeten
Hunderttausende Follower gaben ihm recht, manche erwiderten seine poetischen Tweets, setzten diese gar fort oder schickten ihm eigene Erzeugnisse. „Da entstand ein eigenes, kleines soziales Netzwerk, eine Online-Community. Man hat einander täglich gelesen. Das hat sich so wunderbar hochgeschaukelt“, blickt Setz im Gespräch mit News zurück. Ein eigener Sound sei da entstanden, Ohrwürmer, Hits, die mit Songs von -Leonard Cohen oder Joni Mitchell zu vergleichen seien. Das klang dann so:
Heute Abend roter Mond
Mars noch immer unbewohntaber dafür ziemlich hell
Spür das All im eignen Fell
Der letzten Zeile hat er den Titel für sein jüngstes Buch entnommen. „Das All im eignen Fell“, ein Band über Twitterpoesie, ist alles, was von den spontanen poetischen Schöpfungen geblieben ist. Denn 2022 kam Elon Musk, baute die Plattform um und proklamierte Meinungsfreiheit. „Da entstand so ein Massenphänomen: Oh my God, jetzt kommt Musk und zerstört alles“, beschreibt Setz die Massenflucht Hunderttausender vom ehemaligen Twitter.
Musk und die Zerstörung der Poesie
Ihn störte zunächst vor allem die Aufhebung der Zeichenbeschränkung. „Diese Eingrenzung auf zunächst 140 und -später auf 280 Zeichen war beflügelnd.“ Dass nach der Übernahme gar Romane veröffentlicht werden konnten, sah er als Katastrophe.
„Musk hat diese Plattform nach seinen Vorstellungen umgebaut. Rechte und Konservative konnten ihre Meinung frei äußern. Wenn das sein Lebensprojekt ist, soll er das machen. Aber ich glaube nicht, dass das der eigentliche Todesstoß war. Das war Covid“, räumt Setz ein.
Denn bereits 2021 hatte er eine Veränderung beobachtet. Im zweiten Jahr der Pandemie hätten sich monothematische Äußerungen Bahn gebrochen. Immer mehr ersetzten ihre leicht schwebenden, pointierten Tweets durch verängstigte oder auch zornige Postings für oder wider das Impfen. „Zwei so vollkommen beherrschende Momente -überlebt kein soziales Phänomen“, stellt Setz fest. Nach Massenflucht kam die Auslöschung. Nicht nur ungenützte -Accounts wurden gelöscht, auch Musk--kritische. Dessen Anhänger wurden nicht müde, solche zu entdecken. „Bedauerlicherweise waren diese Musk-Fans auch dafür verantwortlich, eines der größten Werke auf Twitter von -einem Dichter namens Luni zu löschen. So eine Kulturzerstörung nimmt man nicht so leicht hin“, sagt Setz. Teile von Lunis Werk habe er selbst in seinem 2022 -erschienenen Roman „Monde vor der Landung“ verwendet. Jetzt sei dieses weg, komplett ausgelöscht.
Setz und die Rettung der Poesie
Dass er seine Gedichte bewahren konnte, sei fast Zufall gewesen. Den verdanke er Andrea Stift-Laube, der Herausgeberin der Literaturzeitschrift „Lichtungen“, die ihn um Essays über besondere Formen der Poesie bat. Eine solche war für Setz die „Twitterpoesie“.
Als Twitter dann zu X geworden war, hatte er eines gelernt: „Was man liebt, das soll man speichern. Denn man kann sich nicht darauf verlassen, dass alles im Netz bleibt. Das sehe ich als Lebenslektion“, sagt Setz.
Mit einem gewissen Stolz schildert er, dass er nicht nur seine eigenen Texte vor der totalen Auslöschung bewahren konnte. In einem zweiten Kapitel habe er in seinem Band über Twitterpoesie einige Texte aus seiner ehemaligen Community gesammelt und damit ein Kapitel jüngste Literaturgeschichte begonnen.
Mathematik als Twitter-Ersatz
Inzwischen berät Setz auch die Nationalbibliothek, die damit beginnt, literarische Onlinewerke zu archivieren.
Ob sich seine dichterische Tätigkeit auf Twitter auch auf seine Art zu schreiben ausgewirkt habe? „Dieser Sound ist einfach in einem drin. Wenn der so plötzlich verstummt, ohne dass man diesen genießen konnte, bis er einem langweilig wird, lässt einen das sicher nicht so leicht los“, sagt Setz. Was ist mit einem Ersatz für Twitter? Videos über die Lösung komplexer mathematischer Beispiele seien jetzt seine Entspannung. Oder der Austausch darüber mit der KI Wolfram Alpha. „Die muss man beherrschen. Mit ihr kann man wirklich hochkomplexe mathematische Fragen auf absolutem Weltniveau diskutieren. Die ist brillant“, schwärmt der studierte Mathematiker Setz. ChatGPT findet er höchstens amüsant. Wenn er diese künstliche Intelligenz zu seinem Werk befragt, kapituliert diese vor seinem komplexen, literarischen Texten. „Die erfindet so viel Unsinn“, berichtet der Autor aus eigener Erfahrung.
„Ich glaube, keine KI wird einen Autor ersetzen können, schon deshalb nicht, weil wir auch dessen menschliche Geschichte beim Lesen mitdenken wollen“, resümiert Setz.
Die meldet sich in diesem Augenblick aus dem Hintergrund zu Wort. Das helle Kinderlachen seiner fast dreijährigen Tochter fordert die väterliche Aufmerksamkeit. Doch zuvor noch ein Wort über die bevorstehende Wahl in Graz, seiner Heimatstadt. Die werde er aus Wien -beobachten, stellt Setz klar. Denn vor einigen Jahren ist er mit seiner Frau und seiner Tochter nach Wien gezogen. Beunruhigt ihn der Stimmengewinn der Rechten? „Ich bin der Letzte, der sich eine rechte Revolution wünscht, aber vielleicht muss man diese stark ausschwingenden Pendelbewegungen als Faktum sehen, dass es möglich ist, durch seine Stimme etwas zu verändern. Ebenso kann das Pendel wieder zurückschwingen“, sagt Setz und wendet sich dem Wesentlichen im Leben zu, seiner Tochter.
Clemens J. Setz
wurde am 15. November 1982 in Graz geboren, wo er Mathematik und Germanistik studierte. Seine Romane und Erzählungen verschafften ihm 2021 den Büchnerpreis, 2023 den Österreichischen Buchpreis. Als Dramatiker war Setz 2017 und 2019 zu den Mülheimer Theater-tagen eingeladen. Setz lebt mit seiner Frau und seiner Tochter in Wien.
Das Buch
Seine Twitter-Gedichte und die besten aus seiner Community sammelte Clemens J. Setz in dem Band „Das All im eignen Fell“
Suhrkamp, € 23,70