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Arno Geiger: Der alte Kaiser im Rausch des Todes

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Arno Geiger

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Eine Neuerscheinung des österreichischen Meistererzählers Arno Geiger wird stets als Ereignis verbucht. Nachdem er in die intimsten Leidensgeschichten seines Vaters und die eigenen pittoresken Vorlieben Einblick gewährt hat, überrascht er nun mit einem furiosen historischen Roman über Kaiser Karl V.

So wurde in der Literaturgeschichte womöglich noch kein Kaiser zur ewigen Ruhe gebracht. Nicht einmal ein ganz kleiner, namenloser. Nicht einmal ein König ohne Land. Und dann erst der mächtigste aller Zeiten, der römisch-deutsche Kaiser Karl V. (1500-1558), in dessen Reich dank systematischer Ausbeutung der Kolonien die Sonne nie unterging!

In Begleitung des elfjährigen Knaben Geronimo, der nicht weiß, dass er der uneheliche Sohn des Kaisers ist, hat sich der Sterbende vor den ihn bedrängenden Ärzten und Gaffern auf die letzte Flucht begeben: vom Altersansitz beim Kloster Yuste zur Hafenstadt Laredo, 550 Kilometer durch die Extremadura, Kastilien-León und Kantabrien.

Dort führt er sein letztes Gespräch:

"Wer ich bin?!"

Die Brandung toste jetzt nochmals lauter, und Geronimo hob erneut die Arme und schüttelte den Kopf.

Karl war die Antwort angenehm. Er spürte, dass er die letzte Grenze in seinem Innern überschritt, er spürte, wie etwas von ihm abfiel. Er war so durchdrungen von diesem Gefühl, dass ihn schwindelte, er wurde leichter und leichter, es gab nichts anderes mehr als diesen Moment. Geronimo jauchzte im Auf und Ab des Wassers, eine große Welle trug ihn zum Strand. Karl lehnte sich zurück, und die nächste Welle brach über seinem Kopf, und das Wasser fuhr unter ihm durch, hob ihn hoch, es drehte ihn, und das war’s.

Im Kopf des sterbenden Kaisers

So erlösend stellen sich die Ereignisse zumindest im Kopf des Kaisers dar. Denn ebendorthin gewährt der österreichische Schriftsteller Arno Geiger, 56, dem Leser Zutritt: Der demnächst erscheinende Roman "Reise nach Laredo" ist eine kühne Abenteuerfahrt durch die Kopfwelten eines Sterbenden, der in seinen letzten Sekunden, Minuten, vielleicht Stunden das Uneingelöste seines Lebens zu begradigen versucht.

Der Habsburger, der eine vergleichbare Reise gegen Ende seines Lebens tatsächlich absolvierte, hatte sich bei seinem Tod seit zwei Jahren von der Macht zurückgezogen und das Reich zwischen seinem besonnenen Bruder Ferdinand I. und seinem abartigen Sohn Philipp II. aufgeteilt. Die Personen des Romans sind untadelig recherchiert, der Leibarzt Henri Mathys, der Sekretär Willem van Male und, vermutlich qualifizierter als beide zusammen, der geniale Uhrmacher Juanelo Turriano. Nicht zu reden vom Kind Geronimo, das, über seine Herkunft aufgeklärt, später als Juan de Austria die habsburgischen Niederlande und die spanische Flotte befehligte.

Vom Kleinen ins Größte

Gründlicher als mit diesem sublimen Stück historischer Prosa hätte Geiger nicht überraschen können. Tiefer, als manchem aus seiner Umgebung lieb war, hatte er ja in seine persönlichsten Umstände blicken lassen. Mithilfe des Romans "Der alte König in seinem Exil" verwandelte er die Alzheimer-Tragödie seines Vaters in eine Liebesgeschichte von schwereloser Zärtlichkeit. Vor einem Jahr weihte er die Welt mit dem Roman "Das glückliche Geheimnis" in seine nächtlichen Beutezüge durch Altpapiercontainer ein.

„Mein freiestes Buch“

Und jetzt? Nennt er "Die Reise nach Laredo" sein freiestes Buch. In den Kopfwelten des Kaisers sei die Zeit aufgehoben. "Das bekommt so etwas Schwereloses, in dem ich als Künstler agieren kann. Da zeigt sich, wie stark Literatur sein kann, wenn sie sich ihre Freiheiten nimmt, die andere nicht haben."

Aber gerät die nicht gerade heute durch Sittenwächter und Zensoren namens der politischen Korrektheit in Bedrängnis? "Nein, das denke ich nicht." Die schmale Gestalt mit dem blassen, oft durch eine Mütze geschützten Kahlkopf richtet sich auf. "Was Sie beschreiben, ist eher ein Verflachen der literarischen Mittel. Es ist auch eine Frage des Mutes, sich ihn einfach zu nehmen und zu sagen: Wie Karl alle Kronen abwirft, nehme auch ich mir die Freiheit, ihn und mich zu befreien. Also schicke ich ihn und mich auf eine Reise ins Offene. Ein Buch über das Jahr 1944", greift er zum naheliegenden Beispiel, "ist im Grunde ein Minenfeld. Du darfst keinen falschen Tritt machen, wenn du über das Dritte Reich schreibst. Oder ein Buch über den eigenen Vater. Ich habe Geschwister, ich habe eine Mutter, der Vater lebt auch noch, der hat noch sechs Geschwister, die leben, und das Dorf und die Gesellschaft. Ganz heikel ist das. Aber bei dem Buch jetzt habe ich mir gedacht, das sind Figuren eigenen Rechts und niemand redet mir drein."

Reise nach Laredo

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Zarentum und Wahnsinn sind dasselbe. Bist du beim Machtantritt nicht wahnsinnig, gehst du unter

"Es packt mich am Handgelenk"

Wie also kam er auf den vor einem halben Jahrtausend verstorbenen Habsburger? "Mir begegnet so viel, wenn der Tag lang ist, und manches packt dich am Handgelenk. Dann weiß ich, dass das mehr mit mir als mit dem Gegenstand zu tun hat." Diesfalls war es ein Feuilleton des großen protestantischen Publizisten Matthias Claudius, "ein Stück Feindpropaganda gegen den Katholiken Karl". Der, so unterstellte Claudius haltlos, habe nach seinem Rücktritt seine eigene Totenfeier inszeniert und sich im Sarg begutachten lassen.

Ein nachdrückliches, aber gefälschtes Bild. "Wir kennen das aus Wahlkämpfen, man unterstellt dem Gegner die übelsten Schandtaten, um ihn zu diskreditieren. Dem wollte ich nachgehen", kommt Geiger auf das Wesentliche. "Denn Karl V. ist zurückgetreten, als mächtigster Mann seiner Zeit."

Aber warum? Genau das habe er ergründen wollen, sagt Geiger, abgesehen von der Tatsache, dass der Kaiser bei seinem Rücktritt genauso alt war wie heute sein Chronist. "Ich glaube, es ging ihm um sich selber, um eine Art von Selbstfindung als Mensch. Nur so ist es erklärbar, dass er, Hölderlin vorwegnehmend, sagt: 'Ich bin nichts mehr und redet mich beim Vornamen an.'" Nicht zu reden vom zuletzt elenden Gesundheitszustand des Emeritus, der zum Zeitpunkt seines Rücktritts das durchschnittliche Lebensalter seiner Zeit schon fast erreicht hatte. So wie ein halbes Jahrtausend später Papst Benedikt das seine. Also kommt der von Gichtschüben Verkrüppelte realiter nicht unter einer erlösenden Welle am Strand von Laredo zu Tode. Sondern nackt in einem Zuber mit fast kochendem Wasser, dessen Einsatz der Arzt verordnet hatte, und unter den Blicken des gaffenden Hofstaats, es gab ja sonst wenig Zerstreuungen.

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„Macht macht zynisch“

Immer tiefer dringt Geiger während des Gesprächs in die Seelenwelten des Kaisers ein: "Die allermeisten Menschen klammern sich an geringere Dinge als Kaiserkronen. Karl war Schüler von Erasmus von Rotterdam, ein völlig innerlicher Mensch, der aber immer draußen ist, immer auf den Schlachtfeldern. Mit 16 spanischer König. Mit 20 deutscher Kaiser. Kann sich nie um sich selber kümmern, ist immer Repräsentant von etwas, das so unfasslich groß und komplex ist, dass er die Widersprüche im Reich nicht auflösen kann. Alles, was er tut, ist für etwas gut und für etwas anderes schlecht. Und er hatte, glaube ich, Angst davor, sich weiter zu korrumpieren. Denn an so einer Schaltstelle der Macht über fast 40 Jahre wird man hartherzig und zynisch."

Geigers Karl aber nicht, so wie er auf seiner letzten Kopfreise das Übermaß des Lebensmisslingens zu minieren versucht. Der Aufbruch mit Geronimo gleicht dem in die Freiheit. Geronimo hieß drei Jahrhunderte später ein großer Kriegshäuptling der Apachen, Laredo in Texas ist ein stereotyper Western-Ort, und tatsächlich scheint Karl mit Schießkunststücken die Abenteuer einer versäumten Jugend nachzuholen.

Und welch aufmerksame Pointe, dass der Kaiser, der das Pferd nicht mehr ersteigen kann, als umgekehrter Don Quixote den Maulesel reitet und das Kind den Klepper! Von zentraler Bedeutung ist eine verbürgte Episode aus dem Leben des Monarchen, der sich von seinem Gefolgsmann Tizian porträtieren ließ. Dem Siebzigjährigen entfiel der Pinsel, und da bückte sich der Kaiser zum Entsetzen des Hofstaats zur Erde: Es gebe ja viele Kaiser, aber nur einen Tizian. "Ein ganz wichtiger Moment in der Geschichte der Emanzipation der Kunst", fügt Geiger hinzu.

Die Opfer des Vorurteils

Wichtigste Reisebegleiter neben Geronimo sind zwei misshandelte Cagots, Angehörige einer spanischen Minderheit, die – eine zeitlose Lehre – von der Mehrheit zu stinkenden Untermenschen erklärt wurden. "Das ist so mit Vorurteilen", sagt Geiger. "Man weiß irgendwann nur noch, dass die an den Rand gehören, aber warum, das weiß niemand. Karl wollte ihre Benachteiligung beenden, das Ergebnis waren Pogrome gegen sie. Da ist er gescheitert wie bei der indigenen Bevölkerung in Übersee, die er zu Bürgern Spaniens gemacht hat."

Karls Mutter, Johanna die Wahnsinnige, hat ihm die ständige Angst vor Geisteskrankheit mit auf den Weg gegeben. Ohne die nachgefragten Namen Putin und Trump bestätigen zu wollen, kommt Geiger aufs Grundsätzliche: "Ich habe einmal gelesen, Zarentum und Wahnsinn seien ein und dasselbe. Entweder du bist schon wahnsinnig der Anlage nach, wenn du zu so einer Machtfülle kommst, dann kannst du dich dort als Individuum gebärden, wie es dich freut. Oder du bist es eben nicht, und dann gehst du als Person unter. Zum Glück leben wir in Demokratien, aber wir haben etliche Potentaten im Moment, die längst nicht mehr regieren würden, wenn die Gesetzeslage so wäre, wie sie war, als sie gewählt wurden." Wohin uns das führt? "Darüber werden unsere Enkel Romane schreiben."

Zum gebürtigen Vorarlberger Arno Geiger vorzudringen, der mit seiner Ehefrau, einer Ärztin, kinderlos in Wien lebt, ist schwerer, als sein stark autobiografisches Werk vermuten ließe.

Die Beachtung der Nachwelt sei ihm nicht wichtig, sagt er. Auch gebe es Vordringlicheres als das Schreiben, nämlich die gelingenden sozialen Beziehungen mit der Frau und der Großfamilie. Karl, kommt er auf das eigene Verhältnis zum Emeritus, habe sich aus dem Spannungsfeld zwischen der Bürde des Amts und dem ungelebten Leben befreit, nachdem er zehnmal mehr und zehnmal weniger als andere gelebt habe.

„Es gibt Wichtigeres als schreiben“

Und Arno Geiger? "Zweimal mehr als andere und zweimal weniger als andere. Das Berufliche ist vielfältig, reich, oft auch schön. Aber das fehlt immer woanders. Die Vernachlässigung im Privaten ist zum Glück nur phasenweise. Ich ziehe mich darum auch wieder sehr konsequent zurück, um das auszugleichen."

Deshalb legt er seine Bücher auch rasch weg, nachdem er die erforderlichen werbenden Maßnahmen hinter sich hat. "Ich begleite es noch drei Schritte raus, damit ich besser sehe, was ich gemacht habe. Aber dann ist Schluss. Dann wäre es nur noch eine sinnlose Wiederholung. So wie Karl sein Leben als Abfolge sinnloser Wiederholungen empfunden hat: Ist der eine Krieg beendet, fängt der andere an. Ist ein Verrat geschehen, macht man den nächsten Vertrag, der wieder gebrochen wird."

Dieser Art Unentrinnbarkeit auszuweichen, sei die Herausforderung. "Drum überlege ich jahrelang, was ich mache, und setze mich erst hin, wenn ich es nicht mehr aushalte, das Schreiben zurückzuhalten. Ich fange einfach an, schreibe die Bücher in wenigen Wochen, und die Sache hat sich. Ich bin auch nicht fürs Überarbeiten. Man kann an einem Gesicht herumschneiden, aber irgendwann verliert es an Beweglichkeit, an Lebendigkeit, und wird tot."

Und das ist kein erlösender Tod wie der des armen, großen Kaisers Karl.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 33/2024 erschienen.

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