Die österreichische Regisseurin Barbara Albert fertigte aus Julia Francks Meisterroman "Die Mittagsfrau" eine verstörende cineastische Fassung
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Steckbrief Barbara Albert
Name: Barbara Albert
Geboren am: 22. September 1970 in Wien
Wohnt in: Berlin
Ausbildung: Studium der Filmregie an der Filmakademie Wien
Beruf: Filmregisseurin, Drehbuchautorin, Produzentin
Familienstand: liiert mit dem deutschen Regisseur und Drehbuchautor Titus Selge
Kinder: ein Sohn
Ein Koffer ist alles, was dem kleinen Peter von seiner Mutter geblieben ist. "Du wartest hier", mehr hatte sie ihm nicht zu sagen. Dann verschwand sie aus dem Leben ihres Kindes. Der Bub aber bleibt folgsam auf der Bank des Bahnsteigs sitzen und wartet, wie es ihm die Mutter aufgetragen hat.
Die Mutter, die ihr Kind verlässt, ist Helene, zentrale Gestalt in Barbara Alberts Film "Die Mittagsfrau" (seit 25.10. im Kino). Als Vorlage diente Albert Julia Francks gleichnamiger Roman, der die Autorin 2007 zum Deutschen Buchpreis trug. Das war für die österreichische Regisseurin allerdings kein Kriterium. Sie entdeckte den Roman erst 2014, als er längst aus dem Fokus der Aufmerksamkeit verschwunden war, und erkannte gleich das Potenzial für eine cineastische Umsetzung. Verstörend war für die Mutter eines Sohnes im Teenageralter der Ausgangspunkt.
Eine Mutter, die ihr Kind verlässt? Für sie als Mutter schwer vorstellbar. "Aber natürlich gibt es Mütter, die das getan haben und auch heute tun - so wie Väter, bei denen wir das viel weniger hinterfragen", kommentiert sie die Schmerzensszene.
Und tatsächlich hatte sich die so zugetragen: Wie der kleine Peter war der Vater der Autorin von seiner Mutter 1945 auf einem Bahnhof zurückgelassen worden. Darüber hinweggekommen war er nie.
Barbara Albert kommt aus einer Täterfamilie
Francks Art, die Biografie ihres Vaters auf die künstlerische Arbeit anzuwenden, habe Barbara Albert an ihr eigenes Schaffen erinnert, konkret den Film "Die Lebenden" aus dem Jahr 2012. Inspiration dafür war ihr der eigene Großvater, ein überzeugter Nationalsozialist, der bei der SS und Wachmann im Konzentrationslager Auschwitz war. "Ich komme aus einer Täterfamilie, aber darüber wurde in meiner Familie nicht gesprochen", blickt die heute 53-jährige Wienerin zurück.
Anders als ihre Eltern verschwieg sie ihrem Sohn nicht, wer sein Urgroßvater war. "Er war noch in der Volksschule. Er wurde richtig wütend, als er das erfahren hat. Aber ich bin überzeugt, dass es richtig war, mit ihm darüber zu sprechen. Vielleicht würde er heute woanders stehen, wenn ich nicht mit ihm darüber gesprochen hätte. Wir müssen unsere Vergangenheit, unsere Familientraumata genau betrachten. Denn die eigene Identität setzt sich aus dem zusammen, was in der Familie passiert ist. Unsere Gesellschaft", fährt sie, auf die Gegenwart verweisend, fort, "könnte sich schneller in eine demokratische und humane entwickeln, wenn wir auch über Schmerz und Traumata sprechen. Wir dürfen die Schuld der Vergangenheit nicht tabuisieren."
Eines der zentralen Elemente des Romans ist für sie die titelgebende Gestalt, die Mittagsfrau aus der Welt der slawischen Sagen. Die erscheint den Landarbeitern in der Mittagshitze, wenn sie ihre Arbeit auf dem Feld um zwölf Uhr nicht ruhen lassen. Ihr Anblick kann Menschen in den Wahn treiben oder aus dem Leben reißen. Nur wer ihr eine Stunde lang seine Lebensgeschichte erzählt, kann sich retten. Das Motiv überträgt Barbara Albert auf das Ende ihres Films. Da lässt sie - anders als im Roman - Mutter und Sohn aufeinandertreffen. Peter ist 17 und fordert seine Mutter auf, ihm ihre wahre Geschichte zu erzählen.
Julia Franck konnte indessen nie herausfinden, warum ihre Großmutter ihr Kind zurückgelassen hatte. Also hat sie die Geschichte dazu erfunden und erzählt die düstersten Kapitel der deutschen Geschichte des vorigen Jahrhunderts gleich mit.
Helene - im Film exzellent dargestellt von Mala Emde - wurde 1907 in Sachsen, in der späteren DDR, als Tochter einer Jüdin und eines Deutschen geboren. Sie wächst an der Grenze zu Polen auf, ihre Brüder kommen im Ersten Weltkrieg um, auch der Vater erliegt seinen Verletzungen, und die Mutter verliert darüber den Verstand. Helene ist davon besessen, Ärztin zu werden, und zieht mit ihrer Schwester nach Berlin. Doch dann kommen die Nazis an die Macht. Helene verdingt sich als Krankenschwester. Max, ein Patient und überzeugter Anhänger des Reichs, verschafft ihr einen Ariernachweis samt neuem Namen. Als Gegenleistung muss sie ihn heiraten. Als sie dem Mann ihre Gunst beharrlich verweigert, verschafft er sich sein scheinbares Recht mit Gewalt. Die Ehe scheitert. Helene bleibt mit dem Sohn Peter zurück.
"Indem sie ihren Sohn zurücklässt, streift diese Frau ihre Vergangenheit ab. Das kling brutal, und das ist es auch. Ich will das gar nicht verharmlosen", stellt Barbara Albert klar. Die Geschichte habe ihr gezeigt, wie gewisse Systeme Menschen hart werden lassen. Aber im Grunde sei Helenes Geschichte auch die einer weiblichen Selbstermächtigung.
Barbara Albert: Keine Gleichstellung
"Ich frage mich immer wieder, wie es möglich sein konnte, dass Frauen, die in den Zwanzigerjahren sehr frei agieren konnten, sich so zurückdrängen ließen", kommentiert sie die Akzeptanz männlicher Dominanz. Auch in den Fünfzigerjahren, als sie Wesentliches zum Wiederaufbau beitrugen, und später in den Sechziger- bis in die Siebzigerjahre war Gleichstellung kein Thema.
Und heute? Ist diese endlich im Filmbusiness erreicht? "Noch nicht", stellt Barbara Albert klar. Deshalb gründete die mehrfach mit Preisen Ausgezeichnete 2015 den Verein FC Gloria zur Förderung von Frauen im österreichischen Filmwesen. 2022 trat sie mit anderen 40 Filmschaffenden aus dem österreichischen Filmverband aus und gründete die Vereinigung "#die_regisseur*innen".
"Von Gleichstellung aber sind wir noch weit entfernt, aber es stimmt mich zuversichtlich, dass viele, die in diesem Land diesen Beruf ausüben, sich gemeinsam dafür einsetzen, dass Frauen Filme machen. Das ist so wichtig, denn es gibt noch so viel zu tun."
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 42/2023 erschienen.