Tiefengeothermie ist ein wichtiges Puzzlestück der Energiewende. Sie macht die Wärmeenergie aus dem Erdinneren nutzbar.
In Wiens Fernwärmenetz soll sie schon bald das Erdgas als Hauptenergieträger ersetzen. Eine von sieben geplanten Anlagen wurde kürzlich eröffnet. Wie die Technologie funktioniert und welche Risiken bestehen
Ein schneidender Wind peitscht über die weitläufige Fläche am Rand der Wiener Seestadt Aspern. Er droht die Projektverantwortlichen von Stadt Wien, Wien Energie und OMV von der kleinen Bühne zu fegen, die dort vor einem großen Bohrturm aufgebaut ist. Passender wäre das Wetter für die Eröffnung eines Windparks – doch hier geht es um Geothermie. Eine Energiequelle, die sich nicht darum schert, was auf der Oberfläche passiert: Tief unter der Erde sind Wetter, Klima und auch geopolitische Verwerfungen nur Hintergrundrauschen.
Tiefengeothermie ist deshalb eine der Schlüsseltechnologien der Energiewende. So auch in Wien. In der Hauptstadt werden 460.000 Haushalte und Tausende Großkunden mit Fernwärme beliefert. Die dafür nötige Energie speist sich noch großteils aus Erdgas. Bis 2040 soll das anders werden: Wien will sein Fernwärmenetz nicht nur ausbauen, sondern auch endlich grün werden. Statt heute 42 Prozent will man in 15 Jahren 60 Prozent des Wärmebedarfs der Stadt mit klimaneutraler Fernwärme decken.
90 Millionen Euro
Investitionsvolumen plant das Joint Venture Deeep von Wien Energie und OMV für Wiens erste Tiefengeothermieanlage. Sie soll genug Wärmeenergie für 20.000 Haushalte liefern. Sechs weitere Anlagen sind geplant, insgesamt sollen so bis 2040 200.000 Haushalte versorgt werden – ein Viertel der Stadt.
Warmes Erdinneres, warme Wohnung
Unter der Erde steigt die Temperatur pro 100 Meter Tiefe um durchschnittlich drei Grad an. Etwa zur Hälfte liegt das an der Restwärme aus der Entstehung unseres Planeten, die immer noch in tief liegenden Gesteinsschichten gespeichert ist und langsam nach oben steigt.
Natürliche Radioaktivität ist die zweite große innere Energiequelle der Erde. In Erdmantel und -kruste gibt es Uran-, Thorium- und Kaliumvorkommen, deren fortlaufender radioaktiver Zerfall Wärmeenergie freisetzt – derselbe Prozess, der in Atomkraftwerken an der Oberfläche künstlich herbeigeführt wird. Insgesamt beträgt das Wärmeenergiepotenzial des Erdinneren weltweit 47 Terawatt – so viel wie 15.000 Atomkraftwerke.
Für kleine geothermische Projekte, etwa für die Beheizung von Ein- oder Mehrfamilienhäusern, reichen oft schon wenige Meter tiefe Erdsonden und ein geringer Temperaturunterschied zur Oberfläche. Darin zirkuliert eine Solelösung und erwärmt sich. Wärmepumpen machen den Temperaturunterschied nutzbar. Sie entziehen dem Gemisch die Wärmeenergie, bevor es wieder zurück in den Erdboden geschickt wird und sich dort erneut erwärmt.
Will man große Energiemengen aus der Erde holen, muss man tiefer gehen als 300 Meter. Hier sprechen wir von Tiefengeothermie.
Später Ertrag aus früherem Scheitern
Im Jahr 2012 wagte Wien den ersten Vorstoß in die Tiefengeothermie – und scheiterte scheinbar. Statt heißen Wassers förderte die Bohrung Erkenntnisse, die damals nicht direkt nutzbar schienen. Zwölf Millionen Euro Investitionsvolumen hatte man scheinbar in den Sand gesetzt. Damals ging man ein höheres Risiko ein: „Man wollte noch deutlich tiefer bohren, um an über 120 °C heißes Thermalwasser zu gelangen“, erklärt Stefan Hoyer, Geophysiker bei der Geologischen Bundesanstalt (GeoSphere Austria). Doch bei über 4.000 Metern stoppte der Bohrer. Statt des erwarteten porösen Dolomits stieß man auf hartnäckigeres Gestein. Das Unternehmen war damit vorerst gescheitert. Denn: „Die Vorgabe war damals, dass die Temperatur hoch genug sein muss, um direkt ohne Großwärmepumpe in das Fernwärmenetz einzuspeisen. Heute sieht die Sache etwas anders aus, auf dem Markt für industrielle Wärmepumpen hat sich viel getan.“ Heute kann man sich dank modernster Technik mit 95 °C begnügen – im Sommer sogar ohne Wärmepumpe.
Und auch an anderer Stelle hilft der Fortschritt: Durch neue seismische Verfahren habe man heute ein genaueres Bild davon, wie der Untergrund Wiens in diesen Lagen aussieht, sagt Karl Gruber, Geschäftsführer der Wien Energie, gegenüber News. Darum weiß man heute auch, dass die Bohrung von 2012 und die damit verbundenen Investitionen nicht vergebens waren.
Denn: „Im Jahr 2022 wussten wir, dass diese Bohrung das Aderklaaer Konglomerat durchstoßen hat. Dann haben wir gesagt, wir machen das auf und schauen, ob dort tatsächlich das Wasser drin ist, das wir heute mit unseren großen Wärmepumpen auch nutzen können.“ Theorie und Praxis stimmten überein, Wasser sprudelte aus dem Bohrloch. Daraufhin begann man mit dem Bau der ersten Tiefengeothermieanlage, die nun ihre Bohrtätigkeit begonnen hat.
Bisher steht am Standort im 22. Wiener Gemeindebezirk nur ein Bohrturm, daneben einige Container. Zuerst will man bis zum Thermalwasserreservoir bohren und vor weiteren Investitionen sicherstellen, ob Fördermenge und -qualität den Erwartungen entsprechen. Laut OMV-Vorstand Berislav Gašo ist man aber „ziemlich zuversichtlich“, dass die Anlage letztlich in Betrieb gehen kann.
Erdbeben möglich
Geothermieprojekte können zum Auftreten sogenannter induzierter Seismizität führen. Geophysiker Hoyer erklärt das so: „Durch die geothermischen Aktivitäten werden natürlich vorhandene Spannungen gelöst. Verkürzt könnte man sagen, die Spannung hätte sich wohl auch ohne menschliches Zutun irgendwann durch ein Beben abgebaut. Aber eben vielleicht erst in 1.000 Jahren.“
Induzierte Seismizität ist vor allem beim sogenannten Hot-Dry-Rock-Verfahren ein Thema. Dabei presst man Wasser in nicht ausreichend poröses Gestein in der Tiefe ein, vergrößert so bestehende Risse darin und schafft ein künstliches Thermalwasserreservoir. „Dabei entstehen selbstverständlich Erschütterungen, die auch spürbar sein können“, sagt Hoyer. So etwa bei einem Projekt in Basel, das 2010 nach mehreren kleinen Erdbeben aufgrund von Verunsicherung in der Bevölkerung abgebrochen wurde.
… aber nicht im spürbaren Bereich
In Wien muss kein Wasser künstlich eingepresst werden. Man nutzt schlicht das vorhandene. Dafür sei das Gestein bereits porös genug, erklärt Karl Gruber von Wien Energie. Trotzdem könne es während des Bohrvorganges zu nicht spürbaren, aber messbaren Erschütterungen kommen. Diese seien aber vernachlässigbar – was Geophysiker Hoyer und auch David Misch, Professor für Energy Geosciences an der Montanuniversität Leoben, bestätigen.
Umfangreiche geologische Studien und Modellierungen hätten ergeben, dass keine Gefahr bestünde, da der Abstand zwischen den geplanten Förder- und Injektionsbohrstellen und geologischen Störungen groß genug sei. GeoSphere Austria installierte außerdem ein System zur Überwachung der seismischen Aktivität während des Bohrens.
Insgesamt gehe man in Wien damit „über die üblicherweise in Hydrothermie-Projekten im internationalen Umfeld geforderten Sicherheitsmaßnahmen hinaus“, sagt Misch.
Bürokratie bremst
Außerhalb Wiens hat man das Potenzial der Tiefengeothermie schon länger erkannt. Zehn Anlagen mit einer thermischen Leistung von gut 90 Megawatt laufen bereits. Sie beheizen Wohnungen, und Industrieanlagen, erzeugen teils auch Strom per Dampfturbine. Ein prominentes Beispiel: Frutura, ein steirisches Unternehmen, züchtet in Bad Blumau mithilfe von Thermalwasser aus 3.500 Metern Tiefe ganzjährig Gemüse in Glashäusern.
Nur fünf Prozent des Potenzials würden momentan österreichweit genutzt, schätzt der Verein Geothermie Österreich. Grund dafür ist auch der bürokratische Aufwand. Experten fordern daher seit Längerem eine entsprechende Überarbeitung des Mineralrohstoffgesetzes: Nach aktueller Rechtslage müssen für die Förderung von Öl oder Gas deutlich geringere Auflagen erfüllt werden als für Tiefengeothermie-Projekte.