Mitschwimmen, herumwursteln und möglichst wenig auffallen: Die Orientierung am Mittelmaß gilt in Österreich als nationale Tugend, gefährdet aber die Zukunft des Landes, warnen Experten. Warum fühlen wir uns im Durchschnitt so wohl? Wieso werden Menschen angefeindet, die besser sind? Und wie kommen wir da wieder raus?
Für Alexander K. war es eine Befreiung, aus Österreich nach England und später in die USA zu ziehen. Endlich hatte er das Gefühl, nicht schief angeschaut zu werden, wenn er hervorragende Leistungen in Schule und Studium erbrachte. Endlich traf er Gleichgesinnte, die ebenfalls stolz darauf waren, hundert Prozent zu geben. "In Österreich müssen sich sehr gute Schüler fast ein bisschen verstecken. Sie gelten sehr schnell als Streber. Im Englischen gibt es dafür gar kein Wort."
Nur das Nötigste machen, sich irgendwie durchwursteln, ja nicht auffallen. Das gilt vielen österreichischen Schülerinnen und Schülern immer noch als beliebte Strategie, um die Schulzeit hinter sich zu bringen. Das Muster fällt aber auch in anderen Bereichen auf: Der Deloitte Radar, eine Studie des Beratungsunternehmens, wies dem Wirtschaftsstandort Österreich 2023 Stagnation im Mittelfeld aus. In mehreren internationalen Rankings, die Deloitte zusammenführte, landet Österreich rund um den zehnten Platz. Nicht ganz schlecht, aber eben auch nicht Weltspitze. Bei internationalen Vergleichsstudien im Schulbereich ist Österreich ebenfalls meist im Mittelfeld zu finden, und das, obwohl überdurchschnittlich viel Geld in den Bildungssektor investiert wird. Als Anreiz zu Leistungssteigerung werden solche Befunde aber selten interpretiert. Meist scheinen die politisch Verantwortlichen froh, dass es gerade noch gutgegangen ist. Ein Platz in der Mitte reicht, scheint es, vollkommen aus oder wird gern wortreich zu einem Erfolg umgedeutet. Aber warum? Hat Österreich ein Problem mit Mittelmäßigkeit? Und schadet diese nationale Neurose auf lange Sicht dem Land?
Die Ursachensuche ergibt ein komplexes Bild. Möglicherweise handelt es sich um eine Spätfolge der Erziehungstraditionen aus der Habsburgermonarchie. Vielleicht entstammt die Orientierung an der Mittelmäßigkeit auch direkt der katholischen Überhöhung des Leidens. Nach dem Motto: Wenn es dir gut geht, hast du etwas falsch gemacht. Die Philosophin Lisz Hirn identifiziert in einem Gastbeitrag für News vier Faktoren, die sie für entscheidend hält. Darunter die österreichische Neidkultur, "die zweifellos schon immer ein fruchtbarer Nährboden gewesen ist, um beispielsweise außergewöhnliche bzw. ungewöhnliche Experimente oder Leistungen herunterzuspielen oder gar lächerlich zu machen", wie sie schreibt.
Gesellschaftliche Leitlinie
Nicht alles in Österreich ist mittelmäßig. Auf heimische Unternehmen treffe die Mittelmaß- Diagnose beispielsweise nicht zu, sagt Gerald Loacker, Nationalratsabgeordneter, Wirtschaftsund Sozialsprecher der Neos. "Wir haben viele Spitzenunternehmen, die in ihren spezifischen Feldern international weit vorne sind. Ich sehe das Mittelmaß eher als gesellschaftliche Leitlinie. Alles, was darüber liegt, wird schief angeschaut." Für das tendenziell leistungsfeindliche und obrigkeitshörige Klima, das er in Österreich wahrnimmt, macht Loacker mehrere Gründe aus. Mangelnde Transparenz sei einer davon. "Warum werden zum Beispiel Fehlerquoten in Spitälern nicht öffentlich gemacht? Das ist in anderen Ländern üblich. Damit ich weiß, wo ich mit meiner Knieoperation am besten aufgehoben bin. Aber sichtbar machen und vergleichen, das mögen wir in Österreich nicht so gern."
In Österreich unterliege man dem Denkfehler, meint Loacker, "man würde damit jemandem etwas wegnehmen. Die Leute gehen davon aus, es gibt einen fixen Kuchen. Sie sehen nicht, dass, wenn zum Beispiel ein Unternehmen wächst, rechts und links alle mitprofitieren. Auch die Schimpferei über Mateschitz und dessen Reichtum ist so ein Denkfehler. Wenn er gesagt hätte, ihr Österreicher könnt mich mal, ich zahle meine Steuern woanders, hätten wir jetzt ganz vieles nicht, speziell in den Gemeinden, die ihm ein Herzensanliegen waren."
Für einen "unterschätzten Faktor" hält Loacker die Rolle der Parteien. "In Österreich haben die Parteien einen viel größeren Zugriff auf Ihr Leben als in anderen Ländern. Der Bürger lernt früh: Was bei uns passiert, entscheiden ganz andere als ich. Daher muss ich mich auch nicht anstrengen. Wenn ich ein nettes Grundstück am See in Wien will, muss ich bei der SPÖ sein, und wenn ich ein nettes Grundstück in einer Dorfgemeinde will, bei der ÖVP. Sie lernen, dass man die Richtigen kennen muss, um etwas zu bekommen, und nicht, sich anzustrengen."
Diese Orientierung am Mittelmaß, meint Loacker, gefährdet mittelfristig die Zukunft Österreichs. "Wenn wir es nicht schaffen, eine Kultur zu fördern, in der es sich lohnt, sich anzustrengen, dann gehen wir diesen Weg des Mittelmaßes. Und Mittelmaß bedeutet immer Abstieg. Ich glaube, wir gehen den Weg von Argentinien, und das schneller als gedacht. Wir haben einen gewaltigen Staatssektor, der immer noch wächst. Steigende Staatsverschuldung, ein Pensionssystem, das völlig aus dem Ruder läuft. Durch diese Mischung aus Korruption und Parteiklüngel einerseits und Verschuldung und Bürokratie andererseits wirtschaften wir das Land in einem irren Tempo herunter." Andere Länder strengen sich an, "weil sie sehen, dass es etwas zu gewinnen gibt. Dazu sind wir halt auch zu saturiert. Wir realisieren gar nicht, dass wir Wohlstand verkonsumieren. Wir bauen nichts mehr auf, wir verbrauchen Substanz. Aber ich als Politiker darf ja gar nicht sagen, dass ich mir wünsche, dass sich die Leute anstrengen. Sonst bin ich wieder der ,Asozialsprecher'."
"Hauptsache, mitschwimmen"
Nicht nur in wirtschaftlicher, auch in Bildungshinsicht orientiert sich Österreich gerne an der Mitte. Julia D. lebte jahrelang mit ihrer Familie im Ausland, die Kinder besuchten dort eine internationale Schule mit ganzheitlichem Ansatz. Die Rückkehr ins österreichische Schulsystem war für ihren 16-jährigen Sohn ein Schock, erzählt sie. Es stand auf einmal nur noch "Textbook Learning" auf dem Programm, kein Projektunterricht, kein Fokus auf Persönlichkeitsentwicklung, keine Anerkennung für besondere Leistungen. "Sein Eindruck war: Es ist einfach nur Schule, es steht kein größeres Konzept dahinter. Für den ausgezeichneten Erfolg, den er sich im Laufe des Schuljahrs erarbeitet hatte, bekam er einen Zettel und einen Kugelschreiber in die Hand gedrückt. Es schien allen irgendwie egal zu sein. Natürlich freut sich der Lehrer, wenn du gut bist, aber es wird nicht besonders gefördert. Man wird nicht zu Spitzenleistungen angetrieben. Hauptsache, du schwimmst mit."
Der Autor Andreas Salcher gehört zu den Gründern der Sir-Karl-Popper-Schule in Wien, einem -öffentlichen -Schulversuch zur Förderung hochbegabter Kinder. "Uns ist damals enormer Widerstand entgegengeschlagen", erinnert er sich, "und zwar aus allen Parteien. Heute feiert die Popper-Schule ihr 25-jähriges Jubiläum und gilt weltweit als eine der besten Schulen in diesem Bereich." Intellektuelle Hochbegabung, so Salchers These, werde in Österreich immer noch skeptisch gesehen, im Unterschied zu sportlicher oder künstlerischer Hochbegabung.
Generell sei das österreichische Bildungssystem so organisiert, "dass es Minderleister unter den Lehrpersonen fördert und schützt und Spitzenlehrerinnen oder Spitzenlehrer nicht unterstützt, sondern sie sogar behindert", sagt Salcher. "Das beginnt schon bei der Bezahlung. Die einzigen zwei Kriterien, die dabei eine Rolle spielen, sind das Dienstalter und das Dienstrecht. Die individuelle Leistung eines Lehrers spielt für seine Karriere und seine Bezahlung überhaupt keine Rolle. Es gibt für ihn auch keine Aufstiegschancen. Die vielen wirklich leistungsbereiten Lehrer und Direktoren werden in Österreich eher als Störfaktoren betrachtet, die Unruhe ins System bringen. Ich kenne viele junge Lehrer, die mir erzählt haben, dass sie nach drei, vier Wochen von erfahrenen Lehrkräften zur Seite genommen wurden, die ihnen sagten:,Du brauchst dich nicht so anstrengen, es bringt nichts, und irgendwann geht dir eh die Kraft aus.'"
Auch der Unterricht orientiert sich in Österreich an der Mitte, meint Bildungsforscher Salcher. "Man muss die Lehrer verstehen. Sie müssen ja schauen, dass möglichst viele Kinder mitkommen. Aber die sehr Begabten langweilen sich. Und diejenigen, die zum Beispiel in Mathematik Schwierigkeiten haben, sind überfordert. Was ist die Lösung? Wir müssen endlich aufhören, zentrale Lehrpläne über alle Kinder drüberzustülpen. Kinder sind völlig unterschiedlich, und echte Individualisierung wäre in Zeiten der Digitalisierung längst möglich."
Dass Mittelmäßigkeit den Österreichern quasi in die DNA eingeschrieben sei, glaube er dagegen nicht, sagt Salcher. "Für ein kleines Land haben wir in den letzten Jahren immerhin drei Nobelpreisträger hervorgebracht, und Spitzenwissenschaftler wie Markus Hengstschläger und Josef Penninger sind für mich weitere Anwärter. Aber die Spitze ist in Österreich sehr spitz. Es gibt viel Mittelmaß und einen großen Bereich, der unter dem Mittelmaß liegt."
Begabte Kinder, die sich in den Schulen langweilen, Unternehmen, die in Österreich nicht die Rahmenbedingungen vorfinden, die sie bräuchten, um zur Weltspitze aufzuschließen, und Politiker, die lieber den Kopf in den Sand stecken und sich den Status quo schönreden, statt Maßnahmen zu setzen: Das ergibt in Kombination mit dem Mittelmaß "als gesellschaftlicher Leitlinie", wie sie Neos-Politiker Loacker diagnostiziert, eine toxische Mischung.
Der Genetiker Markus Hengstschläger beschäftigt sich seit Jahren mit den Themen Exzellenz und Talenteförderung. Auch er sieht die Orientierung am Durchschnitt in Österreich als Problem. "Wir geben in diesem Land viel Geld für Forschung und Bildung aus. Wir haben eine hohe Lebensqualität. Aber bei den Innovationsrankings, die regelmäßig veröffentlicht werden, gehören wir nicht zur Weltspitze. Und das hängt auch damit zusammen, dass wir öfter aus dem Durchschnitt raus müssten, um Besonderes zu leisten." Das, sagt Hengstschläger, sei nicht nur wichtig, "weil es der Staat Österreich braucht", sondern auch ein wichtiger Teil der Persönlichkeitsentfaltung. "Dieses Besondere ist dann ein individuelles Merkmal, Teil einer Identität, eine Persönlichkeitskomponente. Und man muss auch das Selbstbewusstsein entwickeln, darauf stolz zu sein."
Exzellenz, wie Hengstschläger sie versteht, bedeutet nicht (nur) die Förderung einer kleinen Gruppe Hochbegabter. "Jeder Mensch kann Elite sein. Der eine im Handwerk, der andere im Sport, der Dritte in der Musik, der Wissenschaft oder der Pflege. Dabei spielt aber auch Motivation eine Rolle. Das ist mir ganz wichtig. Warum? Ich bin Genetiker. In diesem Land sagt man noch viel zu oft, Talent hat man oder man hat es eben nicht. Aber Menschen sind bei ihren Talenten und Begabungen nicht auf ihre Gene reduzierbar. Das sind maximal Bleistift und Papier, die Geschichte schreibt jede und jeder selbst. Das bedeutet: Wenn wir uns aus dem Mittelmaß hervorheben wollen, müssen wir die Leute auch motivieren und es ihnen ermöglichen, etwas aus ihren Talenten zu machen." Und, meint Hengstschläger, auch kreatives Denken fördern. "Ich würde damit aufhören, jungen Menschen den Lösungsfindungsprozess dauernd abzunehmen. Wir sollten es ihnen ermöglichen, eigene Lösungen zu finden. Wir müssen es in den Schulen, in den Familien und auch in den Unternehmen wieder verankern, dass die junge Generation motiviert wird, mit eigenen Ideen zu kommen. Egal, ob du Koch oder Wissenschaftlerin bist. Aber komm mit neuen Ideen. Wer laufend neue Ideen ausprobiert, setzt sich vom Mittelmaß ab und bringt automatisch Lösungsvorschläge für neue gesellschaftliche Herausforderungen ein."
Ungerechtigkeit und Ungleichheit
Der Österreicher Alexander K. lebt und arbeitet mittlerweile seit vielen Jahren als Analyst in den USA und fühlt sich wohl in einem Umfeld, "in dem es respektiert und nicht kritisiert wird, wenn jemand viel Zeit investiert, um einem Ziel näher zu kommen". Er sieht aber auch die Schattenseiten des amerikanischen Systems. "Wenn man es bis zum Extrem lebt, ist es auch nicht gut. Es gibt eine große Grauzone zwischen positiver Zielstrebigkeit und zu viel Ehrgeiz. Und per Definition muss es auch Leute geben, die unter dem Mittelmaß sind. Wenn man den Menschen aber eintrichtert, dass sie nur etwas erreicht haben, wenn sie an der Spitze sind, führt das zu Ungerechtigkeit, Ungleichheit und langfristig zu Unzufriedenheit in der Bevölkerung."
Erstrebenswert wäre vielleicht etwas in der Mitte. Kein brutaler Ellenbogenehrgeiz, aber auch keine Fetischisierung des Mittelmaßes, wie sie in Österreich nach wie vor praktiziert wird. Allein schon, um Menschen wie Alexander K. davon abzuhalten, ihr Talent und ihren Ehrgeiz in den Dienst anderer Volkswirtschaften zu stellen. Er sagt: "Ich glaube schon, dass Österreich diese Orientierung schadet. Wenn es keine Strukturen gibt, um die besten Leute zu pushen, besteht die Gefahr, dass diese Leute ins Ausland gehen. Oder dass sie aufgeben und nur 80 oder 90 Prozent geben. Damit kann man in gewissen Gebieten aber einfach nicht weltführend sein."
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 50/2023 erschienen.