Lange Zeit völlig isoliert und eines der ärmsten Länder der Welt, entwickelt sich Bhutan zu einem Vorreiter im Klima- und Naturschutz. Es hat zudem die Zufriedenheit der Bevölkerung in der Verfassung verankert. Was sich westliche Länder in diesen Bereichen vom kleinen Himalaya-Staat abschauen könnten
Grünes Glück: ein kleines Land im Aufbruch
Seit vierzehn Jahren lebt Lama Nima im kleinen Kloster am Dochula Pass in Bhutan. Vom 3.100 Meter hohen Gebirgspass bietet sich an klaren Tagen ein unbeschreiblicher Blick auf die über 7.000 Meter hohen, noch unbestiegenen Gipfel des östlichen Himalaya.
Der Buddhismus war bisher fest verankert im Alltag der Bevölkerung Bhutans, und er ist es vor allem bei älteren Menschen bis jetzt. In den vergangenen Jahren bemerke er aber große Umbrüche, sagt Lama Nima: „Das Leben der Menschen ändert sich. Das Interesse der Jungen am Buddhismus nimmt ab.“
Religion und Spiritualität
Lange war das kleine, mitten im Himalaya zwischen China und Indien gelegene Königreich mit seinen gerade einmal 780.000 Einwohnerinnen und Einwohnern abgeschottet. Erst 1960 wurde eine erste Straße gebaut. Heute gibt es zwar Verbindungen in die größeren Städte, Täler und Regionen des Landes, und eine Verkehrsachse führt von Bhutans Hauptstadt Thimphu nach Indien. Doch nach wie vor gibt es Dörfer, die nur zu Fuß erreichbar sind.
Die Religion bot Erklärungen für Naturphänomene, glückliche Ereignisse und Schicksalsschläge. Jedes Dorf feiert zudem seine jährlich wiederkehrenden, mehrere Tage andauernden Feste, die auch für die Bevölkerung abgelegener Dörfer eine Möglichkeiten sind, zusammenzukommen.
100 Prozent Bio-Landwirtschaft
Bhutan zählte über Jahrzehnte zu den ärmsten Ländern der Welt. Im Dezember 2023 schaffte es schließlich den Aufstieg zu einem Land mittleren Einkommens, weshalb Österreich nach 34 Jahren die Entwicklungszusammenarbeit einstellte.
Das jährliche Durchschnittseinkommen beträgt auch heute gerade einmal rund 2.500 US-Dollar. Über 60 Prozent der Bevölkerung sind in der Landwirtschaft tätig. Es werden vor allem Reis, Chili, Äpfel, Kohl und Mais angebaut. Dazu werden Tiere wie Hühner und Kühe gehalten, die sich komplett frei bewegen und auf den Straßen spazieren.
Kommerzielle Landwirtschaft existiert bisher nicht. Der Großteil der Produkte wird für den Eigenbedarf benötigt. Was übrig bleibt, wird am Straßenrand verkauft oder an einen der Märkte in den größeren Dörfern geliefert.
Bhutan will jedenfalls zum Pionier in der Landwirtschaft werden. Pestizide und künstliche Dünger werden gänzlich verboten. Denn, so das Ziel: Bhutan, das erste Land weltweit mit einer zu 100 Prozent biologischen Landwirtschaft.
Nachhaltigkeitsabgabe für Touristen
Auch der Tourismus spielt eine bedeutende Rolle. 1974 wurden erstmals Reisen nach Bhutan erlaubt. 2023 besuchten rund 170.000 Menschen das kleine, einzigartige Land im Himalaya. Das Motto im Tourismus laute „High value, low impact“, sagt Kezang Choden, die in der Marketingabteilung des Departements of Tourism arbeitet. Man wolle keinesfalls Massentourismus, sondern es sollen Menschen kommen, die Bhutan und seine Bevölkerung respektieren und sich für Nachhaltigkeit, Kultur und Traditionen interessieren.
Um das sicherzustellen, wurde die Sustainable Development Fee, eine Nachhaltigkeitsabgabe, eingeführt. Jeder, der das Land bereisen will, muss 100 US-Dollar pro Tag bezahlen. Geld, das unter anderem ins Bildungs- und Gesundheitssystem sowie die nachhaltige Entwicklung fließe, erklärt Kezang.
Das Glück in der Verfassung
Eine weitere Besonderheit des Landes ist die Verankerung des Bruttonationalglücks in der Verfassung. Lange lautete daher der Werbeslogan, der Touristen nach Bhutan bringen sollte, „Happiness is a place“. Doch das wurde missverstanden, sagt Kezang Choden: „Wir wurden in den ausländischen Medien oft als das glücklichste Land der Welt bezeichnet. Wir haben aber nie für uns beansprucht, immer glücklich zu sein. Jeder – auch wir Menschen hier in Bhutan – haben manchmal schlechte Tage.“
Selbst Lama Nima ist nicht dauerhaft glücklich: „Der Buddhismus ist nicht nur Religion, sondern eine Lebensart, mit dem Ziel, einen Zustand des Glücks zu erreichen. Natürlich gibt es Tage, an denen ich aufwache und mich wütend oder traurig fühle.“ Aber er kennt Möglichkeiten, um wieder zufriedener zu werden: „Wenn ich meine negativen Gedanken in positive verwandle, fühle ich mich besser.“ Das erreiche er mittels Meditation oder Spaziergängen im Wald.
Kezang betont, das Bruttonationalglück sei vielmehr ein Instrument für die Regierung, um die Zufriedenheit der Bevölkerung zu messen. Damit werde ermittelt, welche Projekte in einzelnen Dörfern notwendig sind, um die Bevölkerung dort glücklicher zu machen. Das könne beispielsweise eine neue Gesundheitseinrichtung sein oder Hilfe bei Problemen mit Wildtieren, die es in Bhutan in einer unglaublichen Vielfalt gibt.
Artenvielfalt und Naturschutz
Durch die lange Abgeschiedenheit und die langsame Entwicklung gab es stets genügend Lebensraum für Wildtiere. Rund 70 Prozent der 38.394 Quadratkilometer Bhutans sind mit Wald bedeckt. Damit das so bleibt, wurde das kommerzielle Fällen von Bäumen verboten und in der Verfassung verankert, dass zumindest 60 Prozent des Landes bewaldet sein müssen.
Für Wildtiere – darunter Tiger, Elefanten, Leoparden, der Rote Panda, Affen und Bhutans Nationaltier, das Takin – wurde ein zusammenhängender Korridor an Naturschutzgebieten geschaffen. So sollen die Wildtiere ungestört umherziehen können.
Fernsehen und Internet
Am 2. Juni 1999 schenkte der König seinem Volk das Fernsehen. Seit 2003 gibt es Handys im Land. Heute besitzt so gut wie jeder in Bhutan eines. Es gibt keine Einschränkungen des Internets, sämtliche sozialen Medien sind frei zugänglich.
Auch Lama Nima nutzt sein Handy gerne. Er verwendet Facebook und WeChat. Wer die Reise auf den hohen Pass zum Kloster nicht auf sich nehmen wolle, könne ihn natürlich über diese sozialen Medien kontaktieren, betont er.
Mit dem Einzug des Internets begann sich das Land zu verändern. Die Statussymbole der westlichen Welt gewinnen zunehmend an Bedeutung. Und obwohl in Bhutan materielle Güter nach wie vor nicht an erster Stelle stehen, besitzen etliche Menschen hier die neuesten iPhones und tragen in der Freizeit Nike-Outfits statt traditionelle Tracht, die während der Arbeit nach wie vor Pflicht ist.
Die Pandemie als Innovationsmotor
Ein weiterer bedeutsamer Wendepunkt war für viele Menschen auch in Bhutan die Coronapandemie. Sie befeuerte die Unzufriedenheit, vor allem Junge wanderten massenweise nach Australien aus.
Der König nahm dies zum Anlass, eine zukunftsfähige Vision für das Land zu entwickeln: Bhutan als Vorreiter in den Bereichen Nachhaltigkeit, Innovation und Luxustourismus.
Mit „Believe“ wurde ein neuer Slogan kreiert. Er steht für eine optimistische Haltung und soll die Bevölkerung inspirieren, an sich selbst, an die tief verwurzelten Traditionen und an das Land zu glauben, sowie Touristen ansprechen. Auch ausländische Geldgeber soll er ermutigen, im Land zu investieren. Gleichzeitig wurden neue Projekte initiiert. So erwirtschafte Bhutan im Jahr 2023 durch Bitcoin-Mining mit der im Land gewonnene Wasserkraft 28,6 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts. Zudem verkündete der König, mit Gelephu Mindfulness City eine Stadt zu schaffen, die Vorbild für die restliche Welt sein solle.
Die „fünf Gifte“
Lama Nima hofft, dass die Menschen in Bhutan in Zukunft an ihren Grundwerten festhalten und die „fünf Gifte Gier, Hass, Unwissenheit, Egoismus und Neid“ nicht die Oberhand gewinnen. Denn, so der Lama: „Ich merke bereits, dass sich reiche Menschen nicht um Religion kümmern. Erst wenn sie Probleme haben oder krank sind, suchen sie Rat bei mir.“ Wahres Glück finde sich aber nicht im Überfluss, sondern im inneren Frieden und im Leben in Einklang mit der Natur.