Analyse
Zu den großen Missverständnissen in der österreichischen Politik zählt, dass zwischen einer rechten FPÖ unter Führung von Herbert Kickl und einer linken SPÖ unter dem Vorsitz von Andreas Babler viel Platz für eine "Mitte-Partei" sei. Gemeint ist damit in der Regel die ÖVP. Das Ganze ist ein Irrtum: Das Meinungsforschungsinstitut "Integral" hat in seiner "Sinus-Milieu-Studie" schon vor einem Jahr vom Ende der bürgerlichen Mitte gesprochen.
Die Mitte zerfällt. Übrig bleiben zum Beispiel Unzufriedene, die in stürmischen Zeiten einen Abstieg erleben oder Angst vor einem solchen haben; die finden, durch eine "Elite" hängen gelassen zu werden und die sich gerade wegen der vielen Unsicherheiten nach einer vermeintlich guten Vergangenheit sehnen. Gezielt angesprochen hat sie zuerst Kickl, der selbsternannte "Volkskanzler", der verspricht, sich ihnen "total" zuzuwenden und eine "Festung Österreich" zu errichten, die für Schutz und Ordnung steht, also dafür, verloren Gegangenes zurückzuholen.
Das kommt an. Bei einer Nationalratswahl an diesem Sonntag würde die FPÖ sehr wahrscheinlich erstmals auf Platz eins landen. Umgekehrt würden SPÖ und ÖVP zusammen auf weniger als 50 Prozent abstürzen.
Da wie dort wird daher reagiert. Die SPÖ ist mit Andreas Babler nach links gerückt. Von dort aus umwirbt er ebenfalls Leute, denen all die Krisen zusetzen. Er versucht sogar, sie zu vereinnahmen, indem er sie im Namen seiner Partei als "unsere Leute" bezeichnet, die aufgrund der Teuerung kaum noch über die Runden kommen würden und im Unterschied zu "Reichen" trotzdem einen Großteil der Steuern zahlen müssten. "Reiche" ist in seinem Fall ein anderes Wort für "Elite".
Jetzt ist die niederösterreichische Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leiter (ÖVP) nachgezogen. Sie musste im Unterschied zu Kickl und Babler eine radikale Kursänderung vornehmen, um das tun zu können. Aus "Miteinander", ihrem langjährigen Ansatz, wurde Gegeneinander. Sie definiert Normaldenkende und stellt sich damit automatisch gegen alle, die nicht ihren Vorstellungen entsprechen. Wobei das ein Nebenaspekt ist. Mikl-Leitner versteht darunter Familien, die zu kämpfen haben und sich von ihrem Traum entfernen, es zu Eigentum bringen zu können; und die, wie die Landeshauptfrau in einem "Standard"-Gastkommentar schrieb, das Gefühl haben, immer weniger gehört zu werden.
Von wem? Das ist das Risiko, das Mikl-Leitner bei alledem eingeht. Anders als Kickl und Babler agiert sie nicht aus der Opposition heraus, sondern ist die mächtigste Vertreterin einer Partei, die auf Bundesebene mehr oder weniger ununterbrochen seit 36 und in Niederösterreich durchgehend seit 78 Jahren in der Regierung ist. Sprich: Es kommt einem Eingeständnis gleich, was Mikl-Leitner hier macht. Ihre ÖVP hat demnach versagt, einer Masse den Eindruck zu vermitteln, ausreichend gehört zu werden.
Zahl
Wahlrecht für Zugewanderte
Wahlrecht für Zugewanderte
Die Einstellungen der Bevölkerung zu Zuwanderung und Integration sind vielschichtiger als die politischen Darstellungen. Das bedeutet, dass sie nicht so sehr von Schwarz-Weiß-Denken geprägt sind. Zum Ausdruck kommt dies in den Ergebnissen einer Umfrage, die das Sozialforschungsinstitut SORA im Auftrag der Stadt Wien durchgeführt hat. In die Schlagzeilen gebracht hat es diesbezüglich nur die Tatsache, dass eine deutliche Mehrheit zwar der Meinung ist, dass das interkulturelle Zusammenleben gut funktioniert, eine knappe Mehrheit aber findet, dass es zu viel Zuwanderung gibt.
Differenziert wird auch darüber hinaus. So geben knapp 80 Prozent der 1.104 befragten Wienerinnen und Wiener dennoch an, dass man Menschen, die aus ihrer Heimat fliehen mussten, Schutz geben muss. Oder: Als Ausdruck gelungener Integration gilt, die deutsche Sprache zu beherrschen, nicht aber, die Herkunftskultur zu verstecken.
Am bemerkenswertesten sind wohl Haltungen zu Einbürgerungsfragen. Fast 70 Prozent sind dafür, hier geborenen Kindern zugewanderter Eltern automatisch die österreichische Staatsbürgerschaft zu verleihen. 52 Prozent könnten sich zudem vorstellen, dass Zugwanderte nach fünf Jahren an Wahlen teilnehmen dürfen. Bei Befragten ohne Migrationshintergrund tut das eine relative Mehrheit von 48 Prozent (45 Prozent sind dagegen, sieben Prozent legen sich nicht fest oder machen keine Angabe).
Das entspricht den Forderungen von Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ). Er möchte den Zugang zur Staatsbürgerschaft erleichtern, zumal ein Drittel der Bevölkerung der Stadt nicht wahlberechtigt ist. ÖVP und FPÖ sprechen sich jedoch gegen eine Änderung aus – und auch in der Sozialdemokratie hält sich die Bereitschaft dafür in Grenzen. So lehnt Burgenlands Landeshauptmann Hans Peter Doskozil eine solche Lockerung ebenfalls ab.
Bericht
Spitzenverdiener zahlen sehr viel
Spitzenverdiener zahlen sehr viel
Seit Andreas Babler die SPÖ übernommen hat, redet sie gerne von "unseren Leuten". Damit meint sie allerdings nicht nur Parteimitglieder, sondern eine Masse darüber hinaus. Bisweilen verstolpert sie sich dabei. Zum Beispiel, wenn sie in einer Kampagne für ein gerechtes Steuersystems erklärt, dass von 100 Euro Steuereinnahmen "20 von den Reichen" und "80 von unseren Leuten" kommen würden. Babler klärt auf Twitter auf, dass damit "arbeitende Menschen" gemeint seien.
Beabsichtigt ist wohl zu vermitteln, dass Einkommen und Konsum sehr stark besteuert werden in Österreich, Vermögen jedoch kaum. Internationale Vergleiche unterstreichen das. Ja, auch der heutige Wirtschaftsminister Martin Kocher, der für die ÖVP in der Regierung sitzt, hat 2018 als Co-Autor einer Analyse am Institut für Höhere Studien (IHS) darauf hingewiesen und eine "Anpassung" der Besteuerung auf Grund und Boden zur Diskussion gestellt.
Die SPÖ-Kampagne täuscht jedoch darüber hinweg, dass zumindest bei der Lohn- und Einkommensteuer ein sehr großer Teil von Spitzenverdienern kommt, die gemeinhin bald einmal als "reich" gelten. Das zeigen Daten, die die Statistik Austria gerade aktualisiert hat. Vom obersten Fünftel der Einkommensbezieher stammen demnach rund 80 Prozent des gesamten Lohn- und Einkommensteuer-Aufkommens. Vom obersten Zwanzigstel allein kommt fast die Hälfte. Das sind Leute, die es auf 70.000 Euro und mehr im Jahr bringen. Es entspricht dem progressiven Ansatz, wonach jeder so viel zahlt, wie ihm zumutbar erscheint.
Johannes Huber, Journalist und Blogger zur österreichischen Politik, www.diesubstanz.at