Auf den ersten Blick sieht die Baustelle im zweiten Wiener Bezirk nahe dem Donaukanal eher unspektakulär aus. Von den fünf Bauteilen, die in den nächsten Jahren auf dem 22.900 Quadratmeter großen Areal errichtet werden sollen, ist noch nichts zu sehen. In der ansonsten leeren Baugrube ragen in regelmäßigen Abstand Bündel von Schläuchen aus dem Boden. In der Mitte steht einsam ein schlankes, hohes Gerät. Zweck? Unklar. Kein Bagger jedenfalls, auch keine Raupe.
Anita Angerer kann erklären, was hier passiert. Sie leitet die Gruppe Geothermie bei der Baufirma Porr. Der Gebäudekomplex, den der Projektentwickler UBM im "Leopoldquartier" hochziehen lässt, soll ausschließlich mit Wärme aus der Erde - ohne Spitzenabdeckung durch Fernwärme, wie sonst oft üblich -geheizt und gekühlt werden. Dabei kommen 75 Prozent der Energie aus dem Erdreich, der Rest wird in Form von Strom benötigt.
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Die Vorarbeiten dazu laufen jetzt. Und sie haben sehr viel mit dem seltsamen Gerät zu tun, das in der Baugrube entsteht. Es handelt sich um eine Geothermiebohranlage. In regelmäßigen Abständen werden 150 tiefe Löcher in die Erde gebohrt. Konstant zwölf Grad beträgt die Temperatur dort unten. Im Winter wird mit dieser Wärme geheizt - eine Wärmepumpe erhöht sie auf Raumtemperatur -, im Sommer gekühlt.
Ausgeglichene Bilanz
Angerer, mit Helm, festem Schuhwerk und gelber Warnweste auf der Baustelle unterwegs, erklärt: "Mit diesem Bohrgerät kann man bis zu 250 Meter tiefe Löcher herstellen, in die dann Kunststoffschläuche eingesetzt werden, die unten mit einer Verstärkung zusammengeschweißt werden. Dann wird der Ringraum, der durch die Bohrung entstanden ist, mit einem Geothermiemörtel ausinjiziert, sodass Kontakt zum Boden hergestellt wird. Durch diesen Bodenkontakt kann man über das Wärmeträgermedium in der Sonde im Winter die Energie aus dem Erdreich entziehen und im Sommer überschüssige Energie aus den Gebäuden wieder ins Erdreich einbringen."
Übers Jahr gesehen, sagt Angerer, ist die Energiebilanz damit ausgeglichen. "Durch die Erdwärmesondenanlage wird auf dem Grundstück immer nur saisonal etwas verändert. Die im Winter entnommene Energie wird durch die Kühlung im Sommer wieder hinzugefügt. Der Untergrund wird durch eine ausgewogene Dimensionierung nicht ausgebeutet."
In der Errichtungsphase, sagt Angerer, ist die Erdwärmesondenherstellung vergleichsweise teuer. "Betrachtet man allerdings die Lebenszykluskosten des Gebäudes, rechnet sich die Geothermieanlage schnell, überhaupt bei einer Anlage, die zum Heizen und Kühlen verwendet wird. Mit den steigenden Energiepreisen von Strom und Gas wird es natürlich immer interessanter. Die Amortisationszeit wird immer kürzer. Weniger als zehn Jahre, wenn man heizt und kühlt." Entsprechend steige die Nachfrage. "Wir bauen jedes Jahr aus und kaufen Geräte dazu. Mit Jahresende haben wir acht Maschinen laufen. Damit setzen wir heuer etwa 50 Projekte um, mit insgesamt 700 Sonden." Ein schnellerer Ausbau sei schon aufgrund der langen Lieferzeiten der Bohranlagen nicht möglich, sagt Anita Angerer.
Und weil es gar nicht so einfach ist, geeignetes Personal zu finden. Denn das Bohren der Löcher für Geothermiesonden erfordert Fingerspitzengefühl. Nur die ersten 50 bis 70 Meter werden mit Stahlrohren gestützt, danach wird im freien Untergrund gebohrt. Der Bohrmeister entscheidet aufgrund des herausgeförderten Materials, wie lange diese Stützung durch die Hilfsverrohrung notwendig ist. Und es gilt, schnell zu sein, damit das Loch nicht zusammenstürzt und man die Sonde rechtzeitig einsetzen kann. "Manche lernen das sehr schnell und sind schon nach einem halben Jahr sehr gut", sagt Angerer. "Aber es dauert Jahre, um das ganze Spektrum der Geologie kennenzulernen und Erfahrungen zu sammeln."
Geothermie-Boom
Umweltfreundliche, unerschöpfliche Energie, die noch dazu unabhängig macht von politisch fragwürdigen Lieferanten: Die Idee, in der Erde gespeicherte Wärme für Heizzwecke oder Stromerzeugung zu nutzen, ist bestechend. Und in Österreich nicht ganz neu, erklärt Cornelia Steiner von der Geologischen Bundesanstalt: "Geothermie ist in Österreich schon seit den 1970er-Jahren ein Thema. 2008 gab es wegen der Energiekrise einen großen Boom bei der oberflächennahen Geothermie. Seit einigen Jahren zieht das Thema wieder an, vor allem seit dem Krieg in der Ukraine und den gestiegenen Gaspreisen."
Nicht nur große Neubauprojekte, auch Einfamilienhäuser können mit Geothermieanlagen beheizt und gekühlt werden. Mit ungefähr 30.000 Euro pro Anlage ist man dabei, sagt Steiner. Jedoch, Bohrfirmen und Installateure kommen derzeit an ihre Kapazitätsgrenzen. Bis Ende dieses Jahres sehe es überhaupt schlecht aus, sagt Cornelia Steiner. "Und dieser Bottleneck wird sich noch verstärken, weil man nicht so schnell Know-how aufbauen kann."
Dabei wäre es wichtig, die derzeitige Themenkonjunktur zu nützen. Denn Geothermie kämpft tendenziell mit einem Sichtbarkeitsproblem, sagt Steiner. "Das Spektakulärste ist die Bohrung. Dann verschwindet das Ganze in der Erde bzw. in einem Keller und man sieht nichts mehr davon. Das ist natürlich ein Vorteil, aber eben auch ein Nachteil, weil die Technologie nicht so im Bewusstsein der Menschen ist."
Bis 300 Meter Tiefe spricht man in Österreich von oberflächennaher Geothermie. Dabei werden eher geringe Temperaturen von bis zu 30 Grad zum Heizen verwendet. Alles, was darüber hinausgeht, fällt unter den Begriff tiefe Geothermie. Dabei wird heißes Wasser aus der Erde gefördert, mit dem -je nach Temperatur - Strom erzeugt oder geheizt werden kann. In Österreich ist eher Letzteres ein Thema. Im Steirischen Becken und im Molassebecken gibt es bereits ein paar Anlagen, die mit Erdwärme heizen. Besonders effizient ist dabei die kaskadische Nutzung, bei der von Schritt zu Schritt weniger Temperatur benötigt wird -am Anfang so einer Kaskade könnte also der hohe Energiebedarf eines Industriebetriebs, am Ende die Gebäudeheizung stehen. Und Geothermie wird in Österreich intensiv für Thermen genützt. Zwischen 1977 und 2018 wurden in Österreich 77 Thermalwasserbohrungen durchgeführt.
Doch insgesamt, sagt Cornelia Steiner, ist der Ausbau der tiefen Geothermie in Österreich noch sehr gering und liegt bei nur zehn Prozent. Um ihn zu forcieren, müssten die rechtlichen Rahmenbedingungen angepasst werden. "In Österreich gehört den Grundstücksbesitzern der Untergrund bis zum Erdmittelpunkt, damit haben sie ein ziemliches Vetorecht bei Bohrungen, die ja oft im Untergrund eine Kurve machen. Das sind Kleinigkeiten, die doch dazu führen, dass es sehr langwierige Genehmigungsprozesse gibt. Das gehört vereinfacht."
Heißes Wasser unter Wien
Ein Flasche Wasser und ein 3D-Modell des Untergrunds von Wien. Das ist alles, was derzeit von GeoTief zu sehen ist, einem Geothermie-Forschungsprojekt der Wien Energie. Das ehrgeizige Ziel: Im Jahr 2030 sollen bis zu 125.000 Wiener Haushalte mit umweltfreundlicher Wärme aus der Erde versorgt werden.
WIENER WÄRMEWENDE
Heißes Wasser unter der Hauptstadt
In rund drei Kilometer Tiefe wurden Thermalwasservorkommen entdeckt, die an die Oberfläche gepumpt und zur Dekarbonisierung des Fernwärmenetzes genutzt werden sollen. In drei Jahren könnte die erste Anlage in Betrieb gehen. Das Aderklaaer Konglomerat erstreckt sich unter den südöstlichen Teilen Wiens und dem angrenzenden Niederösterreich. Unter der Hauptstadt ist die Schicht besonders dick und tief.
Eine Wasserprobe und ein Modell, das klingt nach wenig und ist doch Ergebnis einer jahrelangen Forschungsphase, die noch heuer abgeschlossen werden soll. Eine Probebohrung vor zehn Jahren hatte noch keinen Erfolg gebracht. GeoTief baute auf den damaligen Erkenntnissen auf und konnte beweisen, dass das Aderklaaer Konglomerat -drei Kilometer unter dem südlichen Teil Wiens -eine wasserführende Gesteinsschicht ist. Beim Forschungstest konnten über 95 Grad Celsius Wassertemperatur gemessen werden. Ein wichtiger Partner, sagt Projektleiter Peter Keglovic, war dabei die OMV: "Die Kohlenwasserstoffindustrie hat im Wiener Becken schon sehr oft nach Öl und Gas gebohrt. Daher ist etwa auch die OMV ein Teil unseres Forschungskonsortiums, weil das ein wirklich großer Wissensschatz ist. Sie haben den Untergrund jahrzehntelang erforscht, und diese Expertise nutzen wir jetzt."
Wie soll die Gewinnung umweltfreundlicher Wärme in Wien genau funktionieren? Das heiße Wasser wird aus dem Aderklaaer Konglomerat, einer Schicht aus Gestein und Sand, die wie ein Schwamm mit Wasser vollgesogen ist, an die Oberfläche gepumpt. Die Wärme des Thermalwassers wird dann an das Fernwärmnetz abgegeben, das Wasser anschließend wieder in die Erde gepresst. "Nach menschlichem Ermessen ist es eine unerschöpfliche Energiequelle. Die Wärme kommt zu ungefähr 30 Prozent von der Erdentstehung, gespeichert im Erdkern, und zu 70 Prozent von natürlichen Zerfallsprozessen im Erdmantel. Die Wärme wird immer wieder generiert und steigt nach oben." Ein Vorteil, vor allem im urbanen Bereich, ist der geringe Platzbedarf. "Jeder sieht ein Windrad", sagt Keglovic, "aber bei der Geothermie sieht man nur eine kleine Halle, vielleicht 20 mal 30 Meter, wie ein kleines Heizwerk. Außerdem ist Geothermie grundlastfähig und eine preisstabile Energiequelle. Die Investitionen sind zwar hoch, aber die Betriebskosten dann sehr gering."
Sorgfältige Planung
Immer wieder machen Horrorgeschichten über Geothermie die Runde. Berühmtes Beispiel: die deutsche Stadt Staufen im Breisgau, die durch Fehler bei der Errichtung einer oberflächennahen Geothermieanlage schwere Schäden nahm. "Das ist mehr oder weniger ein Einzelfall", sagt Cornelia Steiner von der Geologischen Bundesanstalt. "Geothermie ist eine sehr sichere Technologie, aber wie bei allem muss man sorgfältig planen und durchführen."
Auch Peter Keglovic sagt: "Es ist immer ein geologisches Risiko damit verbunden, wenn man bohrt. Aber man kann dieses Risiko mindern, indem man im Vorfeld so viel wie möglich exploriert, und das ist genau das, was wir mit dem Forschungsprojekt gemacht haben. Das Risiko minimiert sich, indem man im Vorfeld in die Erkundung investiert. Genau so macht es die Öl-und Gasindustrie auch."
Ein großer Teil der Wiener Fernwärme stammt derzeit aus Gasheizkraftwerken. Geothermie soll der Gamechanger sein, der diesen Anteil bis 2040 deutlich drückt, ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur angestrebten Klimaneutralität. "Wenn alles nach Plan läuft", sagt Keglovic, "dauert es etwa drei Jahre, bis eine Geothermieanlage in Betrieb gehen kann. Die erste Anlage ist entscheidend für eine langfristige Nutzung der tiefen Geothermie. Da lernen wir viel über das Thermalwasservorkommen und können damit weitere Anlagen schneller umsetzten." Bis 2030 sollen 120 Megawatt durch Geothermie gewonnen werden. Dafür werde es mehrere Anlagen brauchen, die im südlichen Teil Wiens - vor allem in den Bezirken Donaustadt und Simmering -errichtet werden sollen. "Aber damit hört es nicht auf. Unter dem Aderklaaer Konglomerat gibt es weitere Vorkommen, die wir auch gerade erforschen."
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 16/2022 erschienen.