Die Weltgesundheitsorganisation WHO schlägt Alarm. Weltweit leidet fast eine Milliarde Menschen an Adipositas, also krankhaftem Übergewicht. Die Pharmaindustrie arbeitet an Abnehmmedikamenten. Die Gewinne auf diesem Sektor sind enorm. Doch Patientinnen und Patienten müssen die Behandlung selbst bezahlen. Soll die Krankenkasse übernehmen?
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Jahrelange Quälereien, Fastenkuren, Hungern, Sport, so weit möglich, dadurch dann wieder kaputte Gelenke – und kaum etwas abgenommen. Das ist der Leidensweg von Menschen, die an Adipositas, also krankhaftem Übergewicht, leiden. Scham, schiefe Blicke und dumme Sprüche – oft hören sie auch von den Ärzten "Essen Sie einfach weniger" – kommen dazu. Man nimmt eben nicht so "einfach" ab.
Etwas einfacher, wenn auch bei Weitem nicht leicht, soll es gehen, seit sogenannte Diätspritzen auf dem Markt sind. Der Wirkstoff Semaglutid, den diese enthalten, wurde ursprünglich für die Diabetesbehandlung entwickelt. Seit man allerdings weiß, dass er auch beim Abnehmen hilft, greifen auch jene zu, die nicht so viele Kilos zum Purzeln bringen müssen. Die Spritze wird zum "Lifestyle-Medikament" gehypt, das auch Robbie Williams oder Elon Musk anwenden. Ein Run setzt ein. Unerwünschte Nebenwirkung: Bei Ozempic, das die Entwicklerfirma Novo Nordisk ursprünglich für Diabetiker auf den Markt gebracht hat, kommt es zu Lieferengpässen. Das dänische Pharmaunternehmen bringt ein zweites Präparat mit dem gleichen Wirkstoff heraus: Wegovy. In Österreich gilt nun: Ozempic ist Diabetespatienten vorbehalten, Wegovy ist für Adipositaspatienten.
Klingt schlüssig. Wäre da nicht der Kostenfaktor. Am Beispiel einer Frau, die seit September 2022 erst Ozempic, dann Wegovy in der Dosierung 2 mg spritzt und bisher 37 Kilogramm abgenommen hat: Die von ihr benötigte Menge Semaglutid kostet als Ozempic in der Apotheke rund 290 Euro pro Monat, unter dem Namen Wegovy rund 540 Euro. Das muss sie, neben allen alltäglichen Fixkosten, erst einmal verdienen. Wäre der Erfolg nicht offensichtlich, würde sie aus Kostengründen aufgeben.
Die Spritze wirkt im Sättigungszentrum
Der Arzt Siegfried Meryn hat die Wirkung von Semaglutid an sich selbst ausprobiert. Er will wissen, wovon er spricht, wenn er es verschreibt. Er erklärt die Wirkung so: Semaglutid dockt an Rezeptoren des Hormons GLP-1 an, die in mehreren Organen des Körpers zu finden sind. GLP-1 wird von Zellen im Dünndarm ausgeschüttet, wenn wir etwas essen, und geht mit dem Blut in andere Organe über. Als Erstes wandert es in die Bauchspeicheldrüse, die dadurch angeregt wird, Insulin auszuschütten, das den Blutzucker senkt. Daher lag das erste Anwendungsfeld von Semaglutid in der Behandlung von Diabetes.
Später wurden weitere Effekte entdeckt: Über Rezeptoren in der Magenwand beeinflusst der Wirkstoff die Magenentleerung. Meryn: "Normalerweise dauert diese Entleerung nach einer Mahlzeit 25 bis 30 Minuten. Bei Anwendung von Semaglutid wird dieser Zeitraum auf rund 90 Minuten ausgedehnt. In dieser Zeit hat man keinen Hunger." Vor allem ein dritter Faktor sei es, der beim Abnehmen helfe: "Wir haben eine Darm-Hirn-Achse, das bedeutet im Gehirn sowohl ein Hunger- als auch ein Sättigungszentrum. Auch hier dockt das Semaglutid an. Stellen Sie sich das so vor: Sie haben sich ein feines Abendessen gemacht, freuen sich darauf, aber nach sechs, sieben Bissen sind Sie satt und lassen die Hälfte stehen."
Unterschiede in der Wirkung
Weit über tausend Patientinnen und Patienten habe er mit diesen Präparaten schon betreut, sagt Meryn. Die Dosierung und auch die medizinische Betreuung müssen individuell eingestellt werden. Manche würden die Wirkung schon bei 0,25 mg verspüren, manche erst bei höheren Dosen. Bei längerer Anwendung sei ein Gewichtsverlust von 15 bis 18 Prozent zu erreichen. In den USA und in Deutschland zum Abnehmen zugelassen sei auch Mounjaro, ein Präparat der Pharmafirma Eli Lilly mit einem anderen Wirkstoff (Tirzepatide), das 18 bis 22 Prozent Gewichtsverlust ermöglichen könne. Es ist in Österreich noch nicht erhältlich, aber für heuer angekündigt. Auf dem Markt ist zudem ein älteres Präparat von Novo Nordisk namens Saxenda, dieses muss täglich gespritzt werden, die anderen Produkte einmal pro Woche. Bei medizinischen Kongressen werde schon über die nächsten noch wirksameren Generationen (zum Teil orale, zum Teil mit drei Wirksubstanzen) an Abnehmmedikamenten gesprochen, berichtet Meryn.
Es geht nicht ohne Änderung
Einmal pro Woche beherzt zustechen reicht allerdings bei Weitem nicht, mahnt Meryn. "Die Patientinnen und Patienten müssen unbedingt ihren Lebensstil und ihre Ernährung umstellen, ihre körperliche Aktivität steigern und Krafttraining machen. Denn sonst nimmt man Muskelmasse ab. Das wäre fatal. Nur in dieser Trias ist der Einsatz der Spritzen medizinisch gerechtfertigt. Das sind wirkungsvolle Medikamente für Menschen, die deutliches Übergewicht haben und dadurch beträchtlichen gesundheitlichen Schaden nehmen. Das ist kein Lifestyle-Medikament, mit dem Promis schnell einmal sechs Kilogramm abnehmen. Wenn jemand mit diesem Wunsch zu mir in die Ordination kommt, sage ich, da sind Sie bei mir falsch."
Da es die Abnehmspritzen noch nicht lange gibt, gibt es auch nur wenige Aussagen darüber, wie sich eine langfristige Einnahme auswirkt, etwa ob die Wirkung nachlässt, weil sich der Körper daran gewöhnt. Was man weiß: welche Nebenwirkungen auftreten können. Kopfschmerzen, Völlegefühl, Aufstoßen, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall und Verstopfung werden da aufgelistet, aber auch ein Risiko für eine Entzündung der Bauchspeicheldrüse.
31 % mehr Umsatz verzeichnete das dänische Pharmaunternehmen Novo Nordisk im Jahr 2023
1 Mrd. Menschen leiden laut Studien der Weltgesundheitsorganisation an Adipositas. So viele wie noch nie
Ein ähnlich drastischer Gewichtsverlust lässt sich durch eine Magenverkleinerung herstellen. Auch hier ist die Nachfrage groß. Die Österreichische Gesundheitskasse berichtet auf ihrer Website, dass die Wartezeit für diese Operation, bei der der Magen auf Tennisballgröße gebracht und ein Bypass zum Dünndarm gelegt wird, bis zu einem Dreivierteljahr betrage. Damit eine solche OP auf Kassenkosten durchgeführt werden kann, gelten bestimmte Voraussetzungen. Der Body-Mass-Index (Quotient aus Körpergewicht und Körpergröße zum Quadrat, also kg/m2) muss über 40 liegen oder über 35, begleitet von einer schweren Erkrankung. Zudem muss der Patient fehlgeschlagene Versuche zur Gewichtsreduktion hinter sich haben. Zudem schreibt die Gesundheitskasse psychologische Beratung vor dem Eingriff vor. Und der Patient muss Nichtraucher sein. Dann bezahlt die Kasse den Eingriff. Bei der Spritze gibt es keinen Kostenersatz.
Was die Gesundheitskasse sagt
Die Österreichische Gesundheitskasse verweist auf Anfrage von News darauf, dass Ozempic in Österreich ausschließlich zur Behandlung von Typ-II-Diabetes zugelassen ist und nur in diesem Fall nach chefärztlicher Bewilligung auf Kassenkosten abgegeben wird. Wird der Wirkstoff zum Abnehmen verschrieben, sei das ein sogenannter "Off-Label-Einsatz", also außerhalb der eigentlichen Zulassung. So erklärt sich auch der Preisunterschied zwischen Ozempic und Wegovy. Ozempic ist "den Preisregularien des ASVG und der Verfahrensordnung zum Erstattungskodex unterworfen", schreibt die Gesundheitskasse. Der Abgabepreis wird mit dem Erzeuger von der Kasse verhandelt. "Für Wegovy kann das vertriebsberechtigte Unternehmen (das ist nicht der Erzeuger, Anm.) den Preis frei festsetzen. Der Preis für die gleiche Menge Wirkstoff ist um ein Vielfaches höher als bei Ozempic. Bei manchen Personen scheint eine hohe private Zahlungsbereitschaft zu bestehen."
Grundsätzlich fallen Mittel zur Gewichtsreduzierung in die Liste "Nicht erstattungsfähiger Arzneimittel", so die ÖGK weiter. Solche könnten nur in medizinisch besonders begründeten Fällen erstattet werden. Dazu müsste allerdings Novo Nordisk beantragen, in den österreichischen Erstattungskodex aufgenommen zu werden. Dann würden auch Preisverhandlungen beginnen. Einen solchen Antrag gebe es bisher allerdings nicht, so die ÖGK.
Mediziner Meryn wäre durchaus dafür, dass Adipositaspatienten die Spritzen auch auf Kassenkosten bekommen. "Übergewicht ist die größte Bedrohung der menschlichen Gesundheit im 21. Jahrhundert und mitverantwortlich für 80 Prozent aller chronischen Krankheiten. Menschen, die übergewichtig sind, werden stigmatisiert, haben es schwerer bei der Jobsuche, haben eine kürzere Gesundheitserwartung, eine kürzere Lebensdauer, ein höheres Risiko für Herzinfarkte, Schlaganfälle und Krebserkrankungen. Menschen, die ich in meiner Ordination sehe, sind verzweifelt. Also hören wir doch bitte auf, von einer Fett-Weg-Spritze und einem Lifestyle-Medikament für ein paar schicke Leute zu reden."
Allerdings weiß Meryn auch, warum Krankenkassen zögern, die Kosten für Abnehmspritzen zu übernehmen. Es gibt immer mehr Menschen, die unter Adipositas leiden. Laut einer WHO-Studie aus dem Jahr 2022 sind weltweit rund eine Milliarde Menschen stark übergewichtig, doppelt so viele wie in den 1990er-Jahren. Die Weltgesundheitsorganisation spricht daher sogar von einer Adipositas-Epidemie. In Österreich sind laut Statistik Austria 3,7 Millionen Menschen über 15 Jahre übergewichtig, 17 Prozent davon haben bereits Adipositas. Tendenz – trotz aller Sonntagsreden zum Thema Vorbeugung – steigend.
Sprich, es geht weltweit um einen Milliardenmarkt, in den immer mehr Pharmafirmen hineindrängen. Noch gibt es bei den Abnehmspritzen keine günstigeren Generika. Novo Nordisk konnte seinen Umsatz im vergangenen Jahr um 31 Prozent auf 33,8 Milliarden Dollar steigern.
Siegfried Meryn und Bianca-Karla Itariu beleuchten in "Schlank auf Rezept"* die Ursachen von Übergewicht und Mittel dagegen.
Schlank auf Rezept: Die Abnehmrevolution
Dieser Beitrag erschien ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 11/2024.
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