Es sind die Stille, die einzigartige Tier-und Pflanzenwelt sowie die Naturgewalten, die Wolfgang Schöner in ihren Bann gezogen haben. Sobald der Geograf und Direktor des Austrian Polar Research Institut (APRI) von der Arktis spricht, sind seine Faszination und Leidenschaft für diese abgelegene und unwirtliche Region unmittelbar spürbar.
Erst vor Kurzem von einer Forschungsexpedition in Nordgrönland zurückgekehrt, zieht sich Schöner nun seinen dicken Neoprenanzug an, um Messungen im ostgrönländischen Gletscherfluss durchzuführen. Die Temperatur liegt knapp über dem Gefrierpunkt, die Strömung ist stark und das Wasser braun vom Sediment, das der schmelzende Gletscher mit sich reißt.
Vorsichtig tastet sich der Forscher bis zur Mitte des Flusses vor, um Daten über Wasser- und Sedimentmenge zu sammeln. Sie dienen als Grundlage dafür, um letztlich den Klimawandel besser zu verstehen.
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Zwischen Felsen und Eisbergen
Die Arktis ist vom Klimawandel besonders betroffen. Bereits jetzt erwärmt sich die Polarregion im Vergleich zur übrigen Welt drei-bis viermal so schnell. Seit den 1990er-Jahren verliert der grönländische Eisschild, der mit seiner Ausdehnung von rund 1,8 Millionen Quadratkilometern rund 81 Prozent der Insel bedeckt, rasant an Masse. Mit gravierenden Folgen: "Durch das zusätzlich schmelzende Eis steigt der weltweite Meeresspiegel jedes Jahr um sieben Millimeter", erklärt Wolfgang Schöner.
Die Messstelle befindet sich zwischen dem Mittivakkat-Gletscher und der neuen Polarforschungsstation der Universität Graz. Die Station liegt im Sermilik-Fjord und ist per Boot erreichbar. Hinter dem Gebäude ragen die steilen, felsigen Berge Ostgrönlands auf, die weiter im Landesinneren Höhen von weit über 3.000 Metern erreichen. Im Meer vor der Station treiben Eisberge vorbei. Von Zeit zu Zeit zerfallen sie mit ohrenbetäubendem Knall. Eigentlich hätte die Station bereits in Betrieb gehen sollen. Doch in Grönland ist vieles anders. Stress und Termindruck sind den Menschen fremd, und das Wetter spielt eine entscheidende Rolle. Bei starken Stürmen kann niemand ins Freie gehen. Zudem sind heuer aufgrund der höheren Temperaturen im Sommer besonders viele Eisberge von den Gletschern abgebrochen. Das Transportschiff mit den noch benötigten Baumaterialien kam nicht bis zur Polarstation durch.
FORSCHUNG
Arktische Stürme, schmelzendes Eis
Bis zu 20 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sollen ab Frühjahr 2024 in der Sermilik-Station forschen. Ein Fokus liegt dabei auf der Reaktion der kleinen Gletscher (wie z. B. des Mittivakkat-Gletschers nahe der Station) sowie des grönländischen Eisschildes auf den Klimawandel. Weiters wird die Auswirkung des Sedimenttransports durch die schmelzenden Eismassen auf die Fjordregionen untersucht.
Gefährliche Piteraqs
Zusätzlich wird ein Phänomen mit unmittelbarer Auswirkung auf die Einheimischen erforscht: An der Ostküste Grönlands treten immer sogenannte Piteraqs, heftige Stürme, die auf dem Eisschild entstehen, auf. Die Grazer Forscher wollen herausfinden, ob diese infolge des Klimawandels häufiger und/oder stärker werden. Angedacht ist auch, Forschende aus anderen Fachrichtungen, wie z. B. Meeresökologie, an die Station zu bringen. Wichtig sind überdies internationale Kooperationen, wie mit der in der Polarforschung renommierten Aarhus University (Dänemark). Mehr Infos: https://sermilik-station.uni-graz.at, www.polarresearch.at
324 Kilometer/Stunde betrug die höchste Windgeschwindigkeit, die ein Piteraq in Tasiilaq erreichte. Der Sturm fegte am 6. Februar 1970 über den Ort und zerstörte große Teile von ihm
Private Spende für den Bau der Station
Ausschlaggebend für den Bau war die 1,6-Millionen-Euro-Spende von Christian Palmers. Der frühere Unternehmer lebt von der Öffentlichkeit zurückgezogen und entdeckte auf seinen Reisen die fragile Schönheit der Arktis. "Ich konnte mir früher nicht vorstellen, was an den Polarregionen so besonders sein soll. Viel Eis, viel Schnee -und das war es", erinnert er sich zurück. Doch das änderte sich bei seinem ersten Besuch der Region grundlegend: "Die Gegend langweilte mich ganz und gar nicht. Im Gegenteil: Ich war extrem fasziniert." So fasziniert, dass sich der 81-Jährige zum Ziel setzte, mehr Menschen von der Wichtigkeit der Polarregionen und dem Kampf gegen die Klimaerwärmung zu überzeugen.
"Mir war klar, dass man über wissenschaftliche Artikel das Interesse der Menschen kaum wecken kann, da sie zu komplex sind", sagt er. Daher beschloss Palmers, mit einer Spende den Bau einer österreichischen Forschungsstation zu unterstützen. Denn: "Ein Haus weckt Emotionen und damit das Interesse an der Sache."
Nach seinem Entschluss recherchierte Palmers, wer zu den führenden Polarforschern Österreichs gehört -und stieß auf Wolfgang Schöner. Die beiden trafen sich mehrmals und es entstanden in den vergangenen Jahren gemeinsam mit Peter Riedler, dem Rektor der Universität Graz, die konkreten Pläne zum Bau der Polarstation.
Mit Satellitentelefon und Gewehr
Die Natur so hoch im Norden ist rau und unberechenbar. Sobald die Forscher im Freien unterwegs sind, tragen sie stets Satellitentelefon und Gewehr bei sich, sollten sie einem Eisbären begegnen.
Wer in dieser unwirtlichen Gegend eine Polarstation betreiben möchte, ist zusätzlich auf die Hilfe und das Wissen der Einheimischen angewiesen. Für diese wiederum ist jedes neue Projekt in der Region eine Chance auf neue Arbeitsplätze und eine bessere Zukunft.
45 Minuten - bei schlechtem Wetter und hohen Wellen deutlich länger - dauert die Bootsfahrt von der Forschungstation nach Tasiilaq, dem größten Ort Ostgrönlands.
Die bunten Holzhäuser des Ortes sind in die schroffen Felsen gebaut. 2.000 Menschen leben hier, in den umliegenden Dörfern weitere 800. Es gibt zwei Supermärkte, Kindergärten, eine Schule für bis zu 15-Jährige sowie ein Krankenhaus mit zwei Ärzten. Schwere Notfälle müssen in die 680 Kilometer entfernte Hauptstadt Nuuk verlegt werden. Flugzeit: eine Stunde, 40 Minuten.
Ein Kunstrasenplatz mit Flutlichtanlage am Ortsrand ist Treffpunkt der jungen Burschen. Von früh bis spät in die Nacht wird Fußball gespielt. Sonst gibt es für die Bevölkerung wenig zu tun.
Tasiilaq: idyllischer Ort, soziale Probleme
500 Personen sind in der Verwaltung angestellt. Sie sind Lehrer, Feuerwehrleute, Polizisten oder zuständig, die Abwasserbehälter der Häuser zu entleeren. Es gibt kein Kanalnetz, dafür ein rotes Licht an der Außenseite der bunten Holzfassaden. Blinkt es, kommt der Tankwagen vorbei. 18 Prozent der Einwohner sind laut Hjordis Viberg allerdings arbeitslos. Viberg stammt von den Färöer-Inseln, übersiedelte nach Grönland und wurde von der Regierung in Nuuk als eine Art Chefin für die Ostküste entsandt. Seit 2012 lebt Viberg in Tasiilaq, wo sie sich "so willkommen wie nie zuvor" fühlte.
Die Ortschefin kennt die sozialen Probleme des Ortes und beschönigt sie nicht. "Wir haben zu wenig Wohnraum", erklärt sie. Oft leben mehrere Generationen und bis zu zwölf Menschen in einem der kleinen Häuser. In Kombination mit Arbeitslosigkeit, Alkoholmissbrauch und den langen, kalten Wintern eine verheerende Mischung: Gewalt und Missbrauch sind ein allgegenwärtiges und unübersehbares Problem. Schon in der Früh torkeln Betrunkene durch die steilen Gassen. Am Abend ertränkt eine Frau mit blutunterlaufenen, geschwollenen Augen und fehlenden Zähnen ihren Schmerz in der Bar des Ortes im Alkohol.
Die Bevölkerung von Tasiilaq ist auffallend jung. Tatsächlich sind 980 Menschen unter 18 Jahre alt. Doch auch hier sind die Zahlen, die Viberg nennt, schockierend: "Die Hälfte von ihnen wurde aus den Familien genommen und lebt im Kinderheim oder bei Pflegefamilien."
Der Osten Grönlands hat zudem die höchste Selbstmordrate weltweit. Vor allem viele junge Männer nehmen sich das Leben. "Es ist schwierig, wenn man nie aus dem Ort rauskommt und keinen Traum hat. Gleichzeitig haben die jungen Menschen kaum mehr Bezug zu ihren Wurzeln und sind nicht mehr stolz darauf. Sie sind zerrissen", versucht die Ortschefin eine Erklärung zu finden.
Suche nach Chancen für die Jungen
Viele Einwohnerinnen und Einwohner sind offensichtlich der Hoffnungslosigkeit verfallen. Gleichzeitig gibt es eine Gruppe an Menschen, die an ihren Ort glauben und den Kindern und Jugendlichen eine Zukunft geben wollen.
Da ist etwa Miki Nicolaisen. Er ist Chef des Wirtschaftsrats von Tasiilaq und einer der größten privaten Arbeitgeber. Bereits vor 50 Jahren errichteten seine Eltern eine einfache Unterkunft mit sechs Zimmern. "Im ersten Jahr kamen gerade einmal zwei Gäste", so Nicolaisen. Nach und nach wurden es mehr. Heute hat das Hotel Angmagssalik 40 Zimmer. Nicolaisens Traum ist es, "mehr Tourismus in den Ort zu holen, um den Lebensstandard zu heben":"Es muss etwas passieren. Wir benötigen dringend mehr Wohnraum." Auch ein kleiner Swimmingpool im Ort als Beschäftigungsmöglichkeit schwebt ihm vor.
Es sollen vor allem Gäste sein, die länger bleiben und Touren bei regionalen Anbietern buchen. Derzeit kommen vorwiegend Expeditionen. "Das ist nicht gut für uns", weiß der Hotelier, "sie bringen vom Guide bis zur Verpflegung alles selber mit."
TOURISMUS
Der Wunsch nach mehr Gästen
Gerade einmal 3.000 bis 4.000 Menschen besuchen jedes Jahr Ostgrönland. Der Wunsch nach maßvollem Wachstum im Tourismus ist vorhanden. Noch ist die Region kaum touristisch erschlossen. Jeder, der hierher reisen möchte, sollte ausreichend Zeit und Flexibilität mitbringen. Von Keflavik (Island) fliegt im Sommer täglich, im Winter wöchentlich eine kleine Maschine nach Kulusuk. Die Piste des Flughafens ist geschottert. Tower gibt es keinen, bei Bodennebel oder Sturm kann nicht geflogen werden. Von Kulusuk geht es dann per Helikopter oder Boot (je nach Wetter ein bis zwei Stunden) nach Tasiilaq.
Unterkünfte und Aktivitäten. Am Hügel mit Blick über den Ort liegt das Hotel Angmagssalik. Betreiber Miki Nicolaisen bietet auch Helikoptertouren an (arcticwonder.com). Das Red House wurde vor 30 Jahren vom Südtiroler Extremsportler Robert Peroni als Sozialprojekt gegründet. Es hat einfache Zimmer und wird gerne als Ausgangspunkt für Expeditionen genutzt. (the-red-house.com). Gasthaus oder Café gibt es im Ort keines. Tobias Ignatiussen und Line Kristiansen (sermilikadventures.com) bieten Bootstransfers und individuelle Touren an. Ignatiussen ist einer von zwei Menschen in Grönland mit der Genehmigung, mehrtägige Eisbärtouren zu führen.
Erfolgreicher Jäger und Vorbild
Line Kristiansen und Tobias Ignatiussen gehören ebenfalls zu den engagierten Menschen im Ort. Kristiansen, 2015 als Krankenschwester aus Dänemark gekommen, wollte ursprünglich nur ein halbes Jahres bleiben. Doch sie war fasziniert vom einfachen Leben, von der Schönheit der Landschaft sowie der Herzlichkeit und Offenheit der Menschen. Sie kam wieder - und blieb.
Ignatiussen wurde in einem Zelt 300 Kilometer südlich von Tasiilaq geboren. Er ist in und mit der Natur aufgewachsen und aufgrund seiner außergewöhnlichen Jagdfähigkeiten genießt er ein hohes Ansehen im Ort. Er ist auch einer von nur zwei Menschen in Grönland mit der Erlaubnis, mehrtägige Eisbärentouren anzubieten. 2019 gründeten Ignatiussen und Kristiansen gemeinsam Sermilik Adventures. Sie bieten Abenteuertouren für Touristen an. Immer wieder verbringen sie aber auch mehrere Tage mit schwierigen Jugendlichen in der Natur. "Tobias ist für sie ein Vorbild. Sie akzeptieren ihn und können von ihm viel lernen", sagt Kristiansen. "Die Jugendlichen sollen dadurch mehr Selbstvertrauen bekommen und stolz auf sich sein."
Ein "ungehobener Schatz"
Bei der Präsentation der Forschungsstation im Ort sind sich die Bewohner Tasiilaqs einig: Es ist ein tolles Projekt. Doch unmittelbar darauf stellen sie klar: "Wir haben schon viele Forscher gesehen. Sie kommen, grüßen freundlich und sind wieder weg. Was aber haben wir davon?"
Wolfgang Schöner ist häufig in Grönland unterwegs und hat diese Frage erwartet. "Wir wollen Relevantes beitragen," sagt er. Einerseits für den Ort. Und so wird besprochen, dass künftig einheimische Schulkinder die Station besuchen und dort Forschung erleben können.
Andererseits natürlich für die Wissenschaft. In den kommenden Jahren erwartet der Polarforscher neue, bedeutsame Erkenntnisse durch die Tätigkeiten in der Station. Denn Schöner ist überzeugt: "Forschungsmäßig ist Ostgrönland ein ungehobener Schatz."
Die Reise nach Grönland erfolgte auf Einladung der Universität Graz.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 37/2023 erschienen.