Ein unachtsam ausgesprochener Vorwurf, ein beleidigendes Wort ... es braucht nicht viel, um die Kinderseele zu verletzen. Doch wo beginnt psychische Gewalt? Und mit welchen Folgen haben Kinder, die sie erlebt haben, zu kämpfen? Wir befragten den Kinder- und Jugendpsychologen Dr. Christian Gutschi.
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Drei Viertel der Frauen und fast ebenso viele Männer wurden in ihrer Kindheit Opfer psychischer Gewalt. Das geht aus einer im Jahr 2001 in Österreich erhobenen Studie hervor. Beiden Geschlechtern zufolge ging diese Form von Gewalt in erster Linie von den eigenen Eltern aus. Überforderung ist ein häufiges Motiv für ein derartiges elterliches Verhalten. Auch eine psychische Erkrankung oder eine Persönlichkeitsstörung können als Ursache ausgemacht werden. Doch wo beginnt psychische Gewalt? Eine schwierige Frage, sind die Grenzen dem auf Kinder, Jugendliche und Familien spezialisierten Psychologen zufolge doch oft fließend.
Wo beginnt psychische Gewalt?
"Was für den einen ein lustiger Witz ist, kann für das Kind zutiefst beschämend sein", nennt Gutschi ein einfaches Beispiel. Man möchte nicht meinen, dass dies unter die Kategorie Gewalt fällt, doch "hier beginnt es bereits". Schon verharmlosende Bezeichnungen wie "du Tschopperl" können verletzen. Sie vermitteln dem Kind, dass es nicht ernst genommen wird. In gewisser Weise werten sie es auch ab. Die in oben genannter Studie am häufigsten auftretenden Formen psychischer Gewalt sind Demütigung und Angebrüllt- bzw. Beschimpftwerden. Die Bandbreite reicht jedoch noch viel weiter.
"Eine der häufigsten Formen psychischer Gewalt im täglichen Leben ist die negative Pädagogik", erklärt der Experte. Etwa wenn Eltern versuchen, Kinder mittels negativer Aussagen zu einem gewissen Verhalten zu motivieren. Nach dem Motto "Das solltest du jetzt aber wirklich schon können". Was motivieren sollte, entmutigt in Wirklichkeit nur. Und führt dem Sprössling sein vermeintliches Versagen vor Augen. Weitere Formen psychischer Gewalt wären Ausgrenzen, Isolieren, Einschüchtern und Nicht-ernst-Nehmen. All diese Verhaltensweisen fallen nicht offensichtlich in die Kategorie Gewalt, können die Kinderseele aber nachhaltig schädigen.
Ignorieren hinterlässt tiefe Wunden
Eine besonders starke seelische Verletzung fügt man dem Kind zu, wenn man es ignoriert. "Man denkt, es sei nicht so schlimm. Aber das Kind erlebt das als Liebesentzug", warnt Gutschi. Ein derartiges Verhalten kann nicht nur die Eltern-Kind-Bindung tief erschüttern, sondern auch das spätere Beziehungsleben des Betroffenen trüben. "Das ist eine bösartige, perfide Form der Bestrafung." Nicht zuletzt deshalb, weil das Kind die elterliche Reaktion oft schlicht und einfach nicht versteht. Aus seiner beruflichen Erfahrung weiß der Psychologe, dass es Kinder gibt, die sagen: "Eine Watsche wäre mir lieber gewesen."
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Genauso wie Ablehnung ist auch Vereinnahmung eine Form der Gewaltausübung. Nämlich dann, wenn das Kind derart stark kontrolliert wird, dass es keine eigenen Lernschritte machen kann und seine autonome Entwicklung dadurch unterbunden wird. Wobei die Eltern es meist nur gut meinen. "Sie wollen das Kind unter einem Glassturz sicher durch die Welt bringen", erklärt Gutschi. Nicht umsonst gebe es aber die Redewendung "durch Liebe erstickt". Dass es sich bei Drohungen und Angstmache um eine Form psychischer Gewalt handelt, erklärt sich dagegen von selbst.
Die Folgen psychischer Gewalt
Während körperliche Gewalt oft sichtbare Spuren hinterlässt, ist das bei seelischer Gewalt nicht der Fall. Was aber nicht heißt, dass Zweitere deshalb harmloser ist. So kommt eine 2015 im Fachmagazin "Jama Psychiatry" publizierte US-Studie zu dem Ergebnis, dass die Folgen psychischer Gewalt denen körperlicher ähneln. Mit anderen Worten: Betroffene leiden später oft an Angststörungen, Zwängen oder Depressionen, begleitet von einem geringen Selbstwertgefühl. Es kann zu Selbstverletzungen bis hin zu Suizidgedanken kommen.
Auch eine erhöhte Suchtanfälligkeit zählt zu den potenziellen Spätfolgen. Die Sucht ist dem Experten zufolge der Versuch, die in der Kindheit erlebten Defizite zu kompensieren oder schlicht und einfach zu flüchten. Eine andere Form der Flucht ist, wenn man so will, die Entwicklung einer Wahrnehmungsstörung. Gutschi spricht von sogenannten dissoziativen Verhaltensweisen, dem Gefühl, von der Wirklichkeit abgespalten zu sein. "Weil die reale Welt zu bedrohlich ist, schafft man sich seine eigene Realität" - bis man schließlich nicht mehr zwischen ihnen unterscheiden kann.
Eigenes Beziehungsleben getrübt
Nicht selten leiden Opfer psychischer Gewalt unter emotionaler Instabilität oder verminderter Stressresistenz. Situationen, die andere problemlos meistern, führen bei ihnen schneller zu einer Überforderung. Folglich besteht hier auch ein höheres Burnout-Risiko. Möglich ist auch eine verstärkte Tendenz zu aggressivem Verhalten anderen gegenüber. Schließlich werfen die in der Kindheit erlebten negativen Erfahrungen ihren Schatten auch auf das eigene Beziehungsleben, fällt es den Betroffenen doch oft schwer, sich auf andere Menschen einzulassen.
Während die einen das in der Kindheit Erlebte mehr oder weniger locker wegstecken, kämpfen andere ein Leben lang mit den Spätfolgen. "Entscheidend sind die Dauer, die Intensität und die Qualität der psychischen Gewalt und von wem sie ausgeübt wird", erläutert der Kinder- und Jugendpsychologe. Je schutzloser das Kind den Angriffen ausgeliefert ist, desto gravierender sind die Folgen. Unterstützend wirken dagegen Personen, denen sich das Kind anvertrauen kann und die es stärken. Egal, ob es sich dabei um einen der beiden Elternteile, die Oma oder professionelle Hilfe handelt. "Das kann vieles abfedern", so Gutschi.
Erziehungshaltungen werden weitergegeben
So schwer zu fassen die Formen psychischer Gewalt sind, so weitreichend sind ihre Folgen. Und dennoch ist heute eine Zunahme von Psycho-Strafen zu verzeichnen, wie Martina Wolf, Geschäftsführerin im Bundesverband Österreichischer Kinderschutzzentren, gegenüber der APA berichtet. Wie kann das sein? Zum einen, so Gutschi, fehle es an dem notwendigen Wissen: "Die Wirkungen psychischer Gewalt sind noch nicht so gut erforscht", stand bis dato doch in erster Linie der körperliche Aspekt im Fokus entsprechender Studien. Und wo kein Wissen, da auch kein Bewusstsein.
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Zum anderen werden gewisse Erziehungshaltungen von Generation zu Generation weitergegeben. Eltern behandeln ihre Kinder auf eine Art und Weise, die ihnen schadet. Nicht aus Böswilligkeit heraus, sondern weil es eben immer schon so war. Konfrontiert man sie mit dieser Tatsache, hört man nicht selten: "Mir hat das auch nicht geschadet." Und genau hier müsse man ansetzen. Vielleicht hat es einem selbst nichts ausgemacht. Das heißt aber noch lange nicht, dass das eigene Kind keinen Schaden von den entsprechenden Erziehungspraktiken trägt.
So durchbricht man die Gewaltschleife
Um die Gewaltschleife zu durchbrechen, sei es notwendig, sich in das Kind hineinzuversetzen. Was macht ein verletzender Satz, eine kränkende Handlung mit dem Kind? Und was ändert sich, wenn ich eine andere Formulierung wähle? Oft bedarf es nur ein paar Gedanken um verstehen, wie sich das eigene Verhalten auf das Kindeswohl auswirkt. Nicht selten ist der Effekt aber ein großer. Statt zu strafen, rät der Experte zu erörtern, warum sich das Kind auf eine bestimmte Art und Weise verhält. In weiterer Folge könne man dem Kind - idealerweise mit ihm gemeinsam erarbeitete - alternative Handlungsmöglichkeiten anbieten.
Sätze wie "Du musst das machen, weil ich es dir sage", sind fehl am Platz. Sie bringen lediglich ein Machtgefälle zum Ausdruck. Stattdessen gilt es, das Kind, soweit es seinem Alter entspricht, transparent in den Alltag miteinzubeziehen. Wichtig sei auch, als Elternteil mit gutem Vorbild voranzugehen und einen achtsamen Umgang miteinander zu pflegen. Und ist man sich einmal nicht ganz sicher, ob man sich dem Kind gegenüber richtig verhält, kann man sich stets fragen: Würde ich wollen, dass man so mit mir umgeht?
Psychische Gewalt an Kindern: Auswirkungen von psychischer Gewalt in der Kindheit und im späteren Leben
Psychische Gewalt in der Eltern-Kind-Beziehung. Risikofaktoren und Erkennungschancen
Steckbrief
Christian Gutschi
Dr. Christian Gutschi ist Klinischer Psychologe und Gesundheitspsychologe. Sein beruflicher Schwerpunkt liegt auf der Arbeit mit Kindern, Jugendlichen, Familien und Paaren. Darüber hinaus ist er als Lektor an der FH Kärnten für Gesundheitsmanagement tätig. Hier geht es zu seiner Homepage.
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