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Leonard Bernstein: Eine amerikanische Ikone

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Bradley Cooper als Leonard Bernstein

©2023 Netflix, Inc.
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Wer war der Dirigent und Komponist Leonard Bernstein, der das Musikleben des 20. Jahrhunderts prägte? Hollywoods Multitalent Bradley Cooper widmet ihm die cineastische Hommage "Maestro" und rückt dabei den Privatmann Bernstein ins Zentrum. News sprach mit Weggefährten: dem Philharmoniker Clemens Hellsberg, dem Bariton Thomas Hampson und der Dirigentin Marin Alsop

Steckbrief Leonard Bernstein

  • Name: Leonard "Lenny" Bernstein (geb. als Louis Bernstein)

  • Geboren am: 25. August 1918 in Lawrence, Massachusetts, USA

  • Gestorben am: 14. Oktober 1990 in New York City, USA

  • Beruf: Komponist, Dirigent und Pianist

  • Familienstand: war verheiratet mit Felicia Cohn Montealegre (1951 - 1978)

  • Kinder: Jamie Anne Maria (*1952), Alexander Serge Leonard (*1955), Nina Maria Felicia (*1962)

Springt er oder springt er nicht? Der Fotograf Alfred Schramek ist sicher, er wird es tun, denn er hat es immer getan, wenn er ins Haus kam. Er ist der Dirigent Leonard Bernstein, das Haus ist das Musikvereinsgebäude in Wien. Die Studentin, die in der Kammer des Fotoarchivs ihren Dienst versieht, reiht sich unter die Wartenden ein, will wissen, für wen das Portal der Einfahrt in der Bösendorferstraße geöffnet ist. "Gleich kommt der Lenny", belehrt sie einer der Haustechniker. "Der Lenny?" "Schau zum Beethoven", mehr verrät man ihr nicht. Eine Limousine fährt vor. Die Wagentür wird geöffnet, ein nicht sehr groß gewachsener Mann mit weißem Haar steigt aus, strebt auf die Beethoven- Statue zu, hält inne, springt an ihr hoch, deutet eine Umarmung an und entschwindet. Der Vorgang dauert nur wenige Sekunden. Leonoard Bernstein, der Jahrhundertdirigent aus Amerika, ist im Musikverein angekommen.

Eine Szene wie aus einem Hollywood-Film. Das Geschilderte hat sich indessen tatsächlich so zugetragen. Leonard Bernstein pflegte seine Beethoven-Begrüßung wie ein Ritual. Doch die Traumfabrik hat ihre eigenen Bilder. Auch für Dirigenten-Legenden wird keine Ausnahme gemacht, wie Regisseur und Protagonist Bradley Cooper mit dem cineastischen Künstlerdrama "Maestro" (derzeit im Kino und ab 20.12. auf Netflix) demonstriert.

Besessen von der Musik

Die Studentin von einst ist heute News-Redakteurin und befragt in dieser Eigenschaft Bernstein-Kenner: seine von ihm konsequent geförderte Schülerin Marin Alsop, derzeit Chefdirigentin des RSO in Wien, und den Opernsänger Thomas Hampson. Mit Clemens Hellsberg, dem ehemaligen Vorstand der Wiener Philharmoniker, besucht sie die Pressevorführung von Coopers Film im Wiener Gartenbaukino und bittet ihn um seine Einschätzung.

Bernstein hat sich der Musik ausgeliefert. Viele hielten das für Show

Clemens Hellsberg

"Hervorragend gespielt", lobt Hellsberg die Darstellung des Dirigenten durch den Schauspieler Bradley Cooper. Dennoch habe er, Hellsberg, eine Zeitlang gebraucht, um seine Erfahrungen mit dem wirklichen Bernstein auszublenden. Das sei aber nur natürlich nach solch einer intensiven Zusammenarbeit, mag die auch schon mehr als 30 Jahre zurückliegen. "Ich habe immer den wirklichen Bernstein vor mir gesehen, dessen Bild hat sich zunächst wie ein Schablone über die Leinwand gelegt", schildert Hellsberg den ersten Eindruck, der ein wesentliches Defizit beim Namen nennt: "Der Film vermittelt nicht, dass Bernstein seine außerordentliche Begabung als Komponist, Dirigent und Pianist nicht einfach zugeflogen ist. Er musste ständig daran arbeiten. Seinen Arbeitsfanatismus und seine Besessenheit von der Musik habe ich im Film vermisst", moniert Hellsberg.

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DER MAESTRO À LA HOLLYWOOD: Leonard Bernstein (1918-1990), dargestellt von Bradley Cooper im Film "Maestro"(derzeit im Kino, ab 20.12. auf Netflix)

 © IMAGO/ZUMA Press

Der Hollywood-Mann Cooper hatte selbst mit Josh Singer das Drehbuch verfasst, führte Regie und stellt Bernstein dar. Seinen Blick konzentriert er auf den Privatmann, hin- und hergerissen zwischen der öffentlichen Existenz als Ehemann und Familienvater dreier Kinder und seiner homosexuellen Neigung. Vom Schöpfer großer Werke wie "West Side Story", vom auf der ganzen Welt gefragten Dirigenten erfährt man in den zwei Stunden und neun Minuten nur sehr wenig.

Das sei allerdings kein Problem, denn Bernsteins Berufsleben und Karriere seien ausführlich dokumentiert, räumt Alsop ein. Ausführliche Interviews, in denen Bernstein auf seine Kindheit zurückblickt, seien ja jederzeit auf Youtube abzurufen.

Der Privatmensch Bernstein

Zum Zeitpunkt des Gesprächs hatte Marin Alsop den Film noch nicht gesehen. "Maestro" sei aber unstrittig Coopers mit großer Liebe finalisiertes Herzensprojekt. Dass sogar die Kinder das Projekt unterstützten, spreche doch für den Film, argumentiert die Dirigentin. "Ich hoffe, dass der Film bei vielen jungen Menschen, die Bernstein nicht live erleben konnten, das Interesse an dieser Künstlerpersönlichkeit weckt." Sie selbst war ein Kind von neun Jahren, als sie den Überlebensgroßen zum ersten Mal in einem Konzert erlebte. Das habe ihr Leben verändert. "Bernstein wurde mein Hero, mein Idol. Ich wusste, dass ich Dirigentin werden wollte."

Der Film zeigt zunächst keinen Helden und kein Vorbild. Ein betagter, gebrochener Mann intoniert am Klavier stockend eine melancholische Weise. Ein Fernsehteam zeichnet die Szene auf. Mit Tränen in den Augen bricht er ab und spricht ein lakonisches "I miss her". Gemeint ist seine Frau, die Schauspielerin Felicia Montealegre Bernstein. Der Satz wird zum Programm des Films.

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DAS PAAR IM LEBEN: Leonard und Felicia Montealegre Bernstein. Die um vier Jahre jüngere Schauspielerin ist die Mutter von Bernsteins drei Kindern. Das Paar trennte sich Mitte der Siebzigerjahre. Als sie an Krebs erkrankte, fanden sie einander wieder

 © IMAGO/Pond5 Images

Man sieht da zwei junge Männer, die sich ein Bett teilen. Der eine greift zum Telefon, springt auf, wirft sich einen Bademantel um und stürmt in eine Konzerthalle. Man schreibt den 14. November 1943, der Tag, an dem Bernstein der Welt bekannt wird. Der große Emigrant Bruno Walter, der das Konzert des New York Philharmonic Orchestra leiten sollte, ist erkrankt und Chefdirigent Arturo Rodzinsk irgendwo in Amerika eingeschneit. Nur Bernstein ist vor Ort, übernimmt ohne Probe und kann seinen ersten Triumph verbuchen.

In kurzen Szenen wird der Aufstieg des jungen Musikers beschrieben. Man sieht ihn komponieren, er lernt eine junge Schauspielerin namens Felicia Montealegre Cohn kennen, erzählt ihr von seiner Kindheit als Sohn eines strengen Vaters, der wollte, dass der Sohn den Handel mit Friseurbedarf übernimmt. Felicia und Leonard werden unzertrennlich, ohne dass er ihr gegenüber aus seiner Homosexualität ein Hehl machte. Er führt sie sogar in ein Theater, in dem drei als Matrosen verkleidete Tänzer zu den Klängen seines Stücks "Fancy Free" tanzen.

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DAS FILMPAAR: Bradley Cooper und Carry Mulligan als Leonard und Felicia Bernstein. Die frühen Jahre werden im Film in Schwarz-Weiß gezeigt. Den Darstellern werden Oscar-Chancen eingeräumt

 © 2023 Netflix, Inc.

Felicia und Leonard werden Eltern dreier Kinder, besuchen Partys, laden selbst Gäste ein. Er wendet sich zusehends Männern zu. Das Paar trennt sich und findet erst wieder zueinander, als sie an Lungenkrebs erkrankt.

Der Dirigent Bernstein

Eine einzige Szene nur zeigt den Dirigenten Bernstein, aufgenommen in der Londoner Ely Cathedral. Sechs Minuten und 21 Sekunden ist der Schauspieler Bradley Cooper dabei zu beobachten, wie er einen Ausschnitt aus Mahlers "Zweiter", der "Auferstehungssymphonie", dirigiert. In Interviews erklärte der gewissenhafte Mime ausführlich, wie er dafür sechs Jahre beim Dirigenten Yannick Nézet-Séguin studiert hat.

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DAS ORIGINAL: Leonard Bernstein (25.8.1918 - 14.10.1990) - "Er hatte einen ganz eigenen Dirigierstil, der nicht nachzuahmen ist", erinnert sich Clemens Hellsberg, ehemals Vorstand der Wiener Philharmoniker. Die Zusammenarbeit mit Bernstein war lang und intensiv. Viele Philharmoniker nennen sie die erfüllendste ihres Lebens

 © Wenzel-Jelinek, Margret / ÖNB-Bildarchiv / picturedesk.com

"Das hat er sehr gut gelernt. Aber man sieht, dass Bernsteins einen ganz eigenen Dirigierstil hatte, der nicht nachzuahmen ist", kommentiert Hellsberg. Für seinen überschwänglichen Stil sei Bernstein oft kritisiert worden. "Viele hielten das für eine Show. Aber er hat das genauso im leeren Saal gemacht. Er war eben so. Das ist eine sehr interessante Parallele zu Nikolaus Harnoncourt, der in der Probe auch nicht ökonomisch arbeitete. Ganz anders war Karajan, der völlig rational geprobt hat, dafür aber im Konzert alles losließ", vergleicht Hellsberg die drei Unsterblichen. Der Vergleich Bernsteins mit Harnoncourt mag auf einen ersten Blick seltsam anmuten. Doch auch Bariton Thomas Hampson sieht eine Parallele zwischen dem Schöpfer der "West Side Story" und dem Pionier der Originalklangbewegung. Beide hätten in einem ähnlichen Energiefeld agiert. "Beide verband diese unerschöpfliche Suche nach Wahrheit, nach Sinn. Beide verfügten über Humor und die Geduld, auf Leute einzugehen."

Viele warfen ihm vor, in seinen Emotionen zu baden, aber die waren im Takt

Nie werde er sein erstes Vorsingen bei Bernstein vergessen, erinnert sich Hampson. Das war 1986. Er hatte erfahren, dass Bernstein für eine Aufführung von Puccinis "Bohème" noch einen Marcello suchte und trug ein Lied von Mahler vor. "Aus 15 Minuten Vorsingen wurde eine Stunde, in der wir uns über Mahler unterhielten." Das war der Beginn einer faszinierenden künstlerischen Partnerschaft. "Ich bin mit seinen Aufnahmen im Fernsehen aufgewachsen. Als ich meine Mutter angerufen habe und ihr sagte, stell dir vor, ich mach ein Konzert mit Leonard Bernstein, hat sie das gar nicht glauben können. Er war eine amerikanische Ikone. Viele haben Bernstein vorgeworfen, dass er in seinen Emotionen bade", fährt Hampson fort, "aber die waren stets im Takt. Mit ihm zu musizieren, das war wie eine Reise durch eine Seelenlandschaft. Er war brillant."

Bernstein habe dem Orchester Freiheit gegeben, konnte aber jederzeit reagieren. "Seine Leidenschaft für die Musik war vom ersten Moment der ersten Probe bis zu letzten Sekunde des Konzerts in gleichem Maße zu spüren. Im Rückblick fasziniert mich am meisten, dass er in den Proben so intensiv war wie in den Konzerten. Bernstein hat sich der Musik ausgeliefert."

Der Humanität verpflichtet

Marin Alsop verweist darauf, dass der allseits Lenny Genannte auch sehr einschüchternd sein konnte. "Das war seine Art. Er hielt einen intellektuell ständig auf Trab. Da gab es keinen Moment Ruhe. Wenn er eines nicht leiden konnte, war das Dummheit. Alles betrieb er mit Leidenschaft, auch wenn er über Literatur oder Politik sprach, und er war immer authentisch. Wenn er die 'Pathétique' dirigierte, tauchte er tief in den Kosmos Tschaikowsky." Sie zählte zu den privilegierten jungen Musikern, die er förderte. Stimmt es tatsächlich, dass er eng umschlungen mit angehenden Dirigenten und Studenten in Discos oder sonstwohin verschwand, wie im Film gezeigt wird? Dazu könne sie nichts sagen, sagt Marin Alsop. Ihre Beziehung zu Bernstein sei einzig über die Musik definiert gewesen. Sie liebte die Besuche in seinem New Yorker Appartement im Dakota-Building in der 72. Straße in New York. "Das war das Haus, wo John Lennon gewohnt hat, wissen Sie das?" Ob einander die beiden Unsterblichen dort getroffen haben, kann sie nicht beantworten. Sie war glücklich, wenn sie seine Partituren studieren durfte.

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Hörenswert. Der Soundtrack zum Film stellt den Komponisten vor: Yannick Nézet-Séguin dirigiert Bernstein DG

 © Deutsche Grammophon

Und Coopers viel diskutierte Nasenprothese, die er sich applizieren ließ, um Bernstein ähnlich zu sehen? Ben Freeman, Kolumnist der "Jerusalem Post", hielt die für so verwerflich wie Blackfacing. Marin Alsop verweist auf die Stellungnahme der Bernstein-Kinder. "Es stimmt, dass er eine nette, große Nase hatte, und wir kommen damit gut klar. Wir sind sicher, dass auch unser Dad nichts dagegen gehabt hätte."

Viel wichtiger sei jedoch, auf einen im Film unbeachteten Verdienst hinzuweisen, schließt Marin Alsop: Bernstein war der Erste, der nach dem Zweiten Weltkrieg mit einem amerikanischen Orchester nach Russland reiste. "Er sprach von den Ähnlichkeiten der Amerikaner mit den Russen, und in Amerika flippten alle aus. Das war mitten im Kalten Krieg, kein anderer Amerikaner hätte so etwas gewagt." Nicht unerwähnt sollten auch seine Unterstützung für die Solidarność in Polen und seine Aufführung von Beethovens "Neunter" in Berlin nach dem Mauerfall bleiben, ein knappes Jahr vor Bernsteins Tod war das. "Er fühlte sich stets der Humanität verpflichtet", schließt die erfolgreiche und dankbare Schülerin. Womit noch lange nicht alles gesagt ist.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 49/2023 erschienen.

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