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Gute Gründe fürs Gehörzimmer

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Medien & Menschen - Gute Gründe fürs Gehörzimmer
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Selten schufen ORF-"Sommergespräche" widersprüchlichere Reaktionen. Die radikale Änderung des seit 42 Jahren bestehenden Formats beschert harsche Kritik von Interviewten, zwiespältige Einschätzung unter Experten und höchstes Kollegenlob.

Bereits den Auftakt hatte Beate Meinl-Reisinger "wie bei einem Verhör in einem Spionagethriller" empfunden. Eine Woche später fühlte sich Guido Tartarotti im "Kurier" angesichts des Interviews mit Werner Kogler "an ein DDR-Verhörzimmer erinnert". Sechs Tage danach beklagte Herbert Kickl auf Sendung den "Charme eines Stasi-Verhörzimmers". Das rief Kommunikationswissenschafter Fritz Hausjell auf den X-Plan. Der Austro-Präsident von Reporter ohne Grenzen twitterte: "Die Denunzierung des Journalismus in diesem Land geht weiter und erreicht unerträgliche Dimensionen." Den Tartarotti-Fehlpass an den FPÖ-Chef, auf den das insgesamt zutrifft, dürfte er übersehen haben. Zuvor hatte übrigens Armin Wolf gepostet: "Es ist das interessanteste Kickl-Gespräch geworden, das ich kenne." Mehr Lob geht nicht für Interviewerin Susanne Schnabl – als das kollegiale vom Doyen des Metiers.

Die genannten Einschätzungen sind eine Variante, wie die "Sommergespräche" seit jeher beurteilt werden: im Sinne von Geschmacksfragen. All das, was bei früheren Live-Ausgaben an technischen und naturbedingten Pannen kritisiert wurde, wird nun bei den Aufzeichnungen vermisst. Denn diese Änderung geht weiter, als es die immer neue Suche nach spannenden Locations oder mitunter die Hereinnahme zusätzlicher Fragesteller war. Aber nicht so weit, wie Kickl es wider besseren Wissens in den Raum gestellt hat: Es wird nicht zensiert. Die ungeschnittenen Interviews sind online verfügbar.

Wer statt Geschmäckern lieber objektive Grundlagen sucht, kann die "Sommergespräche" aufgrund von Quoten einschätzen. Zweimal Sebastian Kurz (mit Tarek Leitner 2017, Tobias Pötzelsberger 2019) und Heinz-Christian Strache (mit Hans Bürger 2015) lockten mehr als eine Million Zuschauer an. Die Reichweiten sind immer mehr in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Das zeigt schon, dass alle Top Ten nach 2014 waren und der aktuell Elftplatzierte Frank Stronach 2015 kurz den Rekord hielt.

Dieser Quoten-Fokus wird auch deutlich anlässlich des immer umfangreicheren Rundherums vom Vorspiel "Liebesg’schichten und Heiratssachen" (L&H) bis zur Analyse in der "ZIB2" und Diskussion auf ORF III. Nach diesen Kriterien waren Schnabls erste Gespräche kein Erfolg. Denn sie unterschritten die 500.000-Zuschauer-Marke und brachen gegenüber L&H um 40 Prozent ein. Während der Marktanteil sich nach Meinl-Reisinger für die "ZIB2" wieder komplett erholte, kam er bei Kogler nur wenig aus dem Tal. Doch auch diese scheinbar objektiven Daten trügen – und das nicht nur, weil die endgültig gewichteten Teletest-Zahlen erst nach zwei Wochen vorliegen und oft deutlich höher sind. Meinl-Reisinger musste wie im Vorjahr gegen eine Rita-Falk-Verfilmung in ORF 1 antreten, die dort immer für herausragende Publikumszahlen sorgen. Kogler erwischte nach dem Feiertag 2022 heuer den Vorabend zu Mariä Himmelfahrt. Die Kickl-Reichweite (vorerst 715.000) lag dann ohnehin wieder in früheren Dimensionen abseits von Wahl- und Corona-Jahren. 2018 unter Moderation von Nadja Bernhard und Hans Bürger kam Kurz auf 787.000 und Strache auf 688.000 Zuschauer.

Das Quoten-Kriterium ist aber untauglich zur Einschätzung, ob die erklärte Absicht von Schnabl und Sendungsleiter Matthias Schmelzer erreicht wurde – Tiefe und Intensität abseits der Tagesaktualität. Diese Intention war in den Gesprächen mit Meinl-Reisinger und Kogler zwar spürbar, die Umsetzung aber weniger überzeugend, weil beide vermeintlich spontane Offenheit quasi als Geschäftsmodell pflegen. Kickl hingegen verkörpert geradezu die spekulative Berechnung jedes Wortes. Er offenbarte durch Schnabls detaillierte Vorbereitung ein erschreckendes Gesamtbild seiner wahren Absichten, wie es Zugeständnisse an die durchschnittliche Aufmerksamkeitsdauer kaum vermitteln können.

Wie viel Quote das erzielt, muss für öffentlich-rechtliche Medien zweitrangig sein. Es geht vielmehr um Qualität kontra den allgemeinen Talk-Overkill. Wissenschafter würden das Ziel Erkenntnisgewinn nennen. Diesen für Zuschauer zu erreichen, ist guter Journalismus. Den hat Schnabl geliefert. Ihr Gehörzimmer wirkt auch als Wink mit dem Zaunpfahl: Das Kriterium Quote muss wieder hinter den Anspruch Qualität zurücktreten. Ein ORF für alle entsteht aus vielen einzeln gut bedienten Zielgruppen. Für die Politik heißt das: Weniger Show lockt geringeres Publikum, vermittelt aber mehr Inhalt. Für die Politikinteressierten ist das besser. Für die anderen gibt es täglich andere Sendungen.

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