Was WIFO und Fiskalrat erwartet haben, ist eingetroffen: Die Europäische Kommission erwägt die Eröffnung eines Defizitverfahrens gegen Österreich, denn das heimische Budgetdefizit entspreche nicht den Vorgaben Brüssels. News sprach mit Wirtschaftswissenschaftlerin Margit Schratzenstaller bereits im Vorfeld über die möglichen Auswirkungen eines solchen Verfahrens auf die Bevölkerung.
Alle rufen: Österreich muss sparen. Gleichzeitig wächst die Staatsschuldenquote. Wie wahrscheinlich ist es, dass gegen Österreich ein EU-Defizitverfahren eingeleitet wird?
Die Wahrscheinlichkeit eines Defizitverfahrens gegen Österreich ist hoch. Sowohl die Wifo- als auch die Fiskalrat-Budgetprognose erwarten, dass das Budgetdefizit mittelfristig die Maastricht-Obergrenze von drei Prozent des BIP überschreiten wird. Laut aktueller Wifo-Mittelfristprognose wird für heuer mit einem Budgetdefizit von 3,7 Prozent der Wirtschaftsleistung gerechnet, für 2025 mit vier Prozent. Bis 2029 dürfte das Maastricht-Defizit 3,7 Prozent des BIP nicht unterschreiten. Das macht es sehr wahrscheinlich, dass die Europäische Kommission ein Defizitverfahren einleitet.
Welche Auswirkungen hätte ein solches Verfahren auf den „normalen Bürger“?
Ein drohendes Defizitverfahren würde bedeuten, dass Österreich Konsolidierungsmaßnahmen ergreifen müsste, um wieder auf einen Budgetpfad zurückzukehren, der mit den EU-Fiskalregeln vereinbar ist. Konkret müssten Einsparungen erfolgen, die staatlichen Einnahmen erhöht werden oder eine Kombination aus beidem erfolgen. Wie „normale Bürger“ das zu spüren bekommen, hängt davon ab, welche konkreten Konsolidierungsmaßnahmen die Regierung setzt, also in welchen Bereichen gespart wird und/oder welche steuerlichen Maßnahmen gesetzt werden.
Was wäre das beste Szenario für Österreich, wenn es zu einem Defizitverfahren kommen sollte?
Das optimale Szenario für Konsolidierungsmaßnahmen umfasst strategisch geplante Effizienzreformen im öffentlichen Sektor, wie die Reform des Förder-, Gesundheits- und Bildungswesens, idealerweise eingebettet in eine Föderalismusreform. Kurzfristig könnten Steuererhöhungen zur Budgetkonsolidierung beitragen, da es schwierig sein dürfte, alle Einsparungen sofort umzusetzen, ohne die Konjunktur zu belasten.
Wie können Steueränderungen bei der Budgetverbesserung helfen und welche anderen Maßnahmen sind nötig?
Strukturell sinnvoll wären die Erhöhung von Lenkungssteuern (z. B. Mineralöl- oder Alkoholsteuer), die Abschaffung umweltschädlicher Steuerausnahmen wie des Dieselprivilegs und die Erhöhung der Grund- und Erbschaftssteuer. Durch gestärkte Prävention im Gesundheitswesen und mehr Ambition bei klimapolitischen Maßnahmen sollten künftige Ausgaben, etwa in Form von Strafzahlungen, vermieden werden. Das Paket muss soziale Ausgewogenheit und Geschlechtergerechtigkeit berücksichtigen und mit nachhaltigem Wachstum sowie Investitionen in Bildung, Kinderbetreuung, Klimaschutz und Digitalisierung kombiniert werden. Nach erfolgreicher finanzieller Stabilisierung sollte die Steuerbelastung auf Arbeit wieder gesenkt werden.
Und was wäre das schlimmste Szenario bei einem Defizitverfahren?
Wenn Massensteuern erhöht werden würden, die Wachstum und Beschäftigung dämpfen, wie Lohnsteuer und Sozialbeiträge beziehungsweise Lohnnebenkosten. Auch unstrategische, kurzfristige Einschnitte bei den Sozialausgaben wären aus sozialen Gründen problematisch. Es sollten außerdem Kürzungen in wichtigen Zukunftsbereichen vermieden werden: im Bereich Kinderbetreuung und Bildung, bei den Klimainvestitionen oder der aktiven Arbeitsmarktpolitik.
Was passiert, wenn Österreich die Auflagen eines Defizitverfahrens nicht einhalten sollte?
Länder, die die Auflagen eines Defizitverfahrens nicht erfüllen, haben mit finanziellen Sanktionen zu rechnen. Diese belaufen sich halbjährlich auf 0,05 Prozent des BIP bis zu einem Höchstausmaß von kumuliert 0,5 Prozent des BIP. Zusätzlich sind weitere finanzielle Sanktionen möglich, beispielsweise indem Mittel aus der Aufbau- und Resilienzfazilität, also dem Covid-Wiederaufbauprogramm der EU einbehalten werden.
Wurde schon einmal ein Defizitverfahren gegen andere Länder eingeleitet?
Bisher wurden schon öfter Defizitverfahren eingeleitet. Aktuell läuft gegen sieben Mitgliedsstaaten ein Defizitverfahren: Belgien, Frankreich, Italien, Malta, Polen, Slowakei und Ungarn. Es wurden allerdings noch nie finanzielle Sanktionen verhängt – im Rat, der darüber entscheiden muss, herrscht Einstimmigkeit, das macht es schwierig, einen Beschluss über finanzielle Sanktionen herbeizuführen.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 47/2024 erschienen.
Margit Schratzenstaller
ist Österreichs führende Budgetexpertin. Die gebürtige Landshuterin war von 2006 bis 2008 und von 2015 bis 2019 stellvertretende Leiterin des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (Wifo). Sie ist Mitglied im österreichischen Fiskalrat und arbeitet unter anderem zu Fragen der (europäischen) Steuer- und Budgetpolitik, Steuerwettbewerb und Steuerharmonisierung sowie Ökologisierung der öffentlichen Finanzen.