Was große politische Reden ausmacht und wieso das Niveau der Redekunst in Österreich ausbaufähig ist.
Seit seinem Amtsantritt im Dezember 2021 war Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer vor allem mit Krisenbewältigung beschäftigt. Corona. Ukraine-Krieg. Energiekrise. Mit einer großen Rede zur Zukunft der Nation richtete der Kanzler den Blick nach vorne. Ein überfälliger Schritt, fanden viele Beobachter. Obwohl: Sein Vorgänger Sebastian Kurz war jahrelang im Amt, ohne sich jemals grundsätzlich erklärt zu haben.
Große Reden, die in Erinnerung blieben
Eine gute Rede bewegt, unterhält und regt zum Nachdenken an. Eine gute Rede bleibt jahrzehnte-, manchmal auch jahrhundertelang in Erinnerung. Oder zumindest einzelne Sätze davon: "Ich bin ein Berliner", deklarierte John F. Kennedy 1963 vor dem Rathaus Schöneberg. Im selben Jahr, wenige Wochen später, änderte Martin Luther King mit seiner "I Have a Dream"-Rede den Lauf der Geschichte.
Unvergessen auch die (1969 neu verfasste und eingesprochene) Weihnachtsansprache, mit der ÖVP-Kanzler Leopold Figl im Dezember 1945 die Not der Österreicherinnen und Österreicher adressierte: "Ich kann euch zu Weihnachten nichts geben, ich kann euch für den Christbaum, wenn ihr überhaupt einen habt, keine Kerzen geben, kein Stück Brot, keine Kohle zum Heizen, kein Glas zum Einschneiden. Wir haben nichts. Ich kann euch nur bitten: Glaubt an dieses Österreich!"
Das Um und Auf einer guten Rede
Die Theatermacherin Anna Maria Krassnigg, Professorin für Regie am Max Reinhardt Seminar und Leiterin des Theaterfestivals "Europa in Szene" in Wiener Neustadt, beschäftigt sich seit einiger Zeit intensiv mit dem Thema. In der von ihr entwickelten Reihe "Reden!" tragen Schauspieler große Reden aus der Geschichte vor.
"Das Um und Auf einer guten Rede ist, dass der Redner oder die Rednerin in sich authentisch und glaubwürdig ist", sagt Krassnigg. "Wenn das nicht gelingt, fühle ich mich als Zuschauer betrogen und der Redner hat eigentlich schon verloren. In der Politik würde man sagen: das Phänomen des Vercoacht-Seins. Jemanden so lange zuzurichten, bis man die authentische Person nicht mehr sieht, ist sicher der größte Feind der Rede."
Technische Tools
Dazu komme eine Reihe von technischen Tools. Einerseits, dass die Rede gut geschrieben ist, andererseits "das weite Feld der Theaterausbildung und auch der Ausbildung in Präsenz. Die Übertragung muss funktionieren. Ich denke, ein gewisses Maß an Begabung sollte ein Politiker schon mitbringen, ja, es ist eigentlich berufsbedingend. Nachdem wir es uns ja nicht vortanzen können, ist das gesprochene Wort das Hauptübertragungsmittel."
Markus Franz war früher selbst Redenschreiber für die deutschen SPD-Politiker Peer Steinbrück und Andrea Nahles. Und er lehrt seit vielen Jahren in Seminaren, wie man eine gute Rede schreibt. "Sie muss die Menschen bereichern. Das ist das Entscheidende", sagt Franz. "Ich finde immer Reden gut, die dazu anregen, etwas zu tun. Sowieso klar ist, dass eine Rede nicht langweilig sein darf und dass jeder sie verstehen soll. Ich persönlich benutze überhaupt keine Fremdwörter, keine Wortungetüme und keine Schachtelsätze."
Barack Obama
Wie es richtig geht, zeigen die Amerikaner vor. In seinem Buch "Im Weißen Haus" (englischer Originaltitel: "The World As It Is", 2018) beschreibt Ben Rhodes seine Zeit als Redenschreiber von Barack Obama. Das Erste, was er tat, nachdem er erfuhr, dass er den Job bekommen hatte: Reden, Interviews und Bücher von Obama zu studieren, um seine Sprechweise zu verinnerlichen. Rhodes war aber nicht nur mit Obamas Inhalten und Stil gut vertraut, die Identifikation führte noch weiter: "Meine Autorität im Weißen Haus hing mit der Annahme zusammen, dass Obama und ich geistig gewissermaßen verschmolzen waren -dass ich wusste, was er bei einem bestimmten Thema sagen oder tun würde, oder dass er mir vertraute, für ihn zu sprechen."
Obama ging als einer der ganz großen Redner in die Geschichte ein. Als der seltene Fall eines Politikers, bei dem sich Botschaft und Persönlichkeit ideal ergänzten. Wenn es wirklich wichtig war -oder wenn ihm die Reden seiner Mitarbeiter nicht gefielen -, griff Obama auch selbst zu Stift und Papier und schrieb eine Nacht lang durch, berichtet Rhodes. Und er beschreibt die oft mühsamen Abstimmungen mit Ministern, Beratern und anderen Institutionen: Oft genug wollte der junge Präsident Klartext reden, während sein Umfeld auf vorsichtigeren Formulierungen bestand. Ein ständiges Balancieren zwischen Obamas persönlicher Glaubwürdigkeit und den nationalen Interessen.
Reden in Deutschland
Allein Obama hat zahlreiche Reden gehalten, die in Erinnerung bleiben. In Deutschland und Österreich muss man länger nachdenken, um auf eine Liste denkwürdiger politischer Reden zu kommen. Die Redekultur in Deutschland sei "ein Trauerspiel", findet der Redenschreiber Markus Franz. "Wer einmal im deutschen Parlament war, wendet sich ja mit Grausen ab. Das hat mit mangelndem Anspruch zu tun. Die Redner in Deutschland wollen einfach nur keine Fehler machen. Es geht nie darum, Leute zu gewinnen, sie versuchen immer nur, nicht zu verlieren. "
Das hänge auch damit zusammen, dass Redenschreiber in Deutschland rein zufällig rekrutiert würden, sagt Franz. "Nach dem Motto: Wer hat Lust, wer hat Zeit? Aber ob die Leute das können, geschweige denn gelernt haben, darauf kommt es überhaupt nicht an. Kürzlich habe ich eine Politikerin gefragt, wie man überhaupt das Selbstbewusstsein haben kann, mit so langweiligen Reden vor die Leute zu treten. Und sie antwortete: ,Meine Leute sagen immer, die sollen froh sein, dass ich überhaupt komme.' Das ist genau diese Arroganz der Macht. Die Leute meinen, es würde schon reichen, nur weil sie kraft ihrer Funktion vors Volk treten."
Österreichisches Niveau
Auch in Österreich ist das Niveau der politischen Rede nicht sehr hoch. Das zeigt sich besonders, wenn zu später Übertragungsstunde der Parlamentsdebatten die Hinterbänkler sprechen. Aber nicht nur da. Große, programmatische Reden sind selten. In den meisten Fällen geht es vor allem darum, die eigenen Leute zu motivieren und den politischen Gegner runterzumachen. Prominentes Beispiel: die FPÖ-Aschermittwochsrede, bei der Herbert Kickl heuer erstmals als Parteichef seine rhetorische Brillanz und persönliche Untergriffigkeit unter Beweis stellte. Kickl, meint die Theatermacherin Anna Maria Krassnigg, sei ein effektiver Redner, der sein Publikum zu bedienen weiß. "Er ist von dem, was er da spricht, vollkommen überzeugt. Zumindest in dem Moment, wo er es sagt."
Den Grund für die generelle Mittelmäßigkeit der politischen Rede in Österreich sieht sie in einer Mischung aus Sprachschlamperei und mangelnder Haltung. "Es gibt ein treffendes Zitat: Wer spricht, riskiert, verstanden zu werden. Sprechen ist ein Wagnis. Denn wenn man es gut kann, zeigt es Haltung. Wenn ich aber an dieser ewigen charmanten Walzer-Indifferenz festhalten möchte, werde ich nicht gut sprechen können, einfach, weil ich gar keine Haltung zeigen will."
Christian Kerns Plan-A-Rede
Eine Rede, die in den letzten Jahren in Österreich gehalten wurde, sticht aus dem Mittelmaß hervor: die Plan-A-Rede, die der damalige österreichische Bundeskanzler Christian Kern Anfang 2017 hielt. Geschrieben hatte sie Kern gemeinsam mit dem Politikberater Rudi Fußi.
Grundlage war ein halbseitiges Dokument mit inhaltlichen Vorarbeiten, erinnert sich Fußi. Er schrieb dann "zu Weihnachten im tiefverschneiten Waldviertel" in sechs Stunden eine erste Version der einstündigen Rede (die letztlich deutlich länger ausfiel, weil Kern extemporierte). Diese Erstversion wurde gemeinsam mit Kern und anderen Beratern feingeschliffen. "Am Anfang einer Rede steht immer die Frage: Was will ich sagen? Welche Stimmung will ich abbilden? Was soll davon übrig bleiben?", sagt Fußi. "Bei dieser Rede war die Richtung klar, es ging um einen Plan für Österreich." Was die Plan-A-Rede auszeichnet: Sie vermittelt klare Botschaften, bedient sich einer einfachen Sprache und orientiert sich an der Lebensrealität der Menschen. In anderen Worten, sie will verstanden werden.
Vaclav Havels Fernsehansprache
Von den prickelnden Momenten, die eine gelungene Rede erzeugen kann, ist man in Österreich aber meist weit entfernt. Wenige Tage nach seiner Wahl zum ersten parteilosen tschechischen Staatspräsidenten nach 40 Jahren Kommunismus hielt Vaclav Havel eine Neujahrsansprache im Fernsehen. Anna Maria Krassnigg hat sie bei ihrem Theaterfestival neu aufführen lassen. "Die Rede hat mich sehr berührt", erzählt sie, "weil das tatsächlich der seltene Fall eines mitteleuropäischen Politikers ist, der auch Dichter war. Man hätte bei unserer Aufführung eine Stecknadel fallen gehört. Es gibt offenbar -und ich glaube, dass Politiker das unterschätzen - eine große Sehnsucht danach, einen Menschen zu sehen. Diese Rede kommt unglaublich bescheiden, liebenswürdig, den anderen meinend daher. Es ist auch sehr lustig und selbstkritisch. Man hat wirklich das Gefühl, da steht ein Mensch und möchte etwas."
Dieser Beitrag erschien ursprünglich im News-Magazin Nr. 10/2023.