Doktorin Lisa-Maria Kellermayr wurde monatelang von radikalen Impfgegnern bedroht und in den Tod getrieben. Sie hat sich von den Institutionen des Staates, z. B. der Polizei, nicht ausreichend ernstgenommen und geschützt gefühlt. Was muss man aus diesem Fall lernen?
Das ist eine furchtbare Tragödie, die mich sehr nachdenklich stimmt. Die Polizei und die Ärztekammer haben jedoch versichert, dass sie alles unternommen haben, um sie in dieser schwierigen Situation zu unterstützen. Ich spreche den Angehörigen und Hinterbliebenen jedenfalls mein tiefes Beileid aus und wünsche viel Kraft in dieser schweren Zeit.
Hat die Politik diese radikale Szene zu lange unterschätzt und zu viele Zugeständnisse gemacht?
Wir sind ein Rechtsstaat und solange man sich mit seiner Kritik oder Skepsis im Rahmen der Rechtsstaatlichkeit bewegt, hat man keine Handhabe, auch wenn einem das nicht gefällt. Aber wenn rote Linien überschritten werden, etwa auch bei Hass im Netz, dann muss konsequent eingeschritten werden. Ich weiß, dass es schwierig ist für die Behörden, weil sich viele Radikale unter dem Deckmantel der Anonymität verstecken. Aber da würde ich mir teilweise schon ein härteres und schnelleres Vorgehen erwarten.
Wir führen dieses Interview coronabedingt in Videokonferenz. Nach Abschaffung der Quarantäne könnte ich Ihnen gegenübersitzen. Wäre Ihnen das angenehm?
Ja, mit Maske könnten Sie hier sitzen. Mir ist es immer angenehm, Leute zu treffen. Wir sind jetzt im dritten Jahr von Corona. Corona wird nicht mehr weggehen. Wir müssen eine vernünftige Art finden, damit zu leben. Quarantäne klingt technokratisch und klinisch sauber. Es heißt aber, der Staat sperrt dich ein. Mir ist ein bisschen unheimlich, wie leichtfertig in einer freien westlichen Demokratie gesagt wird: Naja, eigentlich können wir diesen Zustand noch länger haben, dass der Staat Tag für Tag Zigtausende Menschen wegsperrt. Nach Gesprächen mit Experten halte ich es für vertretbar, dass wir zu dem zurückkehren, was wir vor 2020 hatten: Wenn ich krank bin, bleibe ich zuhause, bis es wieder geht. Es ist nur schwierig, nach der langen Zeit, wo wir mit all den Maßnahmen gelebt haben, sich wieder daran zu gewöhnen.
Fast alle Experten sagen, die Abschaffung kommt zu früh.
Die Experten sind nie alle einheitlicher Meinung. Es gibt einige, die sagen, dass es vertretbar ist. Letztlich ist es eine politische Entscheidung, wie auch vieles andere bisher.
Nach dem Interview könnte ich ins nahe Café Traxlmayr gehen, dürfte dort aber nichts essen und trinken. Wundert es Sie eigentlich noch, dass die Politik ein Glaubwürdigkeitsproblem bekommen hat?
Die Situation ist schwierig, da gebe ich Ihnen Recht. Die Leute verlangen Klarheit, nur kann es diese in politischen Entscheidungen oft nicht geben. Dass viele da einen Frust aufbauen, verstehe ich. Ich hoffe nur, dass es auch Verständnis dafür gibt, dass es in einer unklaren Situation, wo sich vieles schnell ändert, auch die Politik nicht immer nur einfach hat.
Dieses Glaubwürdigkeitsproblem führt dazu, dass die Menschen in den anderen Krisen den Maßnahmen der Regierung auch nicht mehr trauen. Sie haben das Gefühl, es passiert zu wenig gegen Teuerung und Energiekrise, obwohl es Milliardenhilfen gibt. Passiert genug?
Wenn man sagen würde, es passiert genug, dann wäre man vermessen. Das kann wohl niemand behaupten, aber es passiert sehr viel. Die Rahmenbedingungen für die Politik sind im Moment sehr herausfordernd. Aber Regierungsverantwortung heißt, man muss entscheiden, auch wenn einem der Wind ins Gesicht bläst. Entschlossen die richtigen Dinge tun und darauf setzen, dass das auch einmal anerkannt wird. Auch wenn viel kritisiert wird, darf das nicht dazu führen, dass man sich über Entscheidungen nicht mehr drübertraut.
Die Landeshauptleute haben zuletzt mehr Tempo von der Bundesregierung gefordert. Johanna Mikl-Leitner ist mit einem eigenen Strompreisdeckel vorgeprescht. Fehlt Führungsstärke im Bund?
Von Bund und Ländern wurde schon viel Unterstützung beschlossen, aber die weltpolitische Lage bleibt aufgrund dieses unseligen Kriegs höchst unsicher, daher wird es immer wieder nötig sein, dass wir über weitere Maßnahmen reden. Die Messlatte muss sein, dass das tägliche Leben für die Bevölkerung nicht zum Spießrutenlauf werden darf und dass niemand alleine gelassen werden darf. Wir haben in Oberösterreich schon früh ein Paket mit einer Erhöhung der Heizkostenzuschüsse und Wohnbeihilfen gemacht, dazu kommen die Bundespakete, jetzt wird die Abfederung der Strompreise diskutiert.
Hier will die Regierung bis September liefern. Die Leute leiden aber jetzt schon und haben das Gefühl, es dauert alles viel zu lange.
Ich kann dieses Gefühl nachvollziehen, weil ich selbst ein ungeduldiger Mensch bin. Allerdings muss man sagen, die diversen Hilfen des Bundes vom Klimabonus bis erhöhter Familienbeihilfe werden ab Spätsommer spürbar werden. Mit dem Jahreswechsel kommt die Abschaffung der kalten Progression. Dass das vielen zu lange dauert, räume ich gerne ein. Aber wir reden hier über zig Milliarden Euro, letztlich aus Steuergeld, da muss man schon überlegen, wie geht man damit um, kann man das alles verantworten?
Müssten die Hilfen nicht treffsicherer sein? Es profitieren auch Menschen, die höhere Energiekosten stemmen könnten.
Treffsicherheit ist immer ein Riesenthema bei staatlichen Maßnahmen. Allerdings sind mittlerweile die Menschen bis in den klassischen Mittelstand hinein von der Teuerung betroffen, daher muss man auch breit agieren. Und es gibt noch eine zweite Facette: Die Teuerung schlägt auch in der Wirtschaft und der Industrie auf. Auch hier braucht es Entlastung, um Arbeitsplätze sichern zu können. Es gibt ja auch die Strompreiskompensation als Teil der Entlastungsmaßnahmen. Es ist sinnvoll, dass der Staat auch hier eingreift.
Auch der oö. Landesenergieversorger wird Übergewinne machen. Was wird mit diesem Geld passieren?
Wir haben bei der Energie AG für die Kunden für das heurige Jahr eine Strompreisgarantie, daher aus heutiger Sicht einen sehr niedrigen Strompreis. Aber es wird im Unternehmen natürlich fieberhaft überlegt, wie man das ins nächste Jahr hineintragen kann. Wenn es eine höhere Dividende gibt, gibt es die Möglichkeit, daraus zu entlasten, aber es braucht auch Geld, um die Energiewende voranzutreiben.
Das Energielenkungsgesetz sieht vor, dass Haushalte bei Gasmangel Vorrang vor der Industrie haben. Der deutsche Vizekanzler Robert Habeck meint, dass das bei einem monatelangen Mangel nicht sinnvoll ist. Wie sehen Sie das?
Ich sehe da zwei Seiten. Wie gesagt, das tägliche Leben darf nicht zum Spießrutenlauf werden. Aber zum täglichen Leben gehört auch, dass ich einen Arbeitsplatz habe. Die großen Betriebe bei uns im Land haben schon begonnen, Gas zu bevorraten, das kann aber nur eine Übergangslösung sein. Wir müssen es schaffen, dass die Industrieproduktion am Laufen bleibt. Wenn ein Hochofen einmal heruntergefahren ist, dann ist er eine ganze Zeit lang außer Funktion. Ein Gasstopp für die Industrie in Oberösterreich würde Arbeitslosigkeit im großen Stil bedeuten. Ich glaube aber, dass die Versorgung beider Seiten machbar ist.
Wie?
Der berühmte Spargedanke. Unsere Lebensweise bis jetzt war, wir mussten uns um kaum etwas Gedanken machen. Wir sind alle miteinander etwas sorglos geworden und sollten wieder ein bisschen genauer hinschauen. Das Licht abdrehen, wenn ich aus dem Raum gehe, wie wir es als Kinder gelernt haben. Das klingt furchtbar einfach, hilft aber alles mit.
Hat sich die Wirtschaft bei Transformationsprozessen, die wir bisher unter dem Stichwort "Klimakrise" diskutiert haben, zulange Zeit gelassen, weil das Gas aus Russland da und billig war?
Mit dem Wissen von heute hätte man gestern und vorgestern wahrscheinlich anders gehandelt. Es kann immer alles schneller gehen. Allerdings kann ich für das Industrieland Oberösterreich nur sagen: Die Klimaziele zu erreichen, etwa indem man die Produktion auf Wasserstoff umstellt, braucht Jahre, obwohl wir da sehr weit sind. Das ist meine große Sorge: Selbst wenn dieser Krieg vorbei ist, werden wir vom Gas, wo immer es herkommt, vielleicht noch ein Jahrzehnt abhängig sein, auch wenn wir uns noch so sehr beeilen. Neue Energiequellen brauchen neue Stromleitungen. All das sind Prozesse, die auch bei größtem Geldeinsatz und Tempo noch Jahre brauchen werden.
"Die Sanktionen waren nicht zu Ende gedacht", sagt Wirtschaftskammer-Boss Mahrer. Wie sehen Sie das?
In einer unübersichtlichen Entwicklung ist es fast unmöglich, die Dinge bis zum Ende einschätzen zu können. Aber, wenn ein Staatenlenker einen Krieg der scheußlichsten Sorte beginnt, Leute abschlachten lässt, Städte in Grund und Boden bombt, da kann doch ein Europa, das auf einem Wertefundament steht, nicht zuschauen. Ich bin dafür, dass man Verhandlungen führt, zu Lösungen kommt, aber zu sagen, man soll sich nicht mit vertretbaren Maßnahmen zur Wehr setzen, geht gar nicht.
Sanktionen aufrecht erhalten, auch wenn es weh tut.
Sie tun weh. Aber wenn wir wollen, dass es Frieden gibt auf unserem Kontinent, dann muss man auch einen Einsatz liefern.
IHS-Chef Neusser hat zuletzt gegen breite Hilfen argumentiert, sich für gezielte Zahlungen an ärmere Haushalte ausgesprochen, auch weil die Kosten zu hoch würden. Den Finanzreferenten gefragt: Wie viel wäre zu viel?
In der Coronazeit hat der Staat de facto alles abgefedert und sehr, sehr viel bezahlt. Das hat auch zu einem Gewöhnungseffekt in der Gesellschaft geführt. Aber kein Staat kann Grundsicherung für alles und jedes betreiben, er kann Rahmenbedingungen schaffen, aber keine Vollkaskoversicherung für jeden Einzelnen sein. Daher glaube ich, wir müssen unsere Verantwortung wieder darauf zurückführen, dass es schon in jedes persönlicher Hand liegt, das Leben zu organisieren. Der Staat soll helfen, aber er kann nicht alles übernehmen. Also muss man sehr genau hinschauen, wo braucht es Hilfe, wo kommt sie an. Es ist immer der Steuertopf, über den wir da reden.
Wir zahlen uns unsere Hilfen irgendwann selber?
Ja, wir greifen in unsere gemeinsame Kasse. Der Staat hat nur das Geld, das wir gemeinsam aufbringen. Die Politik hat entschieden, Steuern zu senken, die kalte Progression abzuschaffen, also die Einnahmen des Staates auf Sicht zu mindern. Das wird bedeuten, dass man Direkthilfen nicht ad infinitum steigern kann.
Zur Energiewende: Oberösterreich galt als Musterland bei der Windkraft, seit Schwarz-Blau will man keine neuen Windräder mehr. Warum eigentlich? Sie sind ja gegen Denkverbote.
Ich bin dafür, erneuerbare Energien sinnvoll zu nützen. Wir sind ein Land der Wasserkraft, die auch schon fast vollständig genutzt wird. Wir können bei der Fotovoltaik noch viel tun. Wir wollen da bis 2030 das Aufkommen verzehnfachen. Bei Wind können wir nur eingeschränkt etwas tun. Wir sind ein Land mit Hügeln und Bergen. Und oft ist es so, dass die selben Gruppen, die nach mehr Windkraft rufen, sagen, aber nicht auf diesem Hügel oder Berg. Windkraft heißt am Ende des Tages einen massiven Eingriff in die Natur, weil ich ja auch Straßen und Stromleitungen dorthin brauche. Ich bin für Ehrlichkeit in dieser Diskussion.
Sie wollen "Biofracking" für Schiefergas prüfen. Nur im Weinviertel, oder gibt es in Oberösterreich Vorkommen?
Es gibt ein bekanntes Vorkommen. Ich bin dafür, dass wir das weiter untersuchen, eben weil ich, wie vorher gesagt, glaube, dass wir noch ungefähr ein Jahrzehnt lang Gas brauchen werden, um unser Land in Schwung zu halten. Es kann nicht die Fantasie sein, der Krieg ist vorbei, und dann wird Putin wieder liefern. Daher muss man Fracking eigener Vorkommen zumindest überlegen. Es gibt sehr interessante Forschungsprojekte der Montanuni Leoben, wo man auf biologisch verträgliche Weise das Gas gewinnen kann. Ich glaube, dass man das für die Übergangszeit nützen muss.
Die OMV sagt, es könnte Jahre dauern, diese Vorkommen zu erschließen.
Da höre ich gerne eine zweite und dritte Meinung. Es gibt andere, die sagen, es könnte viel schneller gehen.
Es bleibt immer noch fossiler Brennstoff. Der Ausdruck "Bio"-Fracking ist Greenwashing erste Güte, oder?
Darum ist es nur für den Übergang, um unabhängig von russischem Rohstoff zu werden. Man muss akzeptieren, dass das Erreichen der Klimaziele nicht 2023 stattfinden wird, sondern, dass es schon einen Grund hat, warum der Zeitraum bis 2030/2040 definiert wurde. Wir wollen eine Wohlstandsregion in Europa bleiben, eine Wirtschafts- und Industrieregion und uns nicht ruinieren in der Umstiegszeit.
Die ÖVP hat sich über die letzten Jahre in der Klimapolitik den Ruf der Bremserin erworben. Sind Sie zufrieden mit dieser Performance?
In Oberösterreich haben wir immer gesagt: Klimapolitik mit Hausverstand. Das heißt, dass wir die Klimaziele erreichen und gleichzeitig ein Land der Produktion, der Arbeit bleiben wollen. Ich bin sehr angetan, wie uns das bisher gelungen ist. Wir haben in Wirtschaftszweigen, die sich um die erneuerbaren Energien bei uns im Land gebildet haben, Zehntausende neue Arbeitsplätze bekommen. Insofern: Wer immer den Ruf bestimmt, das kann ich eh nicht beeinflussen. Ich glaube, wir haben sehr viel geschafft.
Sie hatten dieser Tage Karl Nehammer beim Sommerfest der OÖVP zu Gast. Ist er ein starker Parteichef?
Er ist aus meiner Sicht ein starker Bundeskanzler und Parteichef, weil er ja sowohl die Republik als auch die Partei in eine Phase übernommen hat, die keineswegs einfach war. Und es ist schwierig geblieben. Er führt die Geschäfte des Regierungschefs sehr umsichtig, wird international respektiert. Und schauen wir doch einmal in Nachbarländer wie Deutschland, wie dort die Kritik an Regierungschefs ist.
Wird er auch noch unbestritten sein, wenn die ÖVP bei den vier anstehenden Landtagswahlen in größerem Ausmaß Stimmen verliert? Oder wird man dann feststellen, dass er nur eine Übergangslösung war?
Die ÖVP wird überall gut abschneiden, davon bin ich überzeugt. Man darf das Ergebnis ja nicht mit dem vergleichen, was vor vier, fünf Jahren war. Man muss fragen, wie die Stimmungslage jetzt ist, was die Leute erwarten, wie die Parteienlandschaft ist. Wenn wir diese Messlatte anlegen, wird die ÖVP überall gut abschneiden. Denn die Leute wollen bei aller Aufgeregtheit, die in der täglichen politischen Diskussion herrscht, am Ende jemanden wählen, wo sie wissen, da kriegen sie ein verlässliches Handwerk und kaufen nicht nur ein Mundwerk ein.
Bezieht sich das "Mundwerk" auf Ihren früheren Parteichef Sebastian Kurz?
Das bezieht sich auf alle, die glauben, dass man in der Politik nur mit flotten Sprüchen Erfolg generieren kann. Die gehören schon dazu, da sind wir alle nicht davor gefeit, aber am Ende wird schon hingeschaut, was hat er oder sie zusammen gebracht? Da stehen vor allem die ÖVP-Organisationen in den Ländern dafür.
Auf Bundesebene liegt die ÖVP in Umfragen dort, wo sie vor der Episode Kurz lag. Damals galt sie als bieder und unmodern, heute als skandalträchtig. War es das wert?
In der Bundespolitik ist es so, dass Zustimmungen schwanken. Man kann das immer nur aktuell bewerten. Wir stellen den Kanzler, es wurden wichtige Vorhaben vorangebracht. Natürlich würden wir uns in der Politik immer wünschen, dass Erfolg eine Einbahnstraße nach oben ist. Aber das gibt es nirgendwo.
Derzeit glaubt so gut wie niemand, dass es die ÖVP noch einmal ins Kanzleramt schafft. Was wäre Ihnen dann lieber: Opposition oder Juniorpartner der SPÖ?
Eine Partei, insbesondere die unsrige, muss immer das Ziel haben, zu gewinnen und vorne zu stehen. Das gilt natürlich auch für die nächste Nationalratswahl, die ja erst in einigen Jahren ist. Man kann noch gar nicht sagen, wie die Situation dann sein wird, wie die anderen Parteien aufgestellt sein werden. Daher gilt: Wir wollen die Wahl gewinnen, weil wir mit unseren Werten die Gesellschaft gestalten wollen.
Ist das auf Bundesebene nicht etwas weltfremd?
Auf den Punkt gebracht: Wir stellen jetzt den Bundeskanzler, der führt die Regierung, trifft eine Entscheidung nach der anderen. Aus meiner Sicht auch sehr zügig. Wir stellen viele Landeshauptleute. Auch da tragen wir Hauptverantwortung und entscheiden. Und abgerechnet wird immer am Schluss. Im Bund wird das eben 2024 bei der Nationalratswahl sein. Da würde ich es jetzt für sehr übereilt halten, wenn jemand sagt, er weiß schon, wie die ausgeht.
Müsste die ÖVP, um diese Chance zu wahren, nicht einen Selbstreinigungsprozess starten?
Für mich ist sonnenklar, wer in der Politik eine Aufgabe übernimmt, muss auch so leben, dass er die an ihn gestellten höheren Ansprüche erfüllt. Da hat es bei uns Vorfälle gegeben, die inakzeptabel sind. Die gehören dargestellt und aufgearbeitet. Es ist nur so: Der öffentliche Fokus liegt jetzt ausschließlich auf der ÖVP. Ich würde nicht ausschließen, dass es unselige Vorgänge auch in anderen Parteien gibt, sodass jeder eingeladen ist, vor der eigenen Tür zu kehren. Wir versuchen, möglichst redlich den Ansprüchen, die die Leute an uns haben, auch gerecht zu werden. Das wird natürlich auch bedeuten, dass man insbesondere bei der Personalauswahl noch sorgsamer hinschaut, als das vielleicht manchmal der Fall gewesen ist.
Ist in der ÖVP über die Jahre nicht auch das Gespür dafür verloren gegangen, wie man richtig handelt? Etwa auch, wenn es um den Zugriff auf öffentliche Mittel und Ressourcen geht?
Wie gesagt, einzelne Personen haben so gehandelt, dass es nicht okay ist. Das muss man aufklären. Das gehört abgestellt. Auf der anderen Seite: Wir sind ein Rechtsstaat. Wenn etwas rechtlich für eine Privatperson in Ordnung ist, muss es auch für eine Partei gelten, bei allem Verständnis für die Ansprüche, die an uns gestellt werden.
Wenn die ÖVP als Juniorpartner in die nächste Regierung möchte, müsste sie dann auch auf "Erbpachten" wie das Innen- und das Finanzministerium verzichten?
Also, es ist ein netter Versuch, mich zu einer Zukunftsaussage verleiten zu wollen. Ich beschäftige mich nicht mit der Frage, was nach der nächsten Wahl ist, außer, dass wir Nummer eins sein wollen.
Wenn ihre Partei, was Ressentiments, Ausländerfeindlichkeit etc. auf einer Ebene mit der FPÖ gesehen wird, kann das einem Christlich-Sozialen doch nicht egal sein.
Die ÖVP hat als große staatstragende Partei mit großer Geschichte eine sehr klare Haltung, was Weltanschauungen betrifft: dass es bei uns gegenüber allen Extremen, nach rechts, aber auch nach links, klare Kante gibt. Wenn uns jemand von außen Anderes unterstellt, liegt es am Betrachter.
Der Bundeskanzler hatte zuletzt Viktor Orbán zu Gast, der zuvor in einer Rede Rassentheorien bemühte und einen Gas-Witz, der als Anspielung auf den Holocaust verstanden wird, machte. War die Einladung richtig?
Auf der einen Seite muss ein Staat immer mit anderen, die noch dazu unsere Nachbarn und auch in der EU sind, im Gespräch sein können, auch mit den gewählten Regierungschefs und Staatsoberhäuptern. Das heißt aber nicht, dass einem alles gefallen muss, was die jeweiligen Regierungschefs sagen. Wie in diesem Fall. Da wurde einfach etwas gesagt, das gar nicht geht.
Was würden Sie Orbán sagen?
Was der Zugang Österreichs ist, was unsere Wertehaltung ausmacht, was auch die Geschichte, die unselige Geschichte gerade hier im Herzen Europas, in Österreich und Deutschland, alles bedeutet hat. Und dass man mit so etwas in keiner Weise kokettieren oder spielen darf. Da gilt einfach: Wehret den Anfängen.
Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat klare Reden in Bregenz und Salzburg gehalten, wo es um die Arbeit der Regierung und um klare Worte zu Krieg und Sanktionen ging. Teilen Sie seine Meinung? Und: Werden Sie ihn im Wahlkampf unterstützen?
Ich glaube, dass der Bundespräsident immer sehr gut den Ton trifft, die Stimmungen und Erwartungen in der Bevölkerung in seinen Reden sehr gut kanalisieren kann. Dass eine Regierung gerade in einer Zeit wie der jetzigen immer aufgefordert ist, rasch zu handeln, liegt auf der Hand, ob es nun der Bundespräsident sagt oder nicht. Und zum zweiten Teil der Frage: Ich hatte mit Bundespräsident Van der Bellen immer ein sehr gutes Einvernehmen, halte die Art seiner Amtsführung für sehr gut. Aber es gibt ein Wahlgeheimnis und jeder und jede sollte völlig frei sein in seinen oder ihren Interessen.
Das Interview erschien ursprünglich im News 31+32/2022.